Samstag, 25. April 2015

Reden zur Kunst: Der Kölner Maler und Konzeptkünster R.J. Kirsch

 

Kunst und Statistik haben auf den ersten Blick eigentlich nichts miteinander zu tun. Und ehrlich gesagt, ich mag auch keine Zahlen. In Bezug auf die Arbeiten des Kölner Malers und Konzeptkünstlers Rolf Kirschs aus dem Zyklus „Rhythmus der Statistik“ habe ich entschieden: hier machen Zahlen Sinn. Erst mal.

2014 war ein schwarzes Jahr für die Luftfahrt. In diesem Jahr sind fast tausend Menschen bei Flugzeugabstürzen ums Leben gekommen - vier Mal mehr als im Vorjahr. Weltweit meldeten Versicherungen zwischen 2002 und Ende 2013 den Verlust von 1673 Schiffen. In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 kenterte ein überladenes Flüchtlingsboot auf dem Weg von Libyen nach Italien. Vermutlich ertranken 700 Menschen. Das gefährlichste Verkehrsmittel ist das Auto. Die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland ist im Jahr 2014 im Vergleich zum Vorjahr um 0,9 Prozent auf 3368 gestiegen.  Die Gefahr bei einem Busunglück ums Leben zu kommen ist schon deutlich geringer, es sind zwischen 6 und 19 Tote jährlich. Die Schiene ist relativ sicher. Es gab in diesem Zeitraum zwischen einem und 7 Tote pro Jahr.

 


Was geschieht, wenn weltweit die "Unfallkurve" in erschreckender Weise ansteigt, wenn die sichersten Verkehrsmittel der Moderne an Vertrauenswürdigkeit einbüßen, wenn das Trugbild der uns versicherten Sicherheit moderner Fortbewegungsmittel zudem auch noch dahingehend psychologisch verzerrt wird, das man von jedem größeren Unfall auf der Welt in den Medien in aller Intensität und Schrecklichkeit informiert wird? Dem Unfall wird ein Museum errichtet, in dem die Katastrophen konserviert und ausgestellt werden. Das hat natürlich eine psychologische Wirkung: Die ständige Wiederkehr dieser schrecklichen Ereignisse und ihrer Bilder gehört zu unserer Lebenswirklichkeit. Sie füttern einerseits die Angst der Menschen, andererseits machen sie emotional taub gegenüber dem Leid anderer. Mittels der Distanz des Bildschirms wird das Leid als ein Fremdes abgespalten. Die Möglichkeit der Katastrophe, die den Zuschauer selbst jeden Moment in der Zeit treffen kann, wird psychisch abgewehrt, um das Grauen mental zu bewältigen, bzw. es zu kompensieren, so dass die seelische Verfassung des Einzelnen weitgehend konfliktfrei bleibt und vor dem bedrohlichen Einfluss des Schrecklichen geschützt ist. Anders ausgedrückt: Wir werden überflutet mit Bildern von Unfällen, doch, wie die Bilder dieser Ausstellung, bleiben diese abstrakt, solange das Unglück uns selbst nicht trifft. Jedoch, die spektakulären Unglücksketten, wir sie seit dem vergangenen Jahr weltweit erfahren, lassen immer lautere Zweifel an der Sicherheit unserer hochtechnisierten Fortbewegungsmittel aufkommen. Die Angst selbst Opfer zu werden wirft bei immer mehr Menschen die Frage auf: "Sind die sicheren Zeiten vorbei?"

Diese und viele andere Fragen zum Phänomen „Unglück“ im Kontext mit technischen Beförderungsmitteln, stellen sich auch beim Betrachten der Arbeiten R.J. Kirschs. 


Unter dem Titel „Moto Park“ sehen wir neben Blaupausen, parodierten, neu montierten und collagierten Bedienungsanleitungen von technischen Geräten in skurriler Formsprache, Bilder von zerbeulten Autowracks, untergegangenen Schiffen, umgekippten Zügen, von Fahrzeugen und den Zeichen ihrer Deformation nach dem Unglück. Kirsch macht die Wucht der Zerstörung zum Sujet der Malerei, er seziert und inszeniert das Phänomen des Unfalls. Und hierbei sind es nicht nur die tatsächlich physischen Bewegungen sondern auch die Kinetik des Virtuellen, die den Maler interessiert. Dabei entstehen malerische und filmische Arbeiten, die sich gegenseitig durchdringen. Das Prinzip der Störung, die Verformung des Blechs durch die kinetische Energie, sprich - die Änderung der Bewegungsgrößen wie Geschwindigkeit und Beschleunigung unter der Einwirkung von Kräften im Raum, die Dynamik, die sich mit der Wirkung von Kräften befasst – das, so Kirsch, fasziniert ihn und daraus resultierend, im Akt des Malens, die Konzentration auf die Frage: Wie kann ich malerisch einen riesigen Schrotthaufen bewältigen, wie kann ich die Verformung des Gegenstandes mit malerischen Mitteln verfolgen im Sinne einer adäquaten Umsetzung, die dem Thema Unfall angemessen ist ? Und so sortiert er die Trümmer und räumt sie auf der Leinwand auf. Um was zu erreichen? Das Herstellen einer neuen Ordnung auf dem Grund der Zerstörung? Was entsteht, sichtbar für den Betrachter? Eine Ästhetik des Grauens, die weckt, was der Mensch fürchtet: Das Unglück.

