Montag, 4. Oktober 2010

Ich kenne sie nicht wirklich

Ich kenne sie nicht wirklich und ich kenne sie nicht gut. Was ich von ihr kenne ist das, was sie von sich Preis gibt. Es ist immer das Gleiche über das sie spricht. Sie spricht von der Tochter, die sie verlassen hat und die seit Jahren nicht mehr mit ihr spricht. Über die Enkelkinder, die sie nicht sehen darf und die Sehnsucht, die sie hat und das Nichtverstehen warum alles so ist und nicht anders.

Wenn sie einmal begonnen hat zu sprechen weiß ich, dass ich mir eine Weile Zeit nehmen muss, auch wenn ich keine Zeit habe oder glaube keine Zeit zu haben.

Wie alt sie ist habe ich vergessen. Irgendwann hat sie es mir gesagt, über siebzig oder so. Es spielt keine Rolle. Sie ist alt, aber Alter interessiert mich nicht im Geringsten. Mich interessieren Menschen und ihre Geschichten und manchmal schreibe ich sie auf.

Sie geht an einem Stock langsam und schwerfällig, als trage sie eine Last auf den schmalen Schultern, die der Stock ihr nicht stützen hilft. So schwer wie ihr Gang ist das, was sie ausstrahlt. Immer ist da die Trauer, die an ihr klebt wie zäher Leim, die ich spüre, sobald ich in ihre Nähe komme. Ich kenne das Gefühl von Trauer, das keine vorrübergehendes ist, das bleibt und sich einfrisst in das Leben.

Vorhin, als ich beim Bäcker mein Brot kaufe sitzt sie da auf einem Stuhl an einem der kleinen Tische mit den orangefarbenen Deckchen drauf und den künstliche gelben Rosen in der kleinen silbernen Vase. Rote Backen über einem halbvollen Glas Ferderweiser und einem leeren Teller mit Kuchenkrümeln. Das Rot der Wangen beißt sich mit dem grellen Orange. Sie sieht mich, strahlt über das ganze Gesicht und hält sich dabei die Hand vor ihr Strahlen, weil ihr ein Vorderzahn abgebrochen ist. Einmal habe ich sie gefragt warum sie sich das nicht machen lässt, das mit dem Zahn, sie sagte, ich kann es mir nicht leisten.

Sie winkt mich zu sich, lädt mich zu einer Tasse Kaffee ein, die sie sich auch nicht leisten kann. Ich setze mich zu ihr und lehne den Kaffee ab. Mit ist nicht gut, ich habe Grippe und will eigentlich schnell wieder nach Hause auf mein Sofa und mich auskurieren.

Vor ihr liegt ein Briefumschlag und ein Blatt mit krackeligen Buchstaben drauf, die Sätze bilden. "Ich habe einen Brief geschrieben, sehen Sie." Mit zittrigen Fingern deutet sie auf das Papier. "Sie wird ihn nicht lesen, sie kommen alle zurück meine Briefe, ungeöffnet. Aber egal, ich schreibe ihr trotzdem." Sie lächelt.

Ich lächle zurück und verstehe sie.

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