Einmal empfing der japanische Zen-Meister Nan den Besuch
eines Professors, der etwas über Zen erfahren wollte. Nan-in servierte Tee. Er goss die Tasse seines Besuchers voll und hörte nicht
auf, weiterzugießen. Der Professor beobachtete das Überlaufen, bis er sich
nicht mehr beherrschen konnte. „Es ist übervoll,
mehr geht nicht hinein“, rief er. „So wie diese Tasse“, sagte Nan-in, „sind auch Sie voll
mit ihren eigenen Meinungen und Spekulationen. Wie kann ich Ihnen Zen zeigen,
bevor Sie Ihre Tasse geleert haben?“
Warum
erzähle ich Ihnen diese Geschichte?
Weil ich Sie bitten möchte, die Tasse da oben in Ihrem
Kopf leer zu machen, um wahrzunehmen, worum es dem Amsterdamer Künstler GertJan Evelo
in seiner Arbeit im Tiefsten geht. Die Voraussetzung um die Dinge wirklich wahrzunehmen, ist
gegenwärtig zu sein, im Hier und Jetzt zu sein, als Beobachter, ohne Bewertung
des Geschehens einfach da zu sein, ohne Ziele und Absichten. Gegenwärtig sein
heißt den ständigen Strom der Gedanken zur Ruhe kommen lassen, um sich in der
Stille zu öffnen, für einen Bewusstseinsraum des Nichtdenkens und Nichtwissens, und dadurch in Kontakt zu kommen mit den Kräften der Intuition, der Inspiration
und der Kreativität, die diese Räume atmen.
Schauen ohne zu bewerten ohne die
Konstruktionen von Wirklichkeit, die wir machen, mit all den Konditionierungen
und Glaubensmustern, die uns vom ersten Atemzug an in unsere Tasse da oben
gegossen wurden – das ist Achtsamkeit. Achtsamkeit ist für die meisten von uns
nichts Selbstverständliches, wir sind so übervoll mit dem, was im Außen geschieht, so fremdbestimmt, dass wir den Kontakt zur Achtsamkeit verlieren, und damit verlieren wir den Kontakt zu uns
selbst. Nichts fällt uns schwerer als den Verstand
zur Ruhe zu bringen und uns auf das Fühlen einzulassen.
Und
genau darum möchte ich Sie jetzt, für einen Moment in der Zeit, zu einer Übung
in Achtsamkeit einladen.
Ich bitte Sie jetzt, so gut es im Stehen
geht, eine angenehme Körperhaltung einzunehmen.
Spüren Sie erst einmal, ob ihre Füße festen
Kontakt zum Boden haben.
Es geht nur darum wahrzunehmen, dass ihre
Füße Kontakt zum Boden haben und wo sie Kontakt haben.
Und als Nächstes bitte ich Sie wahrzunehmen,
dass Ihr Körper atmet und dass er dabei Bewegungen macht.
Registrieren Sie diese Bewegungen.
Registrieren Sie, dass Ihr Brustkorb sich
sanft hebt und senkt und wenn Sie sehr genau wahrnehmen, dann spüren Sie
auch, dass Ihre Nasenflügel ganz kleine Bewegungen machen. Und diese Bewegungen des Körpers beim Atmen
nehmen Sie einige Augenblicke lang wahr.
Beenden Sie die Übung, indem Sie wieder
bewusst wahrnehmen, dass Ihre Füße Kontakt mit dem Boden haben und nehmen Sie
Ihre Körpergrenzen achtsam wahr.
Kehren Sie dann mit der Aufmerksamkeit
bewusst in den Raum zurück und nehmen Sie diesen bewusst wahr.
Dies
ist eine sehr einfache Achtsamkeitsübung. Aber was Sie dabei vielleicht für diesen kurzen Moment
gespürt haben, ist der Seinszustand in dem GertJan Evelo lebt und aus dem er
seine Kunst schöpft. Es ist ein schöpferisches Tun, das in der Stille des Geistes
geboren wird und aus dieser Erfahrung heraus von innen nach außen wirkt, um
Kunst zu werden, um uns zu berühren, ein Anliegen, begründet und gestaltet aus
dem Bewusstseinsraum der Meditation. Diesen Bewusstseinsraum nennen wir auch die transpersonale
Ebene oder den Raum des Überbewussten. Diesem Raum entspringt unsere spirituelle Kompetenz,
was bedeutet, dass wir fähig sind, die eigene Intuition sicher wahrzunehmen und
in Handeln umzusetzen, was nichts anderes heißt als: Unser Verstand und unser Herz handeln in
Einheit. Es ist kein leichtes Unterfangen in Worte zu
fassen, was uns hier auf riesigen Leinwänden und in archetypischen Skulpturen
entgegentritt, denn es beraubt das Werk dessen, was es ausmacht: Die Sprache
des Überwussten, die über die Symbole zu uns spricht. Am Liebsten würde ich Sie einladen zu schweigen,
still und achtsam die Räume des alten Turms zu durchschreiten, diese
kraftvollen Gemälde und Objekte einfach auf sich wirken zu lassen, sie zu erspüren,
ohne bewerten zu wollen, aber dann hätte ich meinen Auftrag nicht erfüllt und
deshalb rede ich, und wir werden später gemeinsam genau das tun, was wir immer
tun: Sehen, filtern, denken, durcheinander denken und reden: Miteinander, durcheinander,
übereinander. Aber vielleicht gelingt es uns ja, wenn Sie
mögen, für diesen Abend gegenwärtig zu sein und den Tumult in unseren Köpfen in
den Griff zu bekommen und dem, was wir sehen, unsere ungeteilte Achtsamkeit zu
schenken – präsent zu sein.
„GertJan Evelo installiert seine Malerei und Skulpturen
in Form von drei Altären zu Ehren der Kunst, der Venus und des Mars. Eisen, Gold, Kupfer und der
rot blaue Stuhl Gerrit Rietvelds dienen als Quelle zur meditativen Inspiration
und Achtsamkeit – von Amsterdam über den Rhein nach Mainz. Übergroße Formen schweben. Ein mutiger Anfang der
ästhetischen Bekenntnis zur neuen Form.“ So steht es im Einladungstext zur Ausstellung. Die neue Form – was ist
das? Abstrakte Malerei, die sie hier auf riesigen Leinwänden
sehen ist nichts Neues. Abstrahierte Torsi in Gold und Kupfer gegossen oder mit
Eisenspänen legiert – nichts Neues. Was also ist hier neu? Neu oder besser anders
und beeindruckend, ist die unstrukturierte Zufälligkeit seiner Bildsprache,
die das Symbol eines in sich geschlossenen Ganzen gegenüberstellt. Vom psychologischen Gesichtspunkt aus wird hier mehr als
nur ein Gleichgewicht geschaffen zwischen der kupfernen Venus im einen Raum und
dem eisernen Mars im anderen Raum: Es entsteht ein Ganzes aus den Aspekten des bereits Ganzen. Die Altäre fungieren als Symbole der geheimen Seele der Dinge,
als Metapher unseres kollektiven und persönlichen
Erfahrungsraumes. Venus als Abbild innerseelischer weiblicher Züge und Mars als
Abbild innerseelischer männlicher Qualitäten.
Jeder von uns trägt beides in sich, die Frau den Animus
und der Mann die Anima, die Schwierigkeit aber liegt darin, dass es nur wenigen
von uns gelingt, beide Qualitäten in sich zu vereinen und zu leben. Das nennt
man Individuation, den Weg zur eigenen Ganzheit. Und dieser Weg ist
die schrittweise Bewusstwerdung,
sich selbst als etwas Eigenes und Einmaliges zu begreifen und zu verwirklichen. Das Bild für dieses Ganze ist der Meditationsstuhl, ein
Nachbau des rot blauen Stuhles von Rietveld. Der Edelstein am fließenden Gold
hängend, ein Tropfen des allwissenden Universums, der sich auf die Sitzfläche zentriert,
fungiert als Symbol für die Verbindung des menschlichen Geistes mit dem, was
wir das göttliche Prinzip nennen oder das Universale. Gelingt diese Verbindung geschieht Heilung.
