Samstag, 4. Juni 2016

Bewegung und Geduld


 
Malerei: A.Wende



Nicht warten können.
Alles beschleunigen wollen.
Nichts lässt sich erwarten.
Nichts lässt sich beschleunigen.

Bewegung ist Veränderung, die geschieht.
Aristoteles definiert Bewegung als Veränderung, denn jede Bewegung verändert einen Ist- Zustand, somit ist Bewegung als Verwirklichung von etwas potenziell Seiendem zu verstehen. Entscheidend für Aristoteles’ Wirklichkeitsverständnis ist dabei, dass alle Bewegung und Veränderung im Kosmos als ein zielgerichteter Vorgang anzusehen ist, dass, mit anderen Worten die gesamte Wirklichkeit „teleologisch“, also zielgerichtet verfasst ist. 

So wie der wachsende Baum nach seiner vollendeten Gestalt strebt, so strebt jede aus Materie und Form zusammengesetzte Substanz nach der Verwirklichung ihrer Form. Auch alle Ortsbewegung ist das Streben nach einem Ziel: Die schweren Körper streben nach unten, weil dort ihr angestammter Platz ist; die leichten Körper aus demselben Grund nach oben. Die Existenz Gottes leitet Aristoteles aus der Notwendigkeit her, für die ununterbrochene Bewegung im Kosmos einen ersten unbewegten Beweger zu finden. Allerdings sei Gott als erster unbewegter Beweger nicht die Ursache, die alles bewirkt oder hervorgebracht hat, sondern das Ziel, auf das sich alles zu bewegt.

In einem Kosmos, der nach Aristoteles ewig ist, gibt es deshalb Bewegung, weil Gott alles zu sich zieht. Der Kosmos ist auf Gott bezogen, nicht aber Gott auf den Kosmos.

Seit den naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Moderne wird Bewegung nicht mehr als grundlegendes Prinzip einer göttlichen Ordnung verstanden, sondern als Tatsache: als beobachtbarer, messbarer, schriftlich und bildlich fixierbarer Sachverhalt. Bewegung und mithin Veränderung sind in der modernen Welt nur mehr Kategorien der Mach- und der Gestaltbarkeit.

Den Begriffen Bewegung und Veränderung ist mit Logik kaum beizukommen. Denn sie definitorisch festnageln hieße, ihrem Sinn zuwiderhandeln.  
Fakt ist jedoch: Bewegung ist ein Medium, mit dem und über das der Mensch, seit Anbeginn der Evolution, die Welt erfasst. Bewegung wird vor allem in Bildern „sichtbar“. Wer sich mit Bewegung befasst und damit nach Veränderung fragt, muss sich mit den über die Eingangsrezeptoren der Netzhaut des Auges aufgenommen Bilder auseinandersetzen, die im visuellen Reiz enthaltene Information zerlegen, abstrahieren und in geordneter Form an die nächste Verarbeitungsstufe weiterleiten. 

Zum Beobachten bedarf es Geduld. 
Nur in der Haltung der Geduld, des sich Zeitnehmens, ja auch des Zuwartens und Abwartens, werden die Bilder, werden die Dinge, wird der Raum, werden Körper und Formen entdeckt. Zunächst in ihrer äußeren Erscheinung, dann erst in ihren inneren Befindlichkeiten und Affekten, in ihrer Beziehung zueinander „begriffen“. Geduld bedeutet nicht Stillstand, schon gar nicht Nichtbewegung, sie bedeutet ein tiefes sich Einlassen, langsame Aufmerksamkeit, frei von Begrenzungen der vergehenden Zeit und zugleich liegt eine große Form der inneren kognitiven Bewegung in dieser geduldigen Aufmerksamkeit.

Geduld ist eine Tugend. Geduld ist Langmut, Geduld ist die Fähigkeit warten zu können. 
In unserer hektischen, getriebenen, nach Selbstoptimeirung gierenden, sich selbst überholenden Zeit wahrlich, eine Tugend. Dinge mit Geduld und Langmut erkunden und begreifen, nur so wird wirklich begriffen - Welt und Ich. Mich begreifen - in der Selbstbespiegelung und im Spiegel der Anderen, geduldig. Geduld und in ihr „Erkundungsbewegungen" mit dem Ziel Gedanken, Einfälle und Gefühle in wahrnehmbare Formen zu bringen, um zu begreifen und dann zu wachsen. Die stillschweigende Voraussetzung alltäglichen Wissens über die Bewegung, die besagt, dass der Körper macht, was der Kopf ihm sagt, ist jedoch eine grobe Vereinfachung. Die körperlichen Dimensionen des Handelns erfolgen nicht reflexiv, sondern intuitiv über ein verleiblichtes Wissen. Erkundungsbewegungen sind Suchen und jede Suche entspringt der Sehnsucht. Suche ist ein beständig in Bewegung befindliches, fliehendes Denken, das zwar Ziele, aber keine Ankunft kennt - sie ist ein Prozess.

Die Suche geht weiter ...


„Der Nährboden der Seele ist das natürliche Leben. Wer dieses nicht begleitet, bleibt in der Luft hängen und erstarrt. Darum verholzen so viele Menschen im reifen Alter, sie schauen zurück und klammern sich an die Vergangenheit mit geheimer Todesfurcht im Herzen. Sie entziehen sich dem Lebensprozess wenigstens psychologisch und bleiben darum als Erinnerungssalzsäule stehen, die sich zwar noch lebhaft an ihre Jugendzeit zurückerinnern, aber kein lebendiges Verhältnis zur Gegenwart finden können.“

Carl Gustaf Jung





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