Donnerstag, 9. Juni 2011

Ein anderer Kosmos von Weiblichkeit



In einer Ausstellung sah ich sie, andere Bilder von weiblichen Körpern. Andere als die, die wir zu sehen gewohnt sind in Hochglanzmagazinen, in der Werbung und in Fernsehshows die Superstars und die Superschöne suchen. Die Bilder des Wiesbadener Fotografen Frank Widmann zeigen Frauen in überdimensionaler Fülle. Sie sind nicht nur nackt, sondern vor allem, alles andere als den Körperidealen der Modelwelt entsprechend.
Schauen wir hin, im Versuch nicht zu bewerten. Auf gewisse Weise berührt uns diese Üppigkeit der weiblichen Figur. Verschiedenste Affekte stellen sich ein. Von Abwehr, über Befremden, bis hin zu Neugier und Faszination ist alles möglich. Das herrschende Schönheitsideal sieht nun mal anders aus. Schlank, wohl proportioniert, mit glatter Haut und geschmeidigen Kurven. Das ist Frau in der Moderne, begehrenswert und beneidenswert für jene, die sich in diesem Weiblichkeitsschema nicht wieder finden. Frank Widmann stellt der Ästhetik des weiblichen Körpers, wie wir ihn heutzutage als schön empfinden,  einer bildhaften Herausforderung gegenüber, indem er eine scheinbar nicht politisch korrekte Ästhetik des weiblichen Fettes inszeniert. 

Zu viel Fett? Nicht gesellschaftlich konform?
Nehmen wir die Geschichte zu Hilfe. Sie erinnert uns daran, dass das, was ist, auch anders sein könnte. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte reißt uns aus dem Jetzt und seinem gleichmachenden absolutistischen Anspruch des Schönheitsideals der schlanken Weiblichkeit. Es war nicht immer so. Sie ist elf Zentimeter groß und 25 000 Jahre alt. Eine Frauenstatuette aus Kalkstein, die aus kleinen Kugeln zusammengesetzt ist, mit dickem Bauch, großen schweren Brüsten und einem gewaltig überdimensionalen Hintern. Sie scheint wie die gesichts- und fußlose Inkarnation der Fruchtbarkeit. Sie, das ist die Venus von Willendorf. Noch heute streiten die Forscher über die Symbolik der fetten weiblichen Figur. Die einen sehen in ihr die Stammmutter der matrilinearen Gesellschaft, die anderen wollen in ihr den Archetypus der Großen Mutter erkennen. Genaues weiß die Forschung nicht. Auch das Lexikon der Ethnologie berichtet von der Vorliebe der Hottentotten für die Fettsteißigkeit der Frau. Pornografische Postkarten aus dem 19.Jahrhundert, die unter der Hand den Besitzer wechselten, zeigen die Lust an weiblicher Fülle und zeitgenössische Maler wie Lucian Freud rücken dem prallen Leib auf den Leib. Seine Figuren formieren sich aus dicken Schichten von Farbe, dick wie die Körperwelten des im Bild fest gehaltenen menschlichen Fleisches. 

Dieser andere Kosmos von Weiblichkeit ist so alt und so jung wie die Geschichte. Und doch, stößt das Auge des modernen Menschen darauf, fühlt es pikiert oder gar beleidigt, so als würden hier die Grenzen des Zumutbaren ausgelotet. Der Blick auf die Nacktheit und überwältigende Blöße des Nichtidealen, Überdimensionierten sieht aus unserer heutigen Sicht primär den Makel. Aber, wer ist frei vom Makel, ob fett oder nicht? Spätestes die Vergänglichkeit der eigenen Körperlandschaft relativiert so manches an Anmaßung ob dessen, was schön ist und was nicht.

Frank Widmann geht es nicht darum eine Position einzunehmen, und es ist auch nicht die ihm bisweilen von Betrachtern unterstellte Lust am Fetisch „dicke Frau“, die nicht wenige Anhänger hat, man werfe nur einen Blick ins Internet, ihm geht es vielmehr um das Zeigen einer Position, um das im Foto festgehaltene Abbild von Fülle, die sich ausbreitet, über die Grenzen der Norm von Body Index und idealem Körpergewicht hinaus. Das führt zum Nachdenken.

Wie es sich damit lebt, mit dieser Fülle? Wann? Vor tausenden von Jahren oder heute? Anders sicher, als damals. Der Anbetung von praller Fruchtbarkeit steht heute eine wie auch immer geartete Ablehnung gegenüber, meistens jedenfalls, wenn auch leise und unter vorgehaltener Hand geäußert.

Ungesund, sagt laut die Medizin und katalogisiert die Unterschiede der Fettleibigkeit in pathologischen Erscheinungsformen. Adipositas beispielsweise, eine chronische Gesundheitsstörung, die auf einer polygenetischen Veranlagung beruht und sich durch eine übermäßige Ansammlung von Fettgewebe kennzeichnet. Also kein „Lifestyle-Problem“, sondern eine schwer wiegende Krankheit. Experten schlagen bereits Alarm und fordern einen nationalen Aktionsplan. In keinem anderen europäischen Land gibt es so viele dicke Menschen wie in Deutschland. Dicke leben gefährlich. Zu viel Fülle macht krank, da sind sich die Mediziner einig. Nicht nur körperlich. 

Körperliche Fülle grenzt aus, macht das Leben schwieriger, den Alltag bestimmen nicht selten Hindernisse, bei einem zu kleinen Stuhl angefangen, der nicht „passt“, bis hin zu Hänseleien unsensibler Zeitgenossen.

Viel Fett ist für manche Frauen oft mit Rückzug in die selbstgewählte Isolation verbunden, einem sich Einkapseln in den geschützten Raum des eigenen Raumes, umgeben vom Schutzmantel der Fülle, der schützen soll. Wovor? Was sich in körperlicher Masse ausbreitet gleicht einem Kokon, der das Außen abgrenzen soll von einem verletzten und verletzbaren Inneren. Auch das ist eine Ursache für zu viel Fett. Mit Stolz getragen wird es von den wenigsten Frauen. 

Für die Kunst jedoch besitzt die Fülle eine große Faszination. Die Kunst war schon immer freier, weniger bewertend und urteilend als die Gesellschaft in der sie wirkt. Und die Kunst liebt die Formen. So lautet das Credo des kolumbianischen Malers Fernando Botero: „Lasst dicke Frauen um mich sein.“ Seine voluminösen Frauen aber, seine „Walfischdamen“, die einer farbenprächtigen Inflation weiblicher Fleischberge gleichen, jedoch sind alles andere als gemütlich. Die dicken Damen wecken nicht nur ein Gefühl der räumlichen Bedrängnis, sie sind auch nicht vordergründig erotisch, sondern vielmehr rufen sie Assoziationen an Kraft, Anarchie und Gravität hervor – den Gedanken an Gaia, das große urtypisch Weibliche. In der griechischen Mythologie ist sie die Personifizierung von Mutter Erde, die erste der Götter überhaupt und zugleich das manifestierte weibliche Prinzip, das aus sich selbst heraus das Männliche gebärt. Weht daher also möglicherweise der Wind der Ablehnung gegenüber der fetten Frau, in der Übermacht des Weiblichen, die sich in der Überfülle dominant und deutlich präsentiert? Ist sie eine Projektionsfläche für archetypische Urängste des Patriarchats, der gefühlten Schwäche gegenüber dem Weiblichen?

Bei allen ziemlich wirren Assoziationen und Spekulationen weshalb die dicke Frau Emotionen in die ein oder andere Richtung gleiten lässt die sich irgendwo im Bermudadreieck zwischen Gaia, Venus und Matriarchat ansiedeln, vergessen wir nicht die Rolle die Erotik und die Sinnlichkeit spielen. Weich, üppig, voll und rund. Das sind Begriffe, bei denen sich beim bloßen Aussprechen etwas Wohliges, Warmes, Schützendes einstellt. Auch das ist ein Gedanke, den zu beleuchten sich anbietet. Frank Widmann, in all seiner Ambivalenz seinen fülligen Modellen gegenüber, kann das durchaus nachvollziehen. Es ist ein Teil der Faszination dieser prallen Körper, denen der Fotograf Widmann visuell nachspürt, weil ihm die Worte fehlen, das Phänomen beschreiben, wie er sagt. „Eine große Faszination liegt wohl darin, das Vertraute in der Andersartigkeit zu finden, den anderen Kosmos im Gewohnten wahrzunehmen“, so Widmann.
Wie dem auch sei: Schönheit und Ästhetik sind, auch was weibliche Formen angeht, immer der Mode unterlegen. Ideale entstehen aus der Zeit heraus und relativieren sich mit ihrem Wandel, niemals sind sie ein Absolutum. Was jedoch Fettleibigkeit angeht, so wäre es wohl ignorant diese glorifizieren zu wollen, denn sie hat nach heutigem Wissen gesundheitliche Konsequenzen. Bei aller Ambivalenz gegenüber diesem anderen Kosmos von Weiblichkeit ist das die einzige Wahrheit, die nicht vom Auge des Betrachters abhängt.

© Angelika Wende


Frank Widmann: www.frank-widmann.de

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