Sonntag, 16. Mai 2021

Über das Verzeihen

 

                                                                        Foto: A. Wende

Wenn man jemand alles verziehen hat, ist man mit ihm fertig.

Sigmund Freud


 

Verzeihen, wie geht das?
Ich selbst bin jemand, der schwer verzeihen kann. Das beginnt da, wo ich mir selbst nicht verzeihe für all die Dinge, die ich anderen angetan habe oder mir selbst. Nicht, dass ich es nicht versucht habe. Ich habe es versucht, immer wieder, wenn mich ein Mensch tief gekränkt hat. Geholfen hat es nichts. Bis ich begriffen habe, warum diese Versuche untaugliche Versuche waren. Ich habe begriffen, dass Vergebung nicht zu erzwingen ist, auch wenn man verzeihen will. 
 
Verzeihen wollen geht nicht.
Wenn ich etwas tun will, muss ich verstehen, was ich tun will. Bei diesem Gedanken wird mir bewusst, dass ich nicht genau weiß, was ich tun muss um verzeihen zu können. Wie also soll ich etwas tun, wenn ich nicht weiß, was ich da tun will?
 
Was bedeutet verzeihen? Und was ist, wenn ich in den Zustand des nicht verzeihen Könnens gelange?
Wodurch entsteht er, was war da, bevor das Verzeihen als Aufgabe im Raum steht, im Raum der Seele, denn da ist der Platz, wo man es findet, das Verzeihen. Der Kopf kann denken: Ich will verzeihen, aber wenn die Seele nicht bereit ist, hilft das Denken nicht.
Vor dem Verzeihen gibt es etwas, was wir einem anderen oder uns selbst übel nehmen.
Wir nehmen ein Übel an. Ein Übel, das wir einem anderen getan haben oder ein Übel, das ein anderer uns angetan hat. Das Übel ist eine Verletzung, eine Kränkung, etwas, das unsere Grenzen massiv verletzt hat, eine Zurückweisung, eine Lüge, ein Betrug oder eine Grausamkeit. 
 
Etwas übel nehmen bedeutet etwas Übles übernehmen.
Dieses Üble macht etwas mit uns, etwas, was uns im Herzen und in der Seele weh tut. Etwas Übles verzeihen ist schwer. Denn es bedeutet: Wir dürfen dem anderen das Üble nicht weiter übel nehmen. Aber wahr ist: Es gab ein Übel und dieses Übel ist nicht wegzudenken und schon gar nicht weg zu fühlen.
 
Wir fühlen uns verletzt, wir denken es nicht.
Was wir fühlen ist für uns wahr. Was wir fühlen hat seine Berechtigung, was wir fühlen darf sein. Erst Gedanken verändern Gefühle. Manche Gefühle aber lassen sich durch Gedanken nicht verändern, auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen, weil wir wissen, dass es unheilsame Gedanken sind und nicht hilfreich für uns.
Unsere Gefühle mögen den, der uns Übles zugefügt hat, nicht berühren, denn er fühlt nicht, was wir fühlen. Er kann es nur zu verstehen versuchen und das ist nicht das gleiche. Der uns verletzt hat, hat es in den meisten Fällen nicht gewollt. Wenn er uns nicht mit Absicht verletzt hat, wird er uns um Verzeihung bitten, die absichtsvolle üble Tat will kein Verzeihen.
Da steht ein Mensch vor uns und bittet um Vergebung.
Aber wir können nicht vergeben, wir fühlen das so.
Wir könnten um des Frieden Willens sagen: Ich verzeihe dir.
Aber das sind Kopfgedanken. Ist es damit wirklich gut, wenn die Wahrheit ist: Ich kann dir nicht aus ganzem Herzen verzeihen, jetzt nicht, später vielleicht, irgendwann oder vielleicht niemals.
In allen spirituellen Büchern, bei der Bibel angefangen, gilt das Verzeihen als Großmut, als eine hohe Tugend. Das hört sich groß an, so groß, dass es zu groß ist um es einfach zu tun.
 
Ein gekränkter, verletzter Mensch ist alles andere als groß, wenn er im tiefsten Inneren getroffen wurde.Er fühlt sich klein, Er fühlt sich in seinen Grundfesten erschüttert, er fühlt sich gedemütigt und ohnmächtig.  
Er muss zunächst mit sich selbst klarkommen und mit dem, was die Verletzung mit ihm macht. Sie fragmentiert im schlimmsten Fall seine ganze Person. Er wird innere Gespräche führen, um das verletzende Ereignis zu verarbeiten und zu bewältigen. Wie lange diese Bewältigung dauert hängt von jedem Einzelnen ab, von seiner seelischen und psychischen Struktur, seinen Werten, seinen Moralbegriffen, seiner Vulnerabilität, seinen biografischen Erfahrungen, seinen Glaubenssätzen, seiner Resilienz, seiner Fähigkeit dem Leben und den Mitmenschen zu vertrauen, von seinen Bewältigungsstrategien und seinen inneren und äußeren Ressourcen. 
 
Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch verarbeitet Kränkungen und Verletzungen anders.
Keiner Mensch gleicht dem anderen ist und nichts ist zu verallgemeinern. Etwas anderes zu glauben ist ein Phantasma, das an der Realität des Lebens zerbricht. So ist auch die Fähigkeit des verzeihen Könnens individuell verschieden.
Und doch es gibt eine Gemeinsamkeit bei aller Verschiedenheit wenn es um das Verarbeiten einer Kränkung geht: Ein verletzter Mensch braucht den Rückzug. Er braucht Zeit um seine Wunden zu lecken, wie ein verwundetes Tier, das sich in seine Höhle zurückzieht. Ein verletzter Mensch braucht seine Höhle um sich mit der Verletzung auseinanderzusetzen, um zu sehen, wie tief sie ihn erschüttert hat, um zu begreifen, was er daraus lernen kann, um herauszufinden, ob er die Verletzung nutzen kann, um etwas über sich selbst oder den, der ihn verletzt hat, zu erkennen, was er bisher nicht "gesehen" hat. Dann ist es möglich an der Verletzung zu wachsen.
 
Rückzug bedeutet Distanz einnehmen. Distanz zu dem, was geschehen ist und Distanz zu dem, der verletzt hat. Ohne Distanz rumort die Verletzung weiter.
Sie quält nicht nur die eigene Seele, sondern auch die Beziehung zu dem Menschen, der uns verletzt hat. Da ist Nähe kontraproduktiv, denn der Verletzte ist nicht nur erschüttert, er ist auch, nach dem ersten Schmerz, wütend. Wütende Menschen können erst einmal nichts fühlen, außer Wut. Im schlimmsten Fall wächst aus dieser Wut blanker Hass und manchmal sogar Rachegedanken. Das ist nachvollziehbar, wenn auch unheilsam, denn Rache schaufelt immer zwei Gräber. Sie bindet uns an den Täter und durch Rache wiederrum werden auch wir zum Täter. Das ist in hohem Maße zerstörerisch. Auch wenn die Rache niemals aktiv ausgeübt wird, Gedanken der Rache zerfressen von Innen. Wir verbittern. 
 
Verzeihen braucht Zeit und Distanz. Und dann?
Dann zeigt sich irgendwann ob man aus tiefstem Herzen verzeihen kann. Der, der verletzt hat, kommt in diesem Prozess zunächst nicht vor. Man kann einem anderen auch innerlich verzeihen, aber - auch wenn man dem anderen innerlich verziehen hat, bedeutet das nicht, dass man die Nähe zu ihm wieder will. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Auch wenn wir dem anderen verzeihen, ist es möglich, dass wir ihm nicht mehr vertrauen können. 
 
Verlorenes Vertrauen ist das Fallbeil für eine Beziehung.
Wo das Vertrauen verloren ist bleibt eine Wunde, bleibt der bittere Nachgeschmack der Enttäuschung und da ist Angst - wer uns einmal tief verletzt hat, kann es immer wieder tun. Die Erfahrung lehrt - dem ist meist auch so, denn bevor die eine entscheidende Verletzung kommt, waren zuvor viele andere kleine oder größere Verletzungen.
Verzeihen ist ein Neuanfang auf der Basis von Vertrauen. Ist diese Basis aber tief erschüttert, gibt es nur noch den Abbruch der Beziehung. 
 
Verzeihen ist ein langer Prozess. Wir können ich nicht willentlich beschleunigen oder herbeiführen. Geben wir uns Zeit, haben wir Geduld mit uns, fordern wir nichts von uns, was wir nicht können. Trauern wir bis es wieder leichter ist im Herzen. Egal wie lange es dauert.
Verzeihen heißt nicht, es gut heißen. Das Ungute ist, was es ist - ungut.
Verzeihen bedeutet: Loslassen von der Verletzung um unserer Selbst willen.
Was aber, wenn wir nicht verzeihen können, auch wenn viel Zeit vergangen ist? Dann verbittern wir und zerbrechen innerlich.
Niemals verzeihen können, bedeutet dem "Übeltäter" mitsamt dem Übel verbunden zu bleiben, es bedeutet in der Rolle des Opfers stecken zu bleiben und das bedeutet, dem "Täter" weiter Macht über uns zu geben. Es bedeutet Ohnmacht und Starre.
Solange es Menschen gibt, werden sie verletzen, sich selbst und einander.
Eine traurige Wahrheit, aber auch das ist Leben.
Was bleibt wenn wir das anerkennen über die Trauer hinaus? Versöhnung mit dem Leben selbst, so wie es nun mal ist.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen