Samstag, 6. September 2014

GertJan Evelo – Altar im Elfenbeinturm




Einmal empfing der japanische Zen-Meister Nan den Besuch eines Professors, der etwas über Zen erfahren wollte. Nan-in servierte Tee. Er goss die Tasse seines Besuchers voll und hörte nicht auf, weiterzugießen. Der Professor beobachtete das Überlaufen, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte. „Es ist übervoll, mehr geht nicht hinein“, rief er. „So wie diese Tasse“, sagte Nan-in, „sind auch Sie voll mit ihren eigenen Meinungen und Spekulationen. Wie kann ich Ihnen Zen zeigen, bevor Sie Ihre Tasse geleert haben?“
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte?

Weil ich Sie bitten möchte, die Tasse da oben in Ihrem Kopf leer zu machen, um wahrzunehmen, worum es dem Amsterdamer Künstler GertJan Evelo in seiner Arbeit im Tiefsten geht. Die Voraussetzung um die Dinge wirklich wahrzunehmen, ist gegenwärtig zu sein, im Hier und Jetzt zu sein, als Beobachter, ohne Bewertung des Geschehens einfach da zu sein, ohne Ziele und Absichten. Gegenwärtig sein heißt den ständigen Strom der Gedanken zur Ruhe kommen lassen, um sich in der Stille zu öffnen, für einen Bewusstseinsraum des Nichtdenkens und Nichtwissens, und dadurch in Kontakt zu kommen mit den Kräften der Intuition, der Inspiration und der Kreativität, die diese Räume atmen. 

  

Schauen ohne zu bewerten ohne die Konstruktionen von Wirklichkeit, die wir machen, mit all den Konditionierungen und Glaubensmustern, die uns vom ersten Atemzug an in unsere Tasse da oben gegossen wurden – das ist Achtsamkeit. Achtsamkeit ist für die meisten von uns nichts Selbstverständliches, wir sind so übervoll mit dem, was im Außen geschieht, so fremdbestimmt, dass wir den Kontakt zur Achtsamkeit verlieren, und damit verlieren wir den Kontakt zu uns selbst. Nichts fällt uns schwerer als den Verstand zur Ruhe zu bringen und uns auf das Fühlen einzulassen.




Und genau darum möchte ich Sie jetzt, für einen Moment in der Zeit, zu einer Übung in Achtsamkeit einladen.

Ich bitte Sie jetzt, so gut es im Stehen geht, eine angenehme Körperhaltung einzunehmen.

Spüren Sie erst einmal, ob ihre Füße festen Kontakt zum Boden haben.

Es geht nur darum wahrzunehmen, dass ihre Füße Kontakt zum Boden haben und wo sie Kontakt haben.

Und als Nächstes bitte ich Sie wahrzunehmen, dass Ihr Körper atmet und dass er dabei Bewegungen macht.

Registrieren Sie diese Bewegungen.

Registrieren Sie, dass Ihr Brustkorb sich sanft hebt und senkt und wenn Sie sehr genau wahrnehmen, dann spüren Sie auch, dass Ihre Nasenflügel ganz kleine Bewegungen machen. Und diese Bewegungen des Körpers beim Atmen nehmen Sie einige Augenblicke lang wahr.

Beenden Sie die Übung, indem Sie wieder bewusst wahrnehmen, dass Ihre Füße Kontakt mit dem Boden haben und nehmen Sie Ihre Körpergrenzen achtsam wahr.
 

Kehren Sie dann mit der Aufmerksamkeit bewusst in den Raum zurück und nehmen Sie diesen bewusst wahr.


Dies ist eine sehr einfache Achtsamkeitsübung. Aber was Sie dabei vielleicht für diesen kurzen Moment gespürt haben, ist der Seinszustand in dem GertJan Evelo lebt und aus dem er seine Kunst schöpft. Es ist ein schöpferisches Tun, das in der Stille des Geistes geboren wird und aus dieser Erfahrung heraus von innen nach außen wirkt, um Kunst zu werden, um uns zu berühren, ein Anliegen, begründet und gestaltet aus dem Bewusstseinsraum der Meditation. Diesen Bewusstseinsraum nennen wir auch die transpersonale Ebene oder den Raum des Überbewussten. Diesem Raum entspringt unsere spirituelle Kompetenz, was bedeutet, dass wir fähig sind, die eigene Intuition sicher wahrzunehmen und in Handeln umzusetzen, was nichts anderes heißt als: Unser Verstand und unser Herz handeln in Einheit. Es ist kein leichtes Unterfangen in Worte zu fassen, was uns hier auf riesigen Leinwänden und in archetypischen Skulpturen entgegentritt, denn es beraubt das Werk dessen, was es ausmacht: Die Sprache des Überwussten, die über die Symbole zu uns spricht. Am Liebsten würde ich Sie einladen zu schweigen, still und achtsam die Räume des alten Turms zu durchschreiten, diese kraftvollen Gemälde und Objekte einfach auf sich wirken zu lassen, sie zu erspüren, ohne bewerten zu wollen, aber dann hätte ich meinen Auftrag nicht erfüllt und deshalb rede ich, und wir werden später gemeinsam genau das tun, was wir immer tun: Sehen, filtern, denken, durcheinander denken und reden: Miteinander, durcheinander, übereinander. Aber vielleicht gelingt es uns ja, wenn Sie mögen, für diesen Abend gegenwärtig zu sein und den Tumult in unseren Köpfen in den Griff zu bekommen und dem, was wir sehen, unsere ungeteilte Achtsamkeit zu schenken – präsent zu sein.


 „GertJan Evelo installiert seine Malerei und Skulpturen in Form von drei Altären zu Ehren der Kunst, der Venus und des Mars. Eisen, Gold, Kupfer und der rot blaue Stuhl Gerrit Rietvelds dienen als Quelle zur meditativen Inspiration und Achtsamkeit – von Amsterdam über den Rhein nach Mainz. Übergroße Formen schweben. Ein mutiger Anfang der ästhetischen Bekenntnis zur neuen Form.“ So steht es im Einladungstext zur Ausstellung. Die neue Form – was ist das? Abstrakte Malerei, die sie hier auf riesigen Leinwänden sehen ist nichts Neues. Abstrahierte Torsi in Gold und Kupfer gegossen oder mit Eisenspänen legiert – nichts Neues. Was also ist hier neu? Neu oder besser anders und beeindruckend, ist die unstrukturierte Zufälligkeit seiner Bildsprache, die das Symbol eines in sich geschlossenen Ganzen gegenüberstellt. Vom psychologischen Gesichtspunkt aus wird hier mehr als nur ein Gleichgewicht geschaffen zwischen der kupfernen Venus im einen Raum und dem eisernen Mars im anderen Raum: Es entsteht ein Ganzes aus den Aspekten des bereits Ganzen. Die Altäre fungieren als Symbole der geheimen Seele der Dinge, als Metapher unseres kollektiven und persönlichen Erfahrungsraumes. Venus als Abbild innerseelischer weiblicher Züge und Mars als Abbild innerseelischer männlicher Qualitäten. 


 
Jeder von uns trägt beides in sich, die Frau den Animus und der Mann die Anima, die Schwierigkeit aber liegt darin, dass es nur wenigen von uns gelingt, beide Qualitäten in sich zu vereinen und zu leben. Das nennt man Individuation, den Weg zur eigenen Ganzheit. Und dieser Weg ist die schrittweise Bewusstwerdung, sich selbst als etwas Eigenes und Einmaliges zu begreifen und zu verwirklichen. Das Bild für dieses Ganze ist der Meditationsstuhl, ein Nachbau des rot blauen Stuhles von Rietveld. Der Edelstein am fließenden Gold hängend, ein Tropfen des allwissenden Universums, der sich auf die Sitzfläche zentriert, fungiert als Symbol für die Verbindung des menschlichen Geistes mit dem, was wir das göttliche Prinzip nennen oder das Universale. Gelingt diese Verbindung geschieht Heilung.



Hier ist ein Künstler am Werk, der spürt, dass Bewusstsein allein nicht ausreicht, die Frage nach dem Sinn, der aus dem Unbewussten auftauchenden Inhalte zu beantworten und ihre Bedeutung zu erkennen. Nur im Zusammenspiel mit dem, was als transzendent gilt, nämlich dem, was außerhalb oder jenseits des Bereiches der normalen Sinneswahrnehmung liegt, sprich, dem Erfahrungsbereich des Transpersonalen, was wir auch das Höheren Selbst nennen, zeigt das Sein seine intuitive schöpferische Kraft, die über das Banale hinausgeht und so Neues und Anderes schafft. Diesen Zustand erreichen wir in der Meditation.
GertJan Evelo spürt diese Sehnsucht nach dem Ur-sinn, der tief hinter der Welt der bloßen Erscheinungen existiert, dieses unbeschreibliche Gefühl reinen Seins. "Diese Erfahrung", sagt er, "macht bisweilen einsam, sie ist unteilbar." Einsam, trotz der gefühlten Erfahrung des Alleinsseins, die wir im Zustand tiefer Meditation machen können? Nun, vielleicht gelingt es uns sterblichen Menschen niemals, dieses Alleinssein in seiner ganzen Tiefe dauerhaft zu spüren. Gelänge es, wäre alle Trennung Illusion, wir besäßen das gefühlte tiefe innere Wissen, dass wir nicht allein sind, sondern mit allem verbunden und damit ganz.
  


Das Streben nach Ganzheit ist das Streben des Menschen schlechthin.

Wir möchten uns ganz fühlen, um genau diesem Gefühl der schmerzhaften Trennung zu entkommen, das uns überfällt, wenn wir allein sind. Diese Angst, allein gelassen zu werden, die wir zum ersten Mal spüren, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, und die uns ein Leben lang begleitet. Wir möchten, dass jemand da ist, der uns überleben hilft, weil wir spüren, wie zerbrechlich wir sind.

„Wir sind Menschen sind Halbierte“, erkannte schon Platon. Halbierte, die sich nach Ganzheit sehnen, ohne sie mit unserem Bewusstsein, überhaupt wahrnehmen zu können, aber mit dem Drang danach, weil unsere Seele im Tiefsten, um das Ganze weiß. Und sie weiß auch, dass es nirgendwo anders zu finden ist als in uns selbst. In unserer bewussten Wahrnehmung aber leben wir in einer polaren Welt, in einer Welt der Gegensätze. Indem wir "ich" sagen grenzen wir uns von allem ab, was wir als "nicht ich" empfinden. Wir sind Gefangene der Polarität.

Und genau das zeigt uns GertJan Evelo. Er zeigt uns in diesen drei Räumen, wie sich die Welt unserer bewussten Wahrnehmung in Gegensätze aufspaltet. Das Eine ist für uns Menschen ohne das Andere nicht begreifbar, doch alles enthält im tiefsten Kern den Samen seines Gegenteils. Hell und Dunkel, Gut und Böse, Liebe und Angst. Hier Mann und Frau, Geia, Mutter Erde, Uranos, der Himmel, Venus und Mars, Yin und Yang. Löschen wir das eine aus, verschwindet für unser Bewusstsein das andere. In Wahrheit aber stehen die Gegensätze in hoher Abhängigkeit zueinander. Diese Abhängigkeit zeigt, dass in den polaren Gegensätzen eine Einheit existiert, die wir nur nicht gleichzeitig wahrnehmen können. Unser Bewusstsein ist nicht fähig Einheit wahrzunehmen, es spaltet und zerlegt. Wir müssen unterscheiden und bewerten um zu verstehen. Der Raum in der Mitte, in dem wir uns jetzt befinden, ist der Raum der die beiden anderen Räume verbindet, in dem sich die Gegensätze vereinen. Diese Bildersprache zeigt: In der von uns Menschen wahrgenommenen Polarität liegt das Einssein von Mikro- und Makrokosmos und der sich ergänzenden Gegensatzpaare Yang und Yin – und diese Einheit ist reines Sein. Das Dunkel verdrängt nicht das Licht, sie arbeiten zusammen. Was Osho die Unio Mystica, die Vereinigung der Gegensätze nennt und Gurdjeff, einer der außerordentlichen spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die Kristallisation des Seins nennt, ist nichts anderes, als zwei, die sich vereinen: Die innere Frau mit dem inneren Mann, Anima und Animus, Logik und Unlogik, Yin und Yang. Hier kommt zusammen, was wir als Dualität empfinden.



Die spirituelle Entwicklung des Menschen ist ein außergewöhnlicher Vorgang, der jedem, der diesen Weg geht, ermöglicht, über die Grenzen der gewöhnlichen menschlichen Natur hinauszugehen, in andere Bewusstseinszustände vorzudringen und ein Verstehens zu erlangen, das über die Bedingtheit unserer irdischen Existenz hinausgeht. Diesen Weg geht GertJanEvelo und er begann als er sechzehn Jahre alt war mit dem ersten Schritt. „Mein Bruder“, sagt er, „schenkte mir ein Buch über Meditation. Heute meditiere ich nicht mehr, ich bin Meditation.“ Ich bin ist das stärkste Mantra. Und es bedeutet achtsam zu sein sich selbt gegenüber, es bdeutet wahrhaft präsent bei allem Tun zu sein, es bedeutet Konzentration und es führt zur Einsicht in Nichtdualität. Die Energie der Achtsamkeit finden Sie in diesen Altären, meine Damen und Herren und wenn Sie präsent sind gelingt es Ihnen, tief zu schauen und wenn Ihnen das gelingt, fühlen sie sich vielleicht für einen Moment in der Zeit mit GertJan Evelo im Elfenbeinturm verbunden, dem geistigen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der lauten Welt, der sichere innere Ort, an dem wir tiefen Frieden finden können.

Ich danke GertJan für diese Erfahrung, ich danke Fee Fleck für die Empfehlung und der Kuratorin Valy Wahl, dass sie uns diese berührende Kunst in den Turm geholt hat.

 Ich erinnere Sie: Ein mutiger Anfang der ästhetischen Bekenntnis zur neuen Form. Instinktiv hat Valy es gespürt: Die neue Form, von der ihr Text spricht, geht über Grenzen hinaus. 
 
Ja, ganz sicher geht GertJan Evelo über Grenzen hinaus - die transpersonalen Inhalte seiner Kunst rütteln an den Grenzen derer, die sich noch immer am Übermaß dessen festhalten, was ihnen die linke Gehirnhälfte diktiert – nämlich rationales Denken, Logik und Kontrolle. Aber um auch nur annähernd ganz zu werden müssen wir beide Hirnhälften verbinden, denn nur dann geschieht die wesentliche Erkenntnis unserer Existenz, die C.G. Jung einmal so beschrieb: „Wenn man versteht und fühlt, dass man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan.“





© Angelika Wende, KV Eisenturm, 6. September 2014
Fotos (c) Alexander Szugger http://szugger.blogspot.de


Aufmerksamkeitsübung von Louise Reddemann



















































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