Kunst und Statistik haben auf den ersten Blick eigentlich nichts miteinander zu tun. Und ehrlich gesagt, ich mag auch keine Zahlen. In Bezug auf die Arbeiten des Kölner Malers und Konzeptkünstlers Rolf Kirschs aus dem Zyklus „Rhythmus der Statistik“ habe ich entschieden: hier machen Zahlen Sinn. Erst mal.
2014 war ein schwarzes Jahr für die Luftfahrt. In diesem Jahr sind fast tausend Menschen bei Flugzeugabstürzen ums Leben gekommen - vier Mal mehr als im Vorjahr. Weltweit meldeten Versicherungen zwischen 2002 und Ende 2013 den Verlust von 1673 Schiffen. In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 kenterte ein überladenes Flüchtlingsboot auf dem Weg von Libyen nach Italien. Vermutlich ertranken 700 Menschen. Das gefährlichste Verkehrsmittel ist das Auto. Die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland ist im Jahr 2014 im Vergleich zum Vorjahr um 0,9 Prozent auf 3368 gestiegen. Die Gefahr bei einem Busunglück ums Leben zu kommen ist schon deutlich geringer, es sind zwischen 6 und 19 Tote jährlich. Die Schiene ist relativ sicher. Es gab in diesem Zeitraum zwischen einem und 7 Tote pro Jahr.
Was geschieht, wenn weltweit die "Unfallkurve" in erschreckender Weise ansteigt, wenn die sichersten Verkehrsmittel der Moderne an Vertrauenswürdigkeit einbüßen, wenn das Trugbild der uns versicherten Sicherheit moderner Fortbewegungsmittel zudem auch noch dahingehend psychologisch verzerrt wird, das man von jedem größeren Unfall auf der Welt in den Medien in aller Intensität und Schrecklichkeit informiert wird? Dem Unfall wird ein Museum errichtet, in dem die Katastrophen konserviert und ausgestellt werden. Das hat natürlich eine psychologische Wirkung: Die ständige Wiederkehr dieser schrecklichen Ereignisse und ihrer Bilder gehört zu unserer Lebenswirklichkeit. Sie füttern einerseits die Angst der Menschen, andererseits machen sie emotional taub gegenüber dem Leid anderer. Mittels der Distanz des Bildschirms wird das Leid als ein Fremdes abgespalten. Die Möglichkeit der Katastrophe, die den Zuschauer selbst jeden Moment in der Zeit treffen kann, wird psychisch abgewehrt, um das Grauen mental zu bewältigen, bzw. es zu kompensieren, so dass die seelische Verfassung des Einzelnen weitgehend konfliktfrei bleibt und vor dem bedrohlichen Einfluss des Schrecklichen geschützt ist. Anders ausgedrückt: Wir werden überflutet mit Bildern von Unfällen, doch, wie die Bilder dieser Ausstellung, bleiben diese abstrakt, solange das Unglück uns selbst nicht trifft. Jedoch, die spektakulären Unglücksketten, wir sie seit dem vergangenen Jahr weltweit erfahren, lassen immer lautere Zweifel an der Sicherheit unserer hochtechnisierten Fortbewegungsmittel aufkommen. Die Angst selbst Opfer zu werden wirft bei immer mehr Menschen die Frage auf: "Sind die sicheren Zeiten vorbei?"
Diese und viele
andere Fragen zum Phänomen „Unglück“ im Kontext mit technischen
Beförderungsmitteln, stellen sich auch beim Betrachten der Arbeiten R.J. Kirschs.
Unter dem Titel „Moto Park“ sehen wir neben Blaupausen, parodierten, neu montierten und collagierten Bedienungsanleitungen
von technischen Geräten in skurriler Formsprache, Bilder von
zerbeulten Autowracks, untergegangenen Schiffen, umgekippten Zügen, von
Fahrzeugen und den Zeichen ihrer Deformation nach dem Unglück. Kirsch macht die
Wucht der Zerstörung zum Sujet der Malerei, er seziert und inszeniert das Phänomen des Unfalls. Und hierbei sind es nicht
nur die tatsächlich physischen Bewegungen sondern auch die Kinetik des
Virtuellen, die den Maler interessiert. Dabei entstehen malerische und filmische
Arbeiten, die sich gegenseitig durchdringen. Das Prinzip der Störung, die
Verformung des Blechs durch die kinetische Energie, sprich - die Änderung der
Bewegungsgrößen wie Geschwindigkeit und Beschleunigung unter der Einwirkung von
Kräften im Raum, die Dynamik, die sich mit der Wirkung von Kräften befasst –
das, so Kirsch, fasziniert ihn und daraus resultierend, im Akt des Malens, die
Konzentration auf die Frage: Wie kann ich malerisch einen riesigen
Schrotthaufen bewältigen, wie kann ich die Verformung des Gegenstandes mit
malerischen Mitteln verfolgen im Sinne einer adäquaten Umsetzung, die dem Thema
Unfall angemessen ist ? Und so sortiert er
die Trümmer und räumt sie auf der Leinwand auf. Um was zu erreichen? Das
Herstellen einer neuen Ordnung auf dem Grund der Zerstörung? Was entsteht,
sichtbar für den Betrachter? Eine Ästhetik des Grauens, die weckt, was der
Mensch fürchtet: Das Unglück.
