Samstag, 17. Mai 2014

Jens Wohlrab und Horst Rettig in der Altstadtgalerie


„Form versus Farbe“ ist der Titel dieser Ausstellung.
Versus = gegen(übergestellt).
Die Form steht der Farbe gegenüber.
Das Sich-Gegenüberstehende steht für sich, zunächst einmal.
Das eine gegen das andere, das eine dem anderen entgegen,
gegen – über.
Das schafft Trennung, zunächst einmal.
Beim ersten oberflächlichen Hören der Worte klingt das so, beim ersten Schauen scheint das so: Zwei stehen sich gegenüber.
Hier ein malerisches und dort ein bildhauerisches Werk.


Und doch, so einfach ist es nicht. Einfach ist es niemals, denn in diesem Sich-Gegenüberstehen, liegt auch ein Sich-Begegnen. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, wie es Martin Buber einmal formulierte. In jedem Lebewesen, in jeder Kunst ist etwas Kostbares, das in keinem anderen ist, und wenn sich das begegnet, findet Resonanz statt.

Spüren Sie es?
Spüren Sie, wie diese beiden künstlerischen Positionen miteinander schwingen, sich bereichern, sich vielleicht sogar gegenseitig befruchten oder einander ergänzen? Spüren Sie die Resonanz zwischen den Bildern von Jens Wohlrab und den Figuren von Horst Rettig? Spüren Sie die Geschichten, die sich aus diesen Kunstwerken in den Raum ergießen, wie sie ihn mal laut, mal leise, mal zart, mal kraftvoll schwingen lassen, zu uns, dem Betrachter, sich hinbewegend – um wahrgenommen zu werden?

Form, Farbe, Linie, Zeichen, Symbole, Bewegung, Statik, Klang, Melodie – da ist so viel, was entschlüsselt werden will, um uns zu bereichern – die Sinne, den Geist und die Seele. Gute Kunst berührt. Sie fließt aus der Seelenlandschaft dessen, der sie erschafft, hin zum Betrachter. Wenn wir guter Kunst begegnen, macht sie etwas mit uns – sie berührt uns, wir spüren Resonanz. Wie die Musik, hat auch die bildende Kunst eine Tönung. Wir lauschen im Sehen. Und wenn Sie mögen, meine Damen und Herren, lassen Sie uns das jetzt gemeinsam tun.


Jens Wohlrab ...

In einem Text über seine Arbeit notiert der Meisterschüler der UDK: „Irgendwann stand mir der Sinn nach etwas Neuem. Ich hatte die Farbverschiebung und die Schaffung neuer Sichtweisen lange genug auf eine bestimmte Szenerie konzentriert, aber dann wollte ich ein Terrain beschreiten, das das Bildgerüst von Straßenmotiven, eingefasst in Architektur, Bäumen und vereinzelten Menschen, hinter sich lässt. Da war der Wunsch, ein Pendant zu finden für eine Bildgestaltung, die sich nach musikalischen Gesetzmäßigkeiten richtet.“

Nun müssen Sie wissen, dass Jens Wohlrab, außer der Leidenschaft zu malen, eine zweite Leidenschaft hat: Seit seiner Kindheit spielt der Künstler Klavier. Liegt es da nicht nahe, eine malerische Form und eine Methodik zu finden, die getragen ist von der Idee der Verschmelzung beider Künste?

Die Augen hören, die Ohren sehen. So kann man es wohl sagen.

Diese Idee war es, die Jens Wohlrab faszinierte und antrieb, die Musik und die Malerei zusammenzuführen und sein Experiment der Synästhesie zu wagen, das wir heute hier, neben den Stadtlandschaften des in Berlin lebenden Künstlers, erleben.

 Dass sich Maler von Musik inspirieren lassen und sich durch Musik auf die Arbeit an ihren Gemälden einstimmen, ist nicht selten, und die Geschichte der Malerei hat sich schon seit jeher auf vielfältige Weise in die Musik eingeschrieben.

So, wie sich Musiker von der Bildenden Kunst inspirieren lassen, und so, wie beim Hören von Musik Bilder im Kopf entstehen, suchten viele Maler die Inspiration durch die Musik, sie reflektierten und experimentierten mit der Möglichkeit der Übertragung von Gestaltungsprinzipien und strukturellen Analogien oder zogen aus ihren Vergleichen mit der Schwesterkunst formale Schlüsse. Künstler wie Kandinsky, Klee und Mondrian bezogen sich auf die Reflexion von Teilaspekten wie Polyphonie oder Farbe-Ton-Beziehungen. Und schon 1873 postulierte der englische Essayist Walter Pater: „Alle Kunst strebt unaufhörlich hinüber in den Zustand der reinen Musik.“





„Für die Malerei öffneten sich Türen“, so Jens Wohlrab. „Als ich dahinterkam, dass es für die elektronischen Klänge der Club-Lounge Musik eine visuelle Entsprechung gibt: das digitale Bild und die Möglichkeiten des Computers. Die Umwandlung von Natur in einen digitalen Farbimpuls und die Verwandlung der Realität in eine fremde Welt, indem ich Farben verschiebe, ohne sie direkt aus ihrem Gefüge zu isolieren. Das ermöglicht mir, Bilder zu schaffen, die das Gefühl, was mich beim Hören gewisser Sounds beschleicht, visuell transportieren. Die Stadtlandschaft war ein willkommenes Thema einer Sehnsucht zu folgen, die dieser verführerischen Klangwelt entspricht. Das Fenster eines Hauses, die Kante eines Baumes, Passanten, parkende Autos. Mit einer gewissen Unschärfe und mehr oder weniger gewagter Farbverschiebung ergaben sich visuelle Partituren, um Symphonien fürs Auge zu erschaffen.“

Wohlrabs Bilder basieren auf Fotografien. Verfremdet mittels abstrakter Momente, entsteht durch das Zusammenspiel von Farbe und Form eine malerische Welt, die sich zwischen Illusion und Realität entfaltet.

Wohlrab spielt mit der Skala seiner Farben wie der Komponist bei der Orchestrierung seiner Melodien. Nach seinem Ermessen mäßigt oder bricht er den Takt, stimmt ein Element herab oder steigert es,  moduliert eine Nuance bis ins Unendliche, wiederholt den Rhythmus und spielt mit der Kraft der Farbe als dominantem Element. Ihre Tonfolgen werden mit Bedacht zueinander geführt und voneinander abgegrenzt. Das Auge des Betrachters wandert auf der instinktiven Suche nach wiederkehrenden Mustern, nach Symbolen und Zeichen über die Bildfläche, wodurch die Farbfelder in Bewegung zu geraten scheinen. Er versucht das Bild zu dechiffrieren, den Bezug zum Realen zu finden und dabei springt er zwischen den reinen Farbeindrücken und dem sinnlichen Eindruck und der Bedeutung. So sind diese Bildwelten auch in diesem Sinne musikalisch, weil sie näher am reinen Sinneseindruck sind als am Bedeuten-Wollen.

Sehen Sie, hören Sie? Diese Gemälde sind von großer, dekorativer Entfaltung, welche eine klangvolle Harmonie erreicht. Und diese malerische Harmonie der Farbe begegnet hier in diesen Räumen der Harmonie der Form: dem bildhauerischen Werk des Wormser Künstlers Horst Rettig. 


Kunst ist bei allem, was sie ausmacht, auch Harmonie. Harmonie ist Übereinstimmung, Einklang, Eintracht, Ebenmaß, Symmetrie. Kunst ist der schöpferische Mensch im Dialog mit dem Sein, der Natur, der Wirklichkeit, mit einer sehr persönlichen Bedeutsamkeit, die er als Künstler darin zum Ausdruck bringt. Und für mich ist die kostbarste ans Licht gebrachte Perle – der Blick in die menschliche Seele, den der Künstler uns zu schenken vermag.

Das war der Gedanke, der in mir war, nach einem langen und intensiven Telefonat mit Horst Rettig. Er verfestigt sich im Schauen seiner Figuren, die getragen sind von einer Harmonie, einem Ebenmaß und einer stillen Eintracht mit sich selbst. Sie sind ganz und das, obwohl so vieles auf den ersten oberflächlichen Blick zu fehlen scheint. Sie haben keine Arme, keine Füße und keine Gesichter – sie sind pure Form. Und genau das Fehlende ist es, das sie so anziehend macht, so in sich geschlossen, so in sich ruhend, so unantastbar, so stabil, so vital und so stark.

Sie mit mehr als meinen Sinnen zu berühren?
Ich würde es nicht wagen, ihre Anmut mit Händen zu stören. Ihre Betrachtung verlangt Aufmerksamkeit und Achtung ihrer natürlichen Grenzen. Diese Skulpturen brauchen Zwischenraum und ein sensibles Herantasten an die Seelenmusik, die aus ihnen klingt, um sie zu hören und zu fühlen.

Welch eine Haltung der Würde, die uns hier Figur für Figur umgibt, die Würde, die uns zum wahren Wesen des Menschseins führt – zum Erkennen, dass wir trotz aller Verletzungen, aller Wunden, die das Leben und unsere Biografie schlagen, immer die Wahl haben: Wir haben die Wahl, Haltung einzunehmen oder, um es mit Horst Rettigs Worten zu sagen: „Wahre Schönheit ist – die Haltung der Würde bis ins hohe Alter zu bewahren.“

Natürlich gibt es vieles in unserem Leben, das wir nicht in der Hand haben. Aber die Essenz unserer Identität hat nichts und niemand in der Hand, außer wir selbst. Das ist eines der großen Potenziale des Menschen – die Fähigkeit, erhobenen Hauptes alle Anfeindungen, alle Schicksalsschläge, jedes Scheitern und jede Krise zu meistern. Das ist Würde, das heißt: Rückgrat bewahren und anerkennen, dass das Schwere zum Leben gehört wie der Tod. Es lässt sich nicht abspalten, denn Abspalten würde bedeuten, dem Leben die Form zu nehmen.

Über die Form, das Wesen der Form des Lebens selbst zu begreifen und das Begriffene zu transformieren und zu transportieren – vielleicht ist es das, was den Bildhauer und den Menschen Horst Rettig motiviert. „Es muss gut werden“, sagt er.

Bewusst in die Reduktion getrieben, deuten seine Figuren auf viel mehr hin, als der Betrachter unmittelbar wahrnimmt. Es scheint, als hülle die äußere Form eine im Inneren verborgene andere Form ein, als sei sie mehr als bloße Gestalt, sondern darüber hinaus der Hinweis auf den Wesenskern, der sich in den bronzenen Protagonisten verbirgt. Sie sind geradezu beseelt von einer magischen Autorität des Weiblichen. Es begegnen uns Archetypen, wie die Prinzessin als begehrenswerte, junge Frau mit einem starken Willen oder die Große Mutter als Sinnbild der Quelle von Geborgenheit, Stärke und Sicherheit.

„Ich erzähle Geschichten von Frauen“, sagt der Bildhauer und fügt hinzu: „Wenn Kunst eine Seele hat, dann ist sie weiblich.“

Und damit verweist Rettig auf die Anima, jene weibliche Seeleneigenschaft, die auch im Mann wohnt: Stimmungen, Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale, Liebesfähigkeit, Natursinn und als Wichtigstes – die Beziehung zum Unbewussten, aus dem heraus alle große Kunst entsteht. Aber er erzählt auch von Paaren, die einander Raum geben, die sich gegenüberstehen, den anderen achten und ihm erlauben, sich selbst zu sein.

All diese Figuren verbindet ihre Wirkung auf zwei Ebenen:
Zum einen wecken die glatte Oberfläche und die zarte gerundete Gestalt Assoziationen an Verpuppungen, die auf eine bevorstehende  Metamorphose hinweisen. Zum anderen wirkt ihre subtile Kraft über das stark abstrahierte, massive, formale Erscheinungsbild hinaus. Das führt uns zur Geschichte, die unter der polierten Haut aus Bronze wohnt. Es ist die Allianz zwischen physischer Spannung und Geheimnis, die die Qualität und die Schönheit dieser Skulpturen ausmacht – man fühlt fast körperlich, wie sie ihre innere Kraft nach außen abgeben.  

Das Abgeben dieser Kraft nach außen – das ist es, was im Raum die Begegnung schafft, die Resonanz, die wir spüren können. Und auch so verbinden sich hier diese beiden künstlerischen Positionen – der Klang ihrer inneren Kraft verbindet sich im Raum. Und das bedeutet letztlich nichts anderes als: in uns allen. Auch daher dürfen wir der Kunst im Allgemeinen und diesen beiden Künstlern hier und heute im Speziellen dankbar sein – für die Begegnung, die sie schaffen. Miteinander, zu uns als Betrachter und in uns selbst. Es ist die Seele der Kunst, die unsere eigene Seele berührt, unsere Anima.

Herzlichen Dank dafür an Jens Wohlrab und Horst Rettig und an die Galeristin, die diese beiden Künstler zusammengeführt hat.

Dazwischen ist das Leben. Erinnern Sie sich? Alles wirkliche Leben ist Begegnung.
Wie  bereichernd, diesen beiden Künstlern begegnen zu dürfen.
Genießen Sie es, meine Damen und Herren.



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