Hier ist ein Künstler am Werk, der spürt, dass
Bewusstsein allein nicht ausreicht, die Frage nach dem Sinn, der aus dem
Unbewussten auftauchenden Inhalte zu beantworten und ihre Bedeutung zu erkennen. Nur im Zusammenspiel mit dem, was als transzendent
gilt, nämlich dem, was außerhalb oder jenseits des Bereiches der normalen
Sinneswahrnehmung liegt, sprich, dem Erfahrungsbereich des Transpersonalen, was wir auch das Höheren Selbst
nennen, zeigt das Sein seine intuitive schöpferische Kraft, die über das Banale
hinausgeht und so Neues und Anderes schafft. Diesen Zustand erreichen wir in der Meditation.
GertJan Evelo spürt diese Sehnsucht nach dem Ur-sinn, der
tief hinter der Welt der bloßen Erscheinungen existiert, dieses
unbeschreibliche Gefühl reinen Seins. "Diese Erfahrung", sagt er, "macht bisweilen einsam, sie ist unteilbar." Einsam, trotz der gefühlten Erfahrung des Alleinsseins,
die wir im Zustand tiefer Meditation
machen können? Nun, vielleicht gelingt es uns sterblichen Menschen niemals,
dieses Alleinssein in seiner
ganzen Tiefe dauerhaft zu spüren. Gelänge es, wäre alle Trennung Illusion, wir
besäßen das gefühlte tiefe innere Wissen, dass wir nicht allein sind, sondern
mit allem verbunden und damit ganz.
Das
Streben nach Ganzheit ist das Streben des Menschen schlechthin.
Wir möchten uns ganz fühlen, um genau diesem
Gefühl der schmerzhaften Trennung zu entkommen, das uns überfällt, wenn wir
allein sind. Diese Angst, allein gelassen zu werden, die wir zum ersten Mal
spüren, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, und die uns ein Leben lang
begleitet. Wir möchten, dass jemand da ist, der uns überleben hilft, weil wir
spüren, wie zerbrechlich wir sind.
„Wir
sind Menschen sind Halbierte“, erkannte schon Platon. Halbierte, die sich nach
Ganzheit sehnen, ohne sie mit unserem Bewusstsein, überhaupt wahrnehmen zu
können, aber mit dem Drang danach, weil unsere Seele im Tiefsten, um das Ganze
weiß. Und sie weiß auch, dass es nirgendwo anders zu finden ist als in uns
selbst. In unserer
bewussten Wahrnehmung aber leben wir in einer polaren Welt, in einer Welt der
Gegensätze. Indem wir
"ich" sagen grenzen wir uns von allem ab, was wir als "nicht
ich" empfinden. Wir sind Gefangene der Polarität.