An einem Tag ist das Leben die Ansammlung der Dinge, die
wir tun und plötzlich kommt das Unerwartbare - ein Unfall, ein Unglück. Das
Unglück, das ist der Moment der das Leben in zwei Teile bricht, der Moment in
dem alles, was es vorher gegeben hat, zur Erinnerung an eine blasse
Vergangenheit ohne Konturen wird. Das ist der Moment, indem es dich herausschleudert
aus dem Raum, den du bewohnt hast. Ein Schlag stoppt dich und beendet was war.
Der Augenblick löst sich, im Verlust dessen, was wachsen sollte, auf. Das ist
sie, die Katastrophe, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel über dich kommt und dich trifft mit
der Wucht der Zerstörung. Ich habe es so
erlebt.
In jedem Leben ist
immer auch die Möglichkeit des Unglücks, im Leben jedes Einzelnen von uns.
Menschen, die ein Unglück trifft, gibt es jeden Tag, jede Minute, in diesem
Moment. Das Unglück ist immer und überall auf der Welt. Es gibt viel Unglück.
Das Unglück schafft Schmerz, es macht fassungslos, es lähmt, es macht wütend
und immer hat es die Frage nach dem Warum zur Folge.
Das Unglück hat am
19. April wieder viele
Menschen getroffen. Es hat uns alle getroffen, uns, die ganze Welt und die
ganze Welt ist fassungslos über das schreckliche Unglück, weil es so
überraschend kam, so unvorstellbar grausam ist, so unvorstellbar unmenschlich
und so unvorstellbar groß. Das Unglück ist geschehen und die Welt hält für
einen kurzen Moment den Atem an. Die Bilder des Unglücks gehen um die ganze
Welt und die Welt sieht sich die Bilder an, gibt ihnen Raum im Alltag, ist
schockiert und voller Wut auf die, die das Unglück vermeintlich erschaffen
haben. Die Welt sucht Zeichen und Spuren, will Schuldige und Verantwortliche,
will wissen, wann es denn angefangen hat und fragt sich, warum es denn nicht
gesehen wurde, beizeiten, das kommende Unglück - und Antworten finden sich
keine.
Was an Materie bleibt,
nachdem die Toten unter der Erde liegen, die Verletzten in Krankenhäusern versorgt
werden und die Seelen der Überlebenden und Angehörigen traumatisiert sind, sind
Mahnmale des Unglücks, stumme Zeugen einer Havarie zu Schaden gekommener und in
Mitleidenschaft gezogener Fahrzeuge – das, was wir in Rolf Kirschs Bildern
sehen. Die in den Fahrzeugen beförderten Menschen, die Schaden erlitten oder
gar den Tod fanden, sehen wir in diesen Bildern nicht. Das Verhältnis des Malers zum Unfall ist ungefähr so
wie das Verhältnis des Rechtsmediziners zum Mordopfer: So wie den Forensiker
die Todesursache und nicht der Mensch interessiert, so interessiert Kirsch sich
für den Schaden an sich. Die Vorlage des Malers: die tagtägliche Wirklichkeit des
Verunfallens, die in den Bildern der Medien festgehalten wird, die er dann von der Fotografie stilistisch in die Malerei
überträgt.
Was in diesen Bildräumen aufeinandertrifft sind
künstlerische Mittel und die Fragwürdigkeit moderner Technik. Dem Künstler geht
es in seinen Ölskizzen um die malerische Erfassung kinetischer Verformung, er
studiert die Wucht ihrer Deformation. Dabei erfahren wir nichts über die Ursachen
der Zerstörung, nichts über den Hergang des Unglücks, nichts über die Folgen
für das Individuum. Was der Betrachter sieht sind malerisch in Szene gesetzte
Bilder technischer Destruktion: Zerbeulter Stahl und Blechschrott, kaputte
Fragmente hochentwickelter technologischer Objekte. Stills gleich, festgehalten
in Raum und Zeit ihrer Deformation – eine künstlerische Inszenierung des
scheinbar stabilen beschleunigten Gegenstandes und seiner ihm immanenten
Brüchigkeit. Nahezu kathartisch mutet diese Aneinanderreihung des Zerstörten
an. Die stummen Zeugen der Destruktion zeichnen aber weitaus mehr: Was wir
sehen ist ein Abbild der Fragilität unserer hochtechnisierten
Fortbewegungsmittel, das durch die Übersetzung kinetischer Verformungen in
einen malerischen Duktus die außer Kontrolle geratene Bewegungsenergie des
zunehmenden Beschleunigungswahns der Moderne sichtbar und spürbar macht. Die Philosophin Hannah
Arendt sagte einmal: „Der Fortschritt und die Katastrophe sind zwei Seiten der
selben Medaille. Man kann die Substanz nicht vom Unfall trennen. Je mächtiger
die Substanz ist, das technische Objekt, je mächtiger die Energie, desto
mächtiger ist die Katastrophe. Das Gute des Fortschritts und das
Verhängnisvolle des Unfalls hängen eng zusammen, sie bedingen einander.
