Mittwoch, 24. Oktober 2012

Aus der Praxis - Eine trostlose Wut

  

sie saß vor mir, blass, mit einer haut dünn wie pergamentpapier. ich will es loswerden, es endlich aussprechen, ich muss es aussprechen, sonst ersticke ich daran, sagte sie.

sprich, antwortete ich, ich höre dir zu.

ich habe als kind viel aggressionen erlebt. ich habe mich nicht wehren können gegen die verbale gewalt in meiner familie. ich habe nicht gelernt, wie man sich wehrt, ich habe nicht gelernt, wie man sich abgrenzt. wie man überlebt, das habe ich gelernt. wenn du als kind misshandelt oder missbraucht wirst, sei es körperlich oder emotional, oder beides, hast du keine waffen, die dir helfen könnten. du bist wehrlos. du bist fassungslos, du hast nur diesen gedanken: ich verstehe das einfach nicht!

wie soll ein kind verstehen, dass menschen, die es liebt und von denen seinen überleben abhängt, fähig sind, es zu verletzen, es zu demütigen, es zu verachten. das versteht ein kind von vier oder fünf jahren nicht. es beginnt zu glauben, dass es schlecht ist, dass es böse ist, dass es verdient hat, was ihm geschieht. um eine rechtfertigung für den oder die täter zu suchen, macht es sich selbst für das, was ihm geschieht verantwortlich. es spaltet das böse von den tätern ab und verinnerlicht es als sein als eigenes. auf diese weise wird das fremde böse zum eigenen bösen. hier beginnt die spaltung des eigenen inneren. das kind muss das tun, um die eltern weiter als gut empfinden zu können. indem es selbst die ursache des bösen ist,  gelingt es ihm die lebensnotwendige beziehung zu den eltern am leben zu halten. es sagt sich, sie haben mich lieb, aber ich bin böse, darum haben sie grund mich schlecht behandeln. wenn sie mir wehtun, habe ich es verdient. ich bin schlecht. sie weisen die schuld ja auch von sich und sagen – du bist ein böses kind.

die tragik des kindes liegt darin, dass es sich zum einen partiell selbst aufgibt um seelisch zu überleben und zum anderen das böse als eigenschaft in sich selbst aufnimmt. und dort bleibt es, lebenslang -  wie ein dämon, der in ihm haust, der  ihm sagt, was es tun muss, um sich selbst zu schaden.

mein vater hasste sich selbst, er hasste sein leben. er hasste uns kinder und er hasste sich wohl selbst für seinen hass. er war immer aggressiv. er sagte, ich sei schlecht, ich sei an seinem unglück schuld, ich sei die nachgeburt, die er großgezogen habe. das kind hätten sie bei der geburt aus versehen weggeworfen. er sagte ständig solche dinge zu mir. das hat mir angst gemacht. es hat mir meinen seelenfrieden geraubt, mein gefühl für mich selbst, die freude am leben. im grunde hat er seine wut, seinen hass wie ein gift in seine tochter injiziert, um sich selbst zu entlasten. ich blieb verwirrt, verängstigt und mit einem schlechten gefühl zurück – bis heute ist das so.

ich habe meine mutter gefragt, was ist mein fehler, was habe ich dir getan?
da sagte sie zu mir, dass du überhaupt da bist ist das unglück.
sie sagte, ohne dich hätte ich deinen vater niemals geheiratet, wegen dir habe ich meine träume begraben müssen, wegen dir habe ich ein ungelebtes leben. und du, bist nur undankbar! ich hatte immer eine bringschuld – ich musste ihnen und mir selbst beweisen, dass ich es doch in irgendeiner weise wert war zu leben, um zu überleben. mein vater ließ mich meine bloße existenz als schuld erleben. ich war schuld an seinem beschissenen leben. die grundschuld – überhaupt am leben zu sein. das heißt, du darfst nicht leben, aber wenn du schon lebst, dann fühle dich wenigstens schlecht und schuldig! irgendwie denkst du immer es wäre besser nicht da zu sein und entwickelst selbstzerstörungstriebe. mein vater war ambivalent. einerseits hatte ich das gefühl, er mag mich, weil er mich manchmal auf seinen schoß nahm und mir viele dinge erklärte, andererseits war da dieses vernichtende in seinen worten und seinem blick.

es fühlt sich an als sei mein empfinden für mich selbst in zwei teile gespalten – der eine, der sich selbst zerstören will, weil er glaubt schlecht zu sein und kein recht auf ein leben zu haben, der andere, der rebelliert, weil er leben will. aber wie? wie geht leben? wie fühlt sich das an? es gibt keine lösung und immer bist du wütend, depremiert und schuldbeladen.es war vollkommen egal, was ich machte, alle versuche anerkennung zu gewinnen, alle anpassungsversuche bewirkten nichts. nichts konnte diese ablehnung ändern.

ich führe ständig krieg in meinem inneren – die eine kämpft gegen die andere. ich will eine identität finden, ein klares umrissenes ich, bis heute ist das so. mein grundgefühl ist eine trostlose wut.

es ist die rebellion einer frau, die in dieser welt nie einen sicheren ort gefunden hat, die nicht weiß, wohin sie gehört, weil sie nicht weiß, wer sie ist.  das eine hat mit dem anderen zu tun. wenn du keine heimat in dir drin hast, dann bist du überall wo du bist heimatlos, du bist immer auf besuch, niemals angekommen. wie auch? du suchst ja dich, das ist ein ewiges getrieben sein.

das sind identitätszweifel, die manchmal verzeifelt machen, ein ewiges schwanken, ein hin und her kippen, ein gefühl von unvollständig sein, ein gefühl der spaltung. wer gelernt hat, dass kein recht auf leben hat, hat auch kein gefühl für autonomie.

sie lächelte resigniert.
ich sah sie an:  es ist gut, dass du es endlich aussprichst.

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