Mittwoch, 24. September 2014

Unterdrückte Gefühle



Meine Mutter hat alles geschluckt, sie hat ihren Frust und ihren Kummer still in sich hineingefressen. Nach Außen hat sie so getan, als sei die Welt in Ordnung.

Sie sah mich an. In ihren Augen lag eine traurige Wut.

Wissen sie, sie hat immer alles schön gemacht, sich um den Haushalt gekümmert und ihren Garten gepflegt. Sie hat sich über jede Blume gefreut und über jedes Tierchen. Über mich hat sie sich nie gefreut. Sie hat so getan, als sei die Welt in Ordnung, aber ihr Gesicht sprach von etwas anderem, es sprach von Kummer und Wut. Ich hörte es, sah es. Wenn ich sie fragte, Mama, was ist mit dir?, lächelte sie krampfhaft: Nichts, was soll ich denn haben, das bildest du dir ein! Dann nahm sie den Hund hoch, drückte ihn fest an sich und sagte: Nicht wahr, mein Liebling, alles ist gut.

Dieses künstliche „alles ist gut Getue“, wie ich es hasste.  Dieses, „das bildest du dir ein“, es hat mich so ohnmächtig gemacht.

Sie weinte.

Sprechen sie weiter, sagte ich.

Ich fühlte mich in der Gegenwart meiner Mutter niemals sicher. Ich sah, dass es ihr nicht gut ging, ich sah es in ihrem Gesicht. Ihr Gesicht strafte ihre Worte Lügen, in ihrem Gesicht stand groß geschrieben: Ich leide. Ich hätte ihr so gern geholfen, wenn sie doch nur geredet hätte, ich hätte ihr so gerne zugehört, sie in den Arm genommen und sie froh gemacht. Sie stieß mich weg. Ich fühlte mich wie ein räudiger Hund, während sie den richtigen Hund umarmte und zu ihrem Tröster machte. Ich war einsam, so abgetrennt von der eigenen Mutter.  

Sie sah mich an: Verstehen Sie das?

Ja, das verstehe ich, antwortete ich. Wenn ein Erwachsener ständig mit kummervollem oder ärgerlichen Gesicht herumläuft und sich nicht erklärt, fühlt sich das Kind schuldig, es glaubt es ist verantwortlich für diesen Kummer, es denkt es macht alles falsch, weil es ihm nicht gelingt die Mutter froh zu machen. Am Ende ist das Kind davon überzeugt, dass es selbst falsch ist.

Ja, so habe ich mich gefühlt. Ich dachte, ich bin schuld am Unglück meiner Mutter. Wäre ich nicht gewesen, hätte sie meinen Vater nicht ertragen müssen. Er war böse, er schrie mich oft an: Du bist zu nichts nütze, du bist an allem schuld. Das war schlimm, aber die Leidensmine meiner Mutter war schlimmer als alles, was mir mein Vater in seiner Wut entgegenwarf. Seine Wut war laut, aber mit dieser Wut konnte ich umgehen, sie bewirkte meinen Trotz. Dieser Trotz ist mein Motor, der mich bis heute hat überleben lassen. Die stumme Wut meiner Mutter war subtiler, weil sie allgegenwärtig war. Sie verrauchte nicht wie die explosive Wut meines Vaters. Sie vergiftete unsere Familie. Es gab wenig Freude. Diese stille Wut spüre ich in so vielen Menschen.

Ihr inneres Kind spürt sie, weil es sie so gut kennt, und deshalb haben sie eine Resonanz  zur unterdrückten Wut anderer, weil sie diese Wut in sich tragen. In ihr lebt die Wunde ihrer Kindheit.

Sie nickte: Ich spüre diese Wut schon sehr lange, aber sie ist gewachsen. Sie wird immer größer.

Diese Wut versetzt sie in das alte Lebensgefühl, das in ihrer Familie herrschte. Sie fühlen sich noch immer ohnmächtig, das macht sie wütend, sagte ich.

Ja, es ist diese Ohnmacht, diese Hilflosigkeit an der mein Trotz zerbricht, mein Lebenswille, meine Kraft. Ich bin müde. Ich kann es nicht lösen, meine Mutter ist jetzt alt und ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Ich vermisse sie, aber ich weiß, wenn ich zu ihr gehe wird sie mich wieder wegstoßen.

Sie können sich davon lösen, antwortete ich.

Aber wie?

Ihre Mutter wollte sich nicht von ihnen helfen lassen, sie haben alles versucht und weil es ihnen nicht gelungen ist, sind sie wütend auf sich selbst. Aber es lag damals nicht in meiner Macht und es liegt heute nicht in ihrer Macht ihre Mutter zu retten. Sie können das Leid ihrer Mutter nicht ändern, sie können die Vergangenheit nicht ändern. Sie können keinen anderen von seiner Wut befreien. Sie können die unterdrückten Gefühle anderer nicht für andere ausdrücken, auch wenn sie es stellvertretend für sie versuchen. Bleiben sie bei ihrer eigenen Wut.

Sie schüttelte den Kopf: Aber meine Wut macht meine Wut auf meine alte und neue Ohnmacht so groß, dass ich das Gefühl habe langsam zu explodieren.

Ich verstehe sie gut, antwortete ich, aber sie müssen erkennen, sie haben keine Macht über andere Menschen und schon gar nicht über deren Gefühle. Jeder Versuch läuft ins Leere, wie damals bei ihrer Mutter.

Sie weinte. Am Ende habe ich sie hassen müssen um nicht an ihrer stummen Wut und an meiner Hilflosigkeit zu zerbrechen.

Aber heute sind sie nicht mehr das hilflose Mädchen, das sie damals waren.
Sie können auch heute nicht ändern was ist, aber sie können ihre Ohnmacht genauer betrachten. Sie haben diese Familie verlassen in der so viel stummer Ärger und so viel laute Wut war. Sie können jeden Moment damit beginnen gut für sich selbst zu sorgen, indem sie einsehen, dass sie, egal wie viel sie getan und versucht haben, in der ganzen Zeit nichts bewirkt haben und sich nur immer ohnmächtiger und leerer gefühlt haben. Sie können jetzt entscheiden, sich diesem Gefühl nicht mehr aussetzen. Sie können heute wählen, sie könnten sagen: Ich will nicht mehr hilflos und ohnmächtig sein und mir selbst dabei zusehen wie ich innerlich unter einem solchen Druck meiner unterdrückten Gefühle stehe, dass ich irgendwann im- oder explodieren werde. Sie können sich von den Menschen abwenden, bei denen sie diese unterdrückte Wut spüren. Nur sie selbst können entscheiden, diese schmerzhafte Erfahrung ihrer Kindheit nicht länger in Dauerschleife zu wiederholen. Ich weiß es ist schwer, aber sie haben die Lektion erkannt, sie heißt: Du hast keine Macht über andere. Du kannst andere nicht ändern. Und sie heißt: Lass dich nicht mehr zum Opfer von Gefühlen oder Bedürfnissen machen, die nicht deine sind. Sie haben nur Macht über sich selbst und in diese Macht können sie kommen, um das zu ändern, was in ihnen zu verändern ist, damit sie wieder Freude spüren. Ich sah sie an: Sagen sie es, sagen sie: Ich bin wütend!

Ich bin verdammt wütend, sagte sie unter Tränen.

Und es ist gut, wenn sie es ausdrücken. Denn was sich nicht ausdrückt, erdrückt das Leben und blockiert den Lebensfluss.

Aber was soll ich tun? Die Wut ist nicht weg, auch wenn ich es sage.

Sie können sich Zeit nehmen und sich mit ihren Gefühlen befassen, alleine, solange bis sie ihre Wut ernst nehmen und sie da sein lassen, wenn sie da ist, solange bis sie ihre Wut in Kraft verwandelt haben, um ihren eigenen Weg zu gehen. Spüren sie ihre Wut, bis sie Trauer geworden ist, dann geht es weiter.

Sie sah mich erwartungsvoll an: Sind sie sicher?

Ich bin mir in nichts sicher, aber das ist kein Grund es nicht zu versuchen.









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