Dienstag, 2. Dezember 2025

Was in Beziehung krank wurde, kann nur in Beziehung heilen

 



 
„Es ist die Beziehung, die heilt, die Beziehung, die heilt, die Beziehung, die heilt – mein professionelles Rosenkranzgebet.“
Dieser Satz stammt aus dem Buch des Psychoanalytikers Irvin D. Yalom mit dem Titel „Die Liebe und ihr Henker“. Ich habe alle seine Bücher gelesen. Jedes einzelne hat mich viel gelehrt über Menschen, ihre Sorgen, ihr Leid, ihre Kämpfe und über die Arbeit mit Menschen. Vieles was er an Fällen beschreibt erkenne ich in meiner eigenen Arbeit wieder. Yalom ist ein außergewöhnlicher Schriftsteller und ein außergewöhnlicher Therapeut, mit unorthodoxen Methoden. Wenn er schreibt: „Es ist die Beziehung, die heilt", meint er damit die Beziehung zwischen Klient und Therapeut. 
 
Man weiß, dass diese Beziehung für den Therapieerfolg von hoher Bedeutung ist
Nur ein sicheres, tragendes Fundament aus Wertschätzung, vorurteilsfreier, nicht bewertender Annahme, Achtsamkeit, Vertrauen, Empathie und gegenseitigem Respekt ermöglicht es dem Klienten, sich vollkommen zu öffnen, intime Details preiszugeben und an schwierigen Themen zu arbeiten. Manche Menschen erfahren sogar zu ersten Mal in ihrem Leben eine gesunde Beziehung, die dann, aufgrund dieser heilsamen Erfahrung der positiven Interaktion, als Modell für künftig gesündere Beziehungen im weiteren Leben dienen kann. Eine starke therapeutische Allianz, die als partnerschaftliche Zusammenarbeit wahrgenomen wird, ist sogar entscheidend für tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen.
 
Irvin D. Yalom betont in seinen Büchern immer wieder die offene und authentische therapeutische Beziehung in der der Therapeut eine Rolle spielt, die der eines guten Freundes ähnelt. Er sieht diese enge Verbindung als zentral für die Überwindung von Problemen an. Im Gegensatz zu dem, was man angehenden Therapeuten in der Interaktion mit Klienten beibringt - nämlich professionelle Distanz zu wahren, plädiert Yalom für Authentizität und Offenheit. Er übt Kritik an der rein „anonymen“ Therapie. Er weicht von der traditionellen, anonymen Rolle des Therapeuten ab und betont den unschätzbaren Wert einer persönlichen, menschlichen Interaktion. Der Therapeut sollte sich öffnen, um eine echte Verbindung zu schaffen. Das kann bedeuten, auch seine eigenen Erfahrungen zu teilen, um dem Patienten zu helfen, seine Probleme aus einer neuen Perspektive zu betrachten. 
Für Yalom ist Therapie Begegnung auf Augenhöhe.
Und so sehe ich das auch. Was in Beziehung krank wurde kann nur in Beziehung heilen und eine Beziehung ist nur dann heilsam, wenn sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen. Der Klient, der vor mir sitzt ist kein Fall, er ist ein Mensch wie ich.
 
 
„Kenne alle Theorien, beherrsche alle Techniken, aber wenn du eine menschliche Seele berührst, sei einfach nur eine weitere menschliche Seele."
C.G.Jung
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de
 
Zur besseren Lesbarkeit habe ich das generische Maskulinum verwendet. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich auf alle Geschlechter.

Sonntag, 30. November 2025

Einen Abschluss machen

 


Am Jahresende tragen viele von uns weit mehr Belastungen mit und in uns herum, als wir uns vielleicht bewusst sind. Das können sein: Längst überfällige Entscheidungen, unerledigte Aufgaben, anhaltende Themen und Probleme, für die wir bisher keine Lösung finden konnten, nicht abgeschlossene To-Dos, Türen, die wir längst schließen sollten und die wir noch immer halb offen stehen lassen.
Diese mentale Last sitzt nicht nur in unserem Geist, sie raubt uns Energie und stresst unser Nervensystem.  Im Dezember neigt sich das Jahr dem Ende zu. Ich finde, ein guter Monat um alles, was unerledigt ist, so gut wie es uns möglich ist, zum Abschluss zu bringen, innezuhalten und uns zu fragen: 

Was will ich nicht ins nächste Jahr mitnehmen?

Was will ich jetzt abschließen?

 

Dazu sind folgende Fragen hilfreich:

 

Was oder wer raubt mir Energie?

Was oder wer bringt mich immer wieder aus dem Gleichgewicht?

Für wen oder was habe ich keine Kapazitäten mehr frei?

 

Welches Projekt macht keinen Sinn mehr, weil es bis jetzt, trotz meiner Anstrengungen, keinen Erfolg hatte?

Welches Ziel, für das ich vergeblich gekämpft habe, darf ich sein lassen?

Was ist die größte Illusion, die ich mir mache?

Worauf warte ich schon zu lange vergeblich?

 

Was oder wer interessiert mich nicht mehr, auch wenn ich denke es oder er müsste mich noch interessieren?

Was will ich nicht mehr tolerieren?

Was kann ich ausmisten, was nicht mehr zu mir und meinem jetzigen Leben passt?

Was oder wem bin ich entwachsen?

Welche Gewohnheiten dienen mir nicht mehr oder schaden mir sogar?

Welche längst überfällige Entscheidung will ich treffen?

Wie würde es sich anfühlen, wenn ich dies oder das sein lasse?

 

Wenn du all diese Fragen beantwortet hast, könntest du dich fragen

Was würde mich jetzt interessieren?

Was könnte ein Funke sein, durch den ich mich wieder lebendiger und leichter fühle?

 

Finden wir heraus, was sich gut für uns anfühlt, und lassen wir den unheilsamen Rest hinter uns. Klarheit entsteht, wenn wir aufhören, uns selbst zu belügen, uns unserer selbst bewusst werden und zielgerichtet zu handeln und dazu gehört auch Dinge endgültig abzuschließen, um den Raum zu öffnen, damit Neues in unser Leben treten kann.

 

 

 

Samstag, 29. November 2025

Jetzt reiß dich doch mal zusammen!

                                                                   Malerei: A.W.


Wenn jemand in einer schweren emotionalen Situation ist, ist eine Phrase wie: „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, weder hilfreich für den Betroffenen, noch zeugt sie vom Versuch Verständnis zu zeigen. Vielmehr zeugt sie von einem Empathiedefizit und weckt den Eindruck, dass die Gefühle des anderen nicht ernst genommen werden.

Jeder Mensch hat seine eigenen Kämpfe und Herausforderungen. Wer vorschnell zu solchen Phrasen greift, neigt dazu den individuellen Kontext und die emotionale Befindlichkeit und Bedürfnisse anderer zu übersehen. Er geht von sich selbst und seinem begrenzten Denkrahmen aus, dem es nicht gelingt über das Eigene hinauszublicken.

Wer sich zusammenreißen soll, hat das in den meisten Fällen längst lange und oft genug getan. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das Zusammenreißen erschöpft, dann, wenn die Seele gewisse Situationen oder emotionale Belastungen, wenn sie lange genug anhalten, nicht mehr ertragen kann. Anstatt Unterstützung anzubieten, Betroffene aufzufordern, sich mal zusammenzureißen, tut nichts für sie, außer, dass es den emotionalen Druck erhöht.

Menschen, die über längere Zeiträume hinweg chronischem Stress oder großen Belastungen ausgesetzt sind, können sich irgendwann nicht mehr zusammenzureißen, sie sind seelisch am Limit. Chronische Belastungen können zu einer Erschöpfung der emotionalen Ressourcen führen, was das "Zusammenreißen" nahezu unmöglich macht. Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist aufgebraucht. Ein Zustand physischer und emotionaler Erschöpfung, der oft durch anhaltenden Stress verursacht wird, kann Menschen daran hindern, ihre Emotionen zu regulieren und Lösungen zu finden. Auch Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, haben oft Schwierigkeiten sich in belastenden Situationen zusammenzureißen.  Bestimmte psychische Erkrankungen, wie Angststörungen oder Depressionen, können die Fähigkeit zur emotionalen Regulation erheblich beeinträchtigen. Menschen mit Zwängen und Angstzuständen fällt es schwer sich selbst zu beruhigen, was das Zusammenreißen erschwert. Bei Depressionen kann es zu einem Gefühl der Antriebslosigkeit und tiefer Hoffnungslosigkeit kommen, was das Zusammenreißen unmöglich macht. Und das sind nur einige Beispiele.
In solchen Fällen ist professionelle Unterstützung notwendig, um die emotionale Stabilität wiederherzustellen.

All das sehen jene, die vom Zusammenreißen sprechen nicht.
Sie gehen von sich selbst aus. Sie argumentieren aus einem Ich heraus, das all das nie erfahren hat und unfähig oder derart ignorant und von Hochmut besselt ist, dass es ihm nicht gelingt über die eigene Erfahrung und das eigene begrenzte Bild von Welt hinauszudenken. Meist haben diese Menschen wenig Kontakt mit unterschiedlichen Lebensrealitäten oder es fehlt ihnen schlicht und einfach der Wille den anderen als das zu sehen, was er ist – ein eigener Mensch mit eigenen Gefühlen und keine Blaupause für das Verhalten, die Entscheidungen, die Strategien, Lösungsmöglichkeiten oder die Entwicklung eines Individuums.

Jetzt reiß dich doch mal zusammen!
Mit Phrasen wie diesen sollte man sich zurückhalten.

 

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Donnerstag, 27. November 2025

Einzigartig und nicht ersetzbar

 



Wenn es dir seelisch nicht gut, ist die vorweihnachtlichen Zeit nicht einfach zu ertragen. Wenn du einen Verlust erlitten hast, kann diese Jahreszeit deine Trauer verstärken. Die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, die vertrauten Rituale, die Tage an denen Freude und Leichtigkeit zu deinem Leben gehörte. All die Echos von dem, was verloren ist, machen das Herz schwer. Da ist Sehnsucht, Traurigkeit, Einsamkeit, Angst, Wut, Erschöpfung ja vielleicht sogar Scham darüber, dass du dich nicht dankbar fühlst, für das was noch da ist, trotz dem Verlust. Du könntest sich von den Menschen getrennt fühlen, die dich nicht verstehen oder deine Gefühle nicht nachempfinden können. Du könntest dich noch mehr in dich selbst zurückziehen, weil du dich nicht verbunden fühlst oder weil du denkst, so wie du dich fühlst mag keiner in deiner Gesellschaft sein. Du verkriechst dich vielleicht immer öfter drinnen während draußen die Menschen auf den Weihnachtsmärkten feiern. Du fürchtest dich vielleicht vor den Feiertagen und fühlst dich wie ein Alien, der mit all dem nichts mehr zu tun hat. Dir wird wieder schmerzhaft klar: Das was war ist vorbei und mit dem was war, ist ein Teil von dir verschwunden. Und so ist es auch.

Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, ist es nicht nur nicht der Verlust dieses Menschen, der uns zutiefst erschüttert. Wir verlieren den Teil in uns, den nur dieser Mensch in uns zum Leben erwecken konnte und der nun verschwunden ist. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird uns bewusst, wie wahr das ist. Es gab Seiten an uns, die nur dieser Mensch kannte. Seiten, die nur dieser Mensch aus uns herausholte. Seiten an uns, die wir nur diesem Menschen gegenüber zeigen konnten. Seiten an uns, die sich nur im Raum des vollkommenen Vertrautseins entfalten konnten. Wenn dieser Mensch nicht mehr da ist, verstummen diese Seiten in uns. Wir vermissen nicht nur diesen Menschen, sondern auch den Menschen, der wir waren, an seiner Seite. Und wir spüren es in den kleinen Momenten. Wenn wir Worte nicht mehr sagen, die wir gesagt haben, wenn wir Gedanken für uns behalten, die wir in Worte fassen konnten, wenn wir Gefühle unterdrücken, die wir offenbart haben, wenn wir Erinnerungen nicht mehr teilen können. Wir vermissen den Teil in uns, der sich nur mit diesem Menschen zeigen und lebendig sein konnte. Dieser Teil unserer Selbst ist mit diesem Menschen verloren. Wir vermissen nicht nur diesen Menschen, wir vermissen Teile unserer selbst. Und wir wissen nicht wie wir sie wieder zum Leben erwecken können.
Und vielleicht ist das auch gar nicht die Aufgabe.
Vielleicht ist es okay, sie dort zu lassen, wo sie einst waren.
In liebevoller Erinnerung an diesen Menschen und an uns, die wir mit ihm waren. Einzigartig und nicht ersetzbar.

Es ist okay. Nichts was mit deiner Trauer einhergeht bedeutet, dass du in dieser Zeit etwas falsch machst. Es gibt keinen richtigen Weg, die vorweihnachtliche Zeit zu erleben, sei einfach ehrlich, mitfühlend und gütig zu dir selbst. Ich weiß, einfach ist es nicht. 

 

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de
 

Mittwoch, 26. November 2025

Das Glück in der Einsamkeit

 



Heute morgen lese ich in Facebook: Immer mehr Menschen sind alleine glücklich. Sie wollen keine Beziehung mehr. Sie feiern ihr Alleinsein, manche romantisieren sogar die Einsamkeit, wobei die Meisten das eine mit dem anderen verwechseln.
Was ich in der Praxis täglich erlebe spricht andere Worte. Immer mehr Menschen, unabhängig vom Alter, vereinzeln und immer mehr Menschen leiden unter schmerzhafter Einsamkeit.
Die Zahl der Singlehaushalte hingegen steigt. Dies untermauert oben genannte Behauptung. Aber nur insofern, dass immer mehr Menschen allein leben. Ob sie das feiern, wage ich zu bezweifeln. Fakt ist: Viele Menschen werden immer beziehungsunfähiger. Die einen weil sie zu viele Enttäuschungen erlebt haben und sich vor neuen Verletzungen schützen, die anderen weil ihnen Freiheit, Selbstverwirklichung und Erfolg im Leben wichtiger sind als eine Beziehung.
Wenn ich beides genauer betrachte und beide Abwehrformen in ihrer Entstehung zurückverfolge, stelle ich fest, dass sie letztlich einem Bedürfnis nach Liebe entspringen, das sich gebrochen hat an den Erfahrungen von Enttäuschung, Zurückweisung, Schmerz, Trennung, Verlust. Angesichts dessen flüchten die einen in unbrauchbare Lebensphilosophien - was bleibt noch anderes übrig als die Einsamkeit in den Himmel zu loben? Während die anderen die Flucht nach vorne in die grandiose Besonderheit und Vereinzelung auf Kosten liebevoller Beziehung antreten. Phantasien der eigenen Großartigkeit sollen die Einsamkeit kompensieren. Ob diese Strategien auf Dauer erfüllend sind ist zu bezweifeln. Möglicherweise könnte das Glück in der Einsamkeit immer mickriger ausfallen.

Dienstag, 25. November 2025

Man kann nichts verändern, was man nicht akzeptiert und was nicht nahe genug ist.


                                                          Art: Louis Bourgeois


Jetzt arbeite ich seit Monaten an mir selbst und mir geht es schlechter, sagt ein Klient. Ich höre an dieser Stelle auf. Er will damit demonstrieren: Schauen Sie, was dabei herauskommt, wenn ich mich wirklich auf alles einlasse, was ich verdrängt habe. Was die Frage impliziert: War es nicht besser zu verdrängen?

 

War es das?

Der Klient hat sich gewöhnlich damit begnügt sich zu beklagen, vor seinen Ängsten wegzulaufen und seine Probleme mit Alkohol zu betäuben.

Indem er die innere Arbeit macht, muss er jetzt den Mut und die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber aufbringen seine Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen seiner Probleme zu richