Dienstag, 8. Februar 2022

Aus der Praxis - Eingefrorene Trauer

 


„Ich habe eine Depression“, mit diesen Worten beginnt mein Klient unser Erstgespräch.
„Wie kommen Sie zu dieser Diagnose?“, frage ich ihn.
„Ich habe einen Test im Internet gemacht und die höchste Punktzahl erreicht.“
Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen zu mir kommen und sich selbst pathologisieren. Das ist nicht hilfreich. Aber wir Menschen neigen leider dazu dem Kind einen Namen geben zu wollen. Und manchmal ist Nomen dann Omen.
Solche Tests sind keine ernstzunehmende Diagnose. Überhaupt sollte man das Googlen und die Selbstdiagnosen sein lassen. Die Depression ist eine ernste psychische Erkrankung und die Diagnose gehört in die Hände von Fachleuten, zumal man an einer Depression leiden kann, ohne die klassischen Symptome aufzuweisen. Im Laufe unserer Gespräche stellte sich heraus, dass mein Klient nicht an einer Depression litt, sondern an einer tiefen Trauer und einem großen Herzschmerz nach einer Trennung.
Trauer ist keine Depression, bleibt ein Mensch aber in der Trauer stecken, kann sich daraus eine Depression entwickeln. 
 
Trauer kann uns in eine tiefe Krise stürzen. 
Wie bei der Depression fühlen wir uns aus der Bahn geworfen, wir verlieren die Bodenhaftung, die Welt und unser Inneres werden zu einem leeren Ort, das Leben erscheint uns sinnlos. Wir fühlen uns verlassen, einsam und ohnmächtig. Wir sind antriebslos, haben an nichts mehr Freude, wir sind ständig traurig und gelähmt. Ein großer Schmerz lastet auf der Seele, der uns niederdrückt, deprimiert – wie bei der Depression. Aus dieser Trauer, kann sie nicht verarbeitet werden, wird dann im Zweifel eine reaktive Depression. Im Gegensatz zur endogenen Depression, die ohne erkennbare Ursache, also von innen (endogen), auftritt, hat die reaktive Depression immer Auslöser, die von Außen kommen.
Diese sind u.a.
emotionale Enttäuschung, der Verlust eines Menschen durch Trennung oder Tod, tiefe Kränkung, ein Betrug, emotionale Enttäuschung, unlösbare Beziehungskonflikte, Schicksalsschläge, finanzielle Probleme, Verlust der Arbeit, Isolation, Einsamkeit, Ausgrenzung und vieles mehr, was unser Leben belasten und erschüttern kann. Im Grunde ist die endogene Depression eine „normale“ Reaktion auf „unnormale“ Ereignisse. Wobei es nicht so sehr auf das Ereignis selbst ankommt, sondern wie wir emotional darauf reagieren.
Diese „unnormalen“ Ereignisse können uns, gelingt es uns nicht, uns an die Veränderung anzupassen, in eine Depression stürzen. Nicht jeder Mensch neigt dazu. In den meisten Fällen trifft das belastende Lebensereignis auf Wesensmerkmale, die schon zuvor eine fragile, sensible Persönlichkeit kennzeichnen. Dazu gehören Ängste, die Neigung sich zu sorgen, Hochsensibilität, eine eher pessimistische Grundhaltung dem Leben gegenüber, die Neigung zur Melancholie, Verbitterung, Rückwärtsgewandtheit, Verzerrung der Realität, übergroße Abhängigkeit von anderen, die Neigung sich zu isolieren, Süchte und das dauerhafte Gefühl innerer Einsamkeit. 
Es braucht also mehrere Faktoren um aus der Trauer in eine reaktive Depression zu gleiten. Darum ist es so wichtig achtsam zu sein um die Trauer nicht pathologisch werden zu lassen.
 
Wer in der Trauer stecken bleibt, bei dem wird sie chronisch. Der Schmerz, den sie auslöst wird zu Leiden. Leiden ist nichts anderes als chronisch gewordener Schmerz.
Schmerz hat eine Funktion über die sich viele Menschen nicht bewusst sind – er füllt den leeren Raum, den der Verlust ausgelöst hat. Das ist gesund und normal. Ungesund wird es, wenn wir uns an den Schmerz klammern. Wir klammern uns an das, was nicht mehr ist. Um es nicht loszulassen ersetzen wir das Verlorene durch unseren Schmerz, halten ihn fest und leiden. So sind wir im Leiden noch immer mit dem Verlorenen verbunden. Wir glauben unbewusst, wir könnten das Verlorene auf diese Weise bewahren und bleiben im Leid stecken. Leiden ist der Entschluss nicht mehr weitergehen zu wollen. Leiden will festhalten, es ist nach Außen gekehrt und will das Vergängliche überdauern und ins Ewige überführen.
Im Leiden ist das Leben eingefroren.
Wir sind nicht mehr fähig das Jetzt überhaupt wahrzunehmen, weil das, was gewesen ist und nicht mehr ist, unser Jetzt überlagert. Das kann schwerwiegende Folgen für die Seele haben. Wir entwickeln uns nicht weiter. Wir wachsen nicht an der Trauer, sondern bauen ihr einen Altar, der uns nicht tröstet, sondern als Zeuge für unser Leid fungiert.
Trauer ist ein Verarbeitungsprozess, den jeder Mensch auf seine Weise erlebt und durchlebt und sie braucht Zeit. Wenn wir jedoch merken, dass sie nicht weicht, dass der Prozess des Trauerns sich nicht in irgendeiner Weise verändert, sollten wir wachsam sein und uns professionelle Hilfe holen. 
 

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