Mittwoch, 20. April 2022

Aus der Praxis: Wenn der Verstand begreift, begreift das Herz noch lange nicht.

 

                                                             Zeichnung: A. Wende

„Ich weiß es doch. Ich weiß doch, dass mir das alles nicht gut tut. Ich sehe doch wie schlecht ich mich fühle und jeden Tag schlechter. Ich weiß, dass ich diese Beziehung verlassen muss. Aber ich kann es nicht.“
Mein Klient ist verzweifelt. Er lebt in einer Beziehung, die ihn zermürbt. Sitzung für Sitzung, höre ich seine Klage. Ich sehe wie er immer schmaler wird, die Schatten unter den traurigen Augen immer dunkler. Er hat keine Lebensfreude mehr. Er hält fest, was er nicht festhalten will, aber er kann nicht loslassen. Sein ganzes Leben dreht sich nur noch um seine unheilsame Beziehung, alles andere ist in den Hintergrund getreten. Im Alltag funktioniert er wie ein Roboter. Er weiß, wenn er so weiter macht, wird er krank. Seit Monaten zeigen sich körperliche Symptome. Er hat Schlafstörungen, Panikattacken und Magenschmerzen. 
 
So wie meinem Klienten geht es vielen Menschen, wenn auch in unterschiedlichen Situationen. Der Verstand weiß, was zu tun ist, aber das Gefühl kommt nicht nach.
Woran liegt das?
Wenn wir rational über etwas nachdenken nutzen wir dafür den präfrontalen Cortex. Dieser ist eng mit dem limbischen System, dem Sitz der Gefühle, auch das Herzdenken genannt, verknüpft. Während der präfrontale Cortex Emotionen regulieren und unter Kontrolle halten kann, kann es das limbische System nicht. Sie sind quasi Gegenspieler.
Die Vorstellung, dass wir Menschen Vernunftwesen sind, hat sich längst überholt. Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass kein Mensch rein rational handelt. Viele Entscheidungen, die wir treffen, lassen sich nicht vernünftig erklären und schon gar nicht verstehen, nicht einmal von demjenigen, der die Entscheidung trifft. Wenn man ihn fragt, warum er so entschieden hat, wird nachrationalisiert. Mit anderen Worten: Wir denken uns etwas hin, weil wir keinen Zugang zu unseren unbewussten Motiven haben. 
 
Auch wenn der Verstand begreift, begreift das Herz noch lange nicht.
Das Herz ist eng verknüpft mit unserem Bauch, was wir Bauchgefühl nennen. Und dieses wiederum wird gesteuert vom Limbischen System. Das Herz hat seine eigenen Gründe und Motive, die eben nicht rational sind. Gründe, die auf Ängsten beruhen oder aus Erfahrungen erwachsen, die wir früher einmal gemacht haben.
Schauen wir auf das Problem meines Klienten. Sein Handeln wird dadurch beeinflusst, dass er schon einmal in seinem Leben eine Beziehung verlassen hat und lange Zeit danach unglücklich war. Dazu kommt, dass er seit seiner Kindheit unter starken Verlassensängsten leidet.
Mein Klient hat also die Erfahrung gemacht, dass er schlecht beraten war, als er eine Beziehung verlassen hat, weil er danach unglücklicher war als in der Beziehung. Er ist ein Risiko eingegangen, das er als schmerzhaft erlebt hat und im Nachhinein als Fehlentscheidung bewertet. Zudem hat er erfahren, dass Verlassenheitsgefühle als Kind als existenzbedrohlich erlebt wurden. Das beeinflusst im Jetzt seine Emotionen und damit sein Handeln. Das Herz will sich vor neuem Leid schützen, was aber paradoxerweise zu noch mehr Leid führt. 
 
Jede Lebenserfahrung hat Einfluss auf unsere Gefühle und dagegen ist der Verstand oft machtlos.
Wir wägen zwar rational ab, aber wir entscheiden in existentiellen Fragen viel mehr nach dem Herzen und dem Bauch.  
Besonders dann, wenn, wie im konkreten Fall meines Klienten, die Aussicht etwas zu gewinnen, nämlich nicht mehr zu leiden, mit der Angst, etwas zu verlieren, nämlich Beziehung (verlassen zu sein), im Widerstreit stehen.
 
Heißt das jetzt, wir haben auf unsere Entscheidungen rational keinen allzu großen Einfluss?
Ganz so ist es nicht, denn es kann gelingen, mit dem Verstand gegenzusteuern. Dazu braucht es die Bereitschaft es zu wollen. Damit haben wir aber immer noch keine rationale Entscheidung getroffen, sondern wir haben lediglich entschieden rational abzuwägen, was heilsam ist und was nicht.
Was heißt das für meinen Klienten?
Das Bewusstsein und die Aussicht darauf, dass es ihm mit der Zeit besser geht, wenn er es schafft sich aus dem unheilsamen Beziehungskonstrukt zu lösen, muss stärker werden, deutlich stärker, als die „Belohnung“ in einer Beziehung zu sein. Auch die Vermeidung der Trennung aus Verlassenheitsangst muss in diesen Prozess einbezogen werden, was bedeutet, die alte Angst anzuschauen und sie zu verarbeiten. Mein Klient darf lernen, dass er kein Kind mehr ist, dass Trennen und Verlassen als Erwachsener bewältigt werden kann. Und er darf lernen, dass Gefühle wie Angst und Schmerz aushaltbar sind und nicht existentielle Vernichtung bedeuten.
Keine leichte Arbeit, aber notwendig um das Herz zu heilen. 
 
 
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