Aber was will Kirsch uns sagen? Nun, ich denke nicht,
dass hier ein Künstler einen chiliastischen Katastrophismus propagieren will. Ihm
geht es nicht um eine Hervorhebung des Tragischen des Unfalls zum Zweck der
Verängstigung, wie das die Massenmedien tun, sondern darum, den Unfall ernst zu
nehmen, sprich: das Eigentliche, das in ihm verborgen liegt, anzurühren. Angesichts
dieser Bilder, begreifen wir, dass die Beschleunigung an sich eine
Erklärungspotenz des Phänomen Unfalls besitzt. Der französische Fortschrittsskeptiker Paul Virilio stellt das Phänomen
des Unfalls in der Moderne in den Mittelpunkt eines Essays und stellt die
Frage: Was ist ein Unfall?
Von der biblischen Erbsünde und dem Urknall über Naturkatastrophen und
Industrieunfällen bis zum aktuellen Phänomenen der Beschleunigung in der
Gesellschaft ruft Virilio polemisch zu einer neuen Sichtweise auf: Anstatt uns,
wie bisher, als dem Unfall ausgesetzt zu begreifen, sollten wir den Spieß
umdrehen und den Unfall unserem analytischen Blick aussetzen. Unfälle sind die notwendigen Konsequenzen unserer
beschleunigten Lebensweise. Das Wesen des Unfalls, diese These übernimmt
Virilio von Paul Valéry, ist jedoch nicht etwa seine Unerwartetheit, sondern –
im Gegenteil – seine Notwendigkeit. Der “Unfall der Erkenntnis”, wie Virilio
ihn nennt, basiert auf einer dialektischen Wendung des “Normalfalls”. Im Unfall
wird das Ding erst erfahrbar, die Wahrscheinlichkeit des Unfalls wird zur
Gewissheit, proportional zu dem Maße, wie die moderne Kultur Dinge
hervorbringt. Der Flugzeugunfall ist erst möglich durch die Erfindung des
Flugzeuges. Im Fliegen ist der Unfall bereits als Möglichkeit angelegt, wie im
Auto, im Schiff und in jedem anderen “Fall”. Die Akzidens, in der Nähe des
Aristotelischen Begriffs “accident” lat:
das nicht Wesentliche, ist es, welches die Substanz erst zum Erscheinen bringt.
Die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft, die auch eine Zerbrechlichkeit des
sich selbst überholenden Fortschritts der Beschleunigung ist, ist so groß, dass
der Unfall eine Erscheinung genau dieses Fortschritts ist. Die Produktion des
immer schneller, immer mehr, trägt den Unfall in sich. Die Frage, die sich dann
stellt, und genau diese Frage stellt sich den Menschen angesichts der letzten
Katastrophen ist: Wie können wir uns vor der neuen Form der Bedrohung schützen?
Gar nicht, denn: Der
Fortschritt und das Verhängnisvolle des Unfalls bedingen einander. So sehr der
Mensch auch versucht, Maschinen zu konstruieren, die perfekt funktionieren, es
gibt das Perfekte nicht, es gibt sie nicht, die perfekte Maschine. Wie auch? Der
Mensch selbst ist nicht perfekt, er hat nicht alles in der Hand. Es gibt etwas,
das größer ist als er. Das zu akzeptieren fällt einer Welt, die von
narzisstischen Größenfantasien geradezu überwuchert ist, schwer. Was also, wenn
der Unfall, der ein bestimmter Punkt auf dem Weg durch Zeit und Raum ist, sich
nicht verhindern lässt, sondern einfach ist?
Was wenn die abrupte Beendigung, der Stillstand, an dem
Kirsch ein solches Interesse hat, einfach unvermeidbar ist – so wie der abrupte
Stillstand unser aller Leben unvermeidbar ist? Dann ist die Phänomenologie des
Verkehrsunfalls mit ihrem von außen gesetzten Schlusspunkt, der Phänomenologie
des Todes gleichzusetzen - dem Nullpunkt des Lebens.http://www.r-j-kirsch.de
© Angelika Wende R.J. Kirsch, Kunstverein Eisenturm 24. April 2015
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