Und genau das zeigt
uns GertJan Evelo. Er zeigt uns in diesen drei Räumen, wie sich die
Welt unserer bewussten Wahrnehmung in Gegensätze aufspaltet. Das Eine ist für
uns Menschen ohne das Andere nicht begreifbar, doch alles enthält im tiefsten
Kern den Samen seines Gegenteils. Hell und Dunkel, Gut und Böse, Liebe und
Angst. Hier Mann und Frau, Geia, Mutter Erde,
Uranos, der Himmel, Venus und Mars, Yin und Yang. Löschen wir das eine aus,
verschwindet für unser Bewusstsein das andere. In Wahrheit aber stehen die Gegensätze in
hoher Abhängigkeit zueinander. Diese Abhängigkeit zeigt, dass in den polaren
Gegensätzen eine Einheit existiert, die wir nur nicht gleichzeitig wahrnehmen
können. Unser Bewusstsein ist nicht fähig Einheit wahrzunehmen, es spaltet und
zerlegt. Wir müssen unterscheiden und bewerten um zu verstehen. Der Raum in der Mitte, in dem wir uns jetzt
befinden, ist der Raum der die beiden anderen Räume verbindet, in dem sich die Gegensätze
vereinen. Diese Bildersprache zeigt: In
der von uns Menschen wahrgenommenen Polarität liegt das Einssein von Mikro- und
Makrokosmos und der sich ergänzenden Gegensatzpaare Yang und Yin – und diese
Einheit ist reines Sein. Das Dunkel
verdrängt nicht das Licht, sie arbeiten zusammen. Was Osho die Unio Mystica, die
Vereinigung der Gegensätze nennt und Gurdjeff, einer der außerordentlichen spirituellen
Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die Kristallisation des Seins nennt, ist
nichts anderes, als zwei, die sich vereinen: Die innere Frau
mit dem inneren Mann, Anima und Animus, Logik und Unlogik, Yin und Yang. Hier kommt zusammen, was wir als Dualität
empfinden.
Die spirituelle Entwicklung des Menschen ist ein außergewöhnlicher Vorgang, der jedem, der diesen Weg geht, ermöglicht, über die Grenzen der gewöhnlichen menschlichen Natur hinauszugehen, in andere Bewusstseinszustände vorzudringen und ein Verstehens zu erlangen, das über die Bedingtheit unserer irdischen Existenz hinausgeht. Diesen Weg geht GertJanEvelo und er begann als er sechzehn Jahre alt war mit dem ersten Schritt. „Mein Bruder“, sagt er, „schenkte mir ein Buch über Meditation. Heute meditiere ich nicht mehr, ich bin Meditation.“ Ich bin ist das stärkste Mantra. Und es bedeutet achtsam zu sein sich selbt gegenüber, es bdeutet wahrhaft präsent bei allem Tun zu sein, es bedeutet Konzentration und es führt zur Einsicht in Nichtdualität. Die Energie der Achtsamkeit finden Sie in diesen Altären, meine Damen und Herren und wenn Sie präsent sind gelingt es Ihnen, tief zu schauen und wenn Ihnen das gelingt, fühlen sie sich vielleicht für einen Moment in der Zeit mit GertJan Evelo im Elfenbeinturm verbunden, dem geistigen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der lauten Welt, der sichere innere Ort, an dem wir tiefen Frieden finden können.
Ich danke GertJan für diese Erfahrung, ich danke Fee Fleck für die Empfehlung und der Kuratorin Valy Wahl, dass sie uns diese berührende Kunst in den Turm geholt hat.
Ich erinnere Sie: Ein
mutiger Anfang der ästhetischen Bekenntnis zur neuen Form. Instinktiv hat Valy es gespürt: Die neue Form, von der
ihr Text spricht, geht über Grenzen hinaus.
Ja, ganz sicher geht GertJan Evelo über Grenzen hinaus - die transpersonalen
Inhalte seiner Kunst rütteln an den Grenzen derer, die sich noch immer am
Übermaß dessen festhalten, was ihnen die linke Gehirnhälfte diktiert – nämlich rationales Denken, Logik und Kontrolle. Aber um auch nur
annähernd ganz zu werden müssen wir beide Hirnhälften verbinden, denn nur dann
geschieht die wesentliche Erkenntnis unserer Existenz, die C.G. Jung einmal so
beschrieb: „Wenn man versteht und fühlt, dass man schon in diesem Leben an das
Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten
Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das
Leben vertan.“
© Angelika Wende, KV Eisenturm, 6.
September 2014
Fotos (c) Alexander Szugger http://szugger.blogspot.de
Aufmerksamkeitsübung von Louise Reddemann
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