An einem Tag ist das Leben die Ansammlung der Dinge, die wir tun und plötzlich kommt das Unerwartbare - ein Unfall, ein Unglück. Das Unglück, das ist der Moment der das Leben in zwei Teile bricht, der Moment in dem alles, was es vorher gegeben hat, zur Erinnerung an eine blasse Vergangenheit ohne Konturen wird. Das ist der Moment, indem es dich herausschleudert aus dem Raum, den du bewohnt hast. Ein Schlag stoppt dich und beendet was war. Der Augenblick löst sich, im Verlust dessen, was wachsen sollte, auf. Das ist sie, die Katastrophe, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel über dich kommt und dich trifft mit der Wucht der Zerstörung. Ich habe es so erlebt.

In jedem Leben ist immer auch die Möglichkeit des Unglücks, im Leben jedes Einzelnen von uns. Menschen, die ein Unglück trifft, gibt es jeden Tag, jede Minute, in diesem Moment. Das Unglück ist immer und überall auf der Welt. Es gibt viel Unglück. Das Unglück schafft Schmerz, es macht fassungslos, es lähmt, es macht wütend und immer hat es die Frage nach dem Warum zur Folge. 

Das Unglück hat am 19. April wieder viele Menschen getroffen. Es hat uns alle getroffen, uns, die ganze Welt und die ganze Welt ist fassungslos über das schreckliche Unglück, weil es so überraschend kam, so unvorstellbar grausam ist, so unvorstellbar unmenschlich und so unvorstellbar groß. Das Unglück ist geschehen und die Welt hält für einen kurzen Moment den Atem an. Die Bilder des Unglücks gehen um die ganze Welt und die Welt sieht sich die Bilder an, gibt ihnen Raum im Alltag, ist schockiert und voller Wut auf die, die das Unglück vermeintlich erschaffen haben. Die Welt sucht Zeichen und Spuren, will Schuldige und Verantwortliche, will wissen, wann es denn angefangen hat und fragt sich, warum es denn nicht gesehen wurde, beizeiten, das kommende Unglück - und Antworten finden sich keine. 


Was an Materie bleibt, nachdem die Toten unter der Erde liegen, die Verletzten in Krankenhäusern versorgt werden und die Seelen der Überlebenden und Angehörigen traumatisiert sind, sind Mahnmale des Unglücks, stumme Zeugen einer Havarie zu Schaden gekommener und in Mitleidenschaft gezogener Fahrzeuge – das, was wir in Rolf Kirschs Bildern sehen. Die in den Fahrzeugen beförderten Menschen, die Schaden erlitten oder gar den Tod fanden, sehen wir in diesen Bildern nicht. Das Verhältnis des Malers zum Unfall ist ungefähr so wie das Verhältnis des Rechtsmediziners zum Mordopfer: So wie den Forensiker die Todesursache und nicht der Mensch interessiert, so interessiert Kirsch sich für den Schaden an sich. Die Vorlage des Malers: die tagtägliche Wirklichkeit des Verunfallens, die in den Bildern der Medien festgehalten wird, die er dann von der Fotografie stilistisch in die Malerei überträgt.

Was in diesen Bildräumen aufeinandertrifft sind künstlerische Mittel und die Fragwürdigkeit moderner Technik. Dem Künstler geht es in seinen Ölskizzen um die malerische Erfassung kinetischer Verformung, er studiert die Wucht ihrer Deformation. Dabei erfahren wir nichts über die Ursachen der Zerstörung, nichts über den Hergang des Unglücks, nichts über die Folgen für das Individuum. Was der Betrachter sieht sind malerisch in Szene gesetzte Bilder technischer Destruktion: Zerbeulter Stahl und Blechschrott, kaputte Fragmente hochentwickelter technologischer Objekte. Stills gleich, festgehalten in Raum und Zeit ihrer Deformation – eine künstlerische Inszenierung des scheinbar stabilen beschleunigten Gegenstandes und seiner ihm immanenten Brüchigkeit. Nahezu kathartisch mutet diese Aneinanderreihung des Zerstörten an. Die stummen Zeugen der Destruktion zeichnen aber weitaus mehr: Was wir sehen ist ein Abbild der Fragilität unserer hochtechnisierten Fortbewegungsmittel, das durch die Übersetzung kinetischer Verformungen in einen malerischen Duktus die außer Kontrolle geratene Bewegungsenergie des zunehmenden Beschleunigungswahns der Moderne sichtbar und spürbar macht. Die Philosophin Hannah Arendt sagte einmal: „Der Fortschritt und die Katastrophe sind zwei Seiten der selben Medaille. Man kann die Substanz nicht vom Unfall trennen. Je mächtiger die Substanz ist, das technische Objekt, je mächtiger die Energie, desto mächtiger ist die Katastrophe. Das Gute des Fortschritts und das Verhängnisvolle des Unfalls hängen eng zusammen, sie bedingen einander.


Aber was will Kirsch uns sagen? Nun, ich denke nicht, dass hier ein Künstler einen chiliastischen Katastrophismus propagieren will. Ihm geht es nicht um eine Hervorhebung des Tragischen des Unfalls zum Zweck der Verängstigung, wie das die Massenmedien tun, sondern darum, den Unfall ernst zu nehmen, sprich: das Eigentliche, das in ihm verborgen liegt, anzurühren. Angesichts dieser Bilder, begreifen wir, dass die Beschleunigung an sich eine Erklärungspotenz des Phänomen Unfalls besitzt. Der französische Fortschrittsskeptiker Paul Virilio stellt das Phänomen des Unfalls in der Moderne in den Mittelpunkt eines Essays und stellt die Frage: Was ist ein Unfall?
Von der biblischen Erbsünde und dem Urknall über Naturkatastrophen und Industrieunfällen bis zum aktuellen Phänomenen der Beschleunigung in der Gesellschaft ruft Virilio polemisch zu einer neuen Sichtweise auf: Anstatt uns, wie bisher, als dem Unfall ausgesetzt zu begreifen, sollten wir den Spieß umdrehen und den Unfall unserem analytischen Blick aussetzen. Unfälle sind die notwendigen Konsequenzen unserer beschleunigten Lebensweise. Das Wesen des Unfalls, diese These übernimmt Virilio von Paul Valéry, ist jedoch nicht etwa seine Unerwartetheit, sondern – im Gegenteil – seine Notwendigkeit. Der “Unfall der Erkenntnis”, wie Virilio ihn nennt, basiert auf einer dialektischen Wendung des “Normalfalls”. Im Unfall wird das Ding erst erfahrbar, die Wahrscheinlichkeit des Unfalls wird zur Gewissheit, proportional zu dem Maße, wie die moderne Kultur Dinge hervorbringt. Der Flugzeugunfall ist erst möglich durch die Erfindung des Flugzeuges. Im Fliegen ist der Unfall bereits als Möglichkeit angelegt, wie im Auto, im Schiff und in jedem anderen “Fall”. Die Akzidens, in der Nähe des Aristotelischen Begriffs  “accident” lat: das nicht Wesentliche, ist es, welches die Substanz erst zum Erscheinen bringt. Die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft, die auch eine Zerbrechlichkeit des sich selbst überholenden Fortschritts der Beschleunigung ist, ist so groß, dass der Unfall eine Erscheinung genau dieses Fortschritts ist. Die Produktion des immer schneller, immer mehr, trägt den Unfall in sich. Die Frage, die sich dann stellt, und genau diese Frage stellt sich den Menschen angesichts der letzten Katastrophen ist: Wie können wir uns vor der neuen Form der Bedrohung schützen?
Gar nicht, denn: Der Fortschritt und das Verhängnisvolle des Unfalls bedingen einander. So sehr der Mensch auch versucht, Maschinen zu konstruieren, die perfekt funktionieren, es gibt das Perfekte nicht, es gibt sie nicht, die perfekte Maschine. Wie auch? Der Mensch selbst ist nicht perfekt, er hat nicht alles in der Hand. Es gibt etwas, das größer ist als er. Das zu akzeptieren fällt einer Welt, die von narzisstischen Größenfantasien geradezu überwuchert ist, schwer. Was also, wenn der Unfall, der ein bestimmter Punkt auf dem Weg durch Zeit und Raum ist, sich nicht verhindern lässt, sondern einfach ist? Was wenn die abrupte Beendigung, der Stillstand, an dem Kirsch ein solches Interesse hat, einfach unvermeidbar ist – so wie der abrupte Stillstand unser aller Leben unvermeidbar ist? Dann ist die Phänomenologie des Verkehrsunfalls mit ihrem von außen gesetzten Schlusspunkt, der Phänomenologie des Todes gleichzusetzen - dem Nullpunkt des Lebens.


 http://www.r-j-kirsch.de

© Angelika Wende R.J. Kirsch, Kunstverein Eisenturm 24. April 2015


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