Dienstag, 9. Oktober 2012

DISSOZIATION

  




Dissoziation – nicht von ungefähr entstammt der Ausstellungstitel zu Angelika Wendes Malerei dem Reich der Psychologie. Was hier formal und vordergründig als Porträts erscheint, bildet nicht Personen oder Persönlichkeit ab, sondern nutzt die Chiffren menschlicher Erscheinung als Vokabular einer Beschreibung seelischer Zustände. 

Wendes Arbeiten sind Psychogramme, künstlerische Auslotungen innerer Zustände. Das Wesentliche befindet sich dabei im Nicht-Dargestellten, im Nicht-Sichtbaren – im Abgespaltenen. Die aufs Archetypische verweisenden Figuren und Beziehungskonstrukte definieren sich durch das Abgetrennte, Verlorene, durch Verletzungen und Wunden. 

„Es gibt kein größeres Verlangen, als das eines Verwundeten nach einer anderen Wunde“, schrieb Georges Bataille. In diesem Sinne verweisen die Protagonisten in den Bildern Angelika Wendes auf den Erfahrungsraum außerhalb der eigenen verwundeten Welt. In diesem Sinne öffnen sie den Bild- und Interpretationsraum in das Unendliche. 

Platons berühmtes Gleichnis von den „Kugelmenschen“ drängt sich auf. Menschen, die sich als Fragmentierte, als Halbwesen erfahren und getrieben werden von der Suche nach dem Ergänzenden. In Wendes Bildern wird deutlich, wo dieses ergänzende Andere nicht zu finden ist – im Außen, im Anderern. 

Die Dargestellten bleiben sich auch in Beziehung gestellt fremd, ihre Unvollständigkeit steht nebeneinander, spiegelt sich, potenziert sich, doch eine Verschmelzung, eine Ergänzung und somit eine Heilung gibt es nicht. 

Keine Hoffnung also? 
Durchaus. Sie liegt in dem, was jenseits des Fehlenden auch ist. Ein oft trotziger, kraftvoller Blick aus der Verletzung heraus. Oft scheint dieser Blick wie hinter einer Maske zu wirken. Doch er ist da. Und verweist auf das Innere – auf den Bereich der Möglichkeit. Auch der Möglichkeit zur Ganzwerdung. Denn nur dort sieht Wende den Weg, als Halbmensch zur Ganzheit zu gelangen – im eigenen Inneren, im Selbst. Das Selbst ist das größte Rätsel, schrieb Max Beckmann. Angelika Wende weiß das. Sie stellt sich diesem Rätsel. Mit allen Mitteln. Vor allem aber mit dem Mittel, das auch ihren Figuren offenbar als letzter Lösungsweg erscheint – mit dem Blick, der das Innen mit dem Außen verbindet.

Als langjährige Ansagerin und Moderatorin beim ZDF und anderen Fernsehsendern entwickelte Angelika Wende ein besonderes Verhältnis zur vordergründigen Abbildbarkeit des (eigenen) Gesichts. In ihren psychologischen Studien und ihrer Arbeit als psychologische Beraterin bewegt sie sich in den Bereich weit hinter diesen Fassaden. Ihre künstlerische Entwicklung – unter anderem begleitet durch Studien bei Matthias Rüppel und Christian Felder – entwickelte sie eine eigene Bildsprache, jenseits künstlerischer Konvention. In diesem Sinne sind Wendes Arbeiten im besten Wortsinn „naiv“ – sie wenden sich dem Ursprünglichen zu, gehen zurück zur Geburtsstunde von Eindruck und Ausdruck. Dorthin, wo das Neue entsteht. Jenes Neue, das getrieben von der Sehnsucht nach Ganzheit Welten erschafft – und Möglichkeiten.

(c) Alexander Szugger, Oktober 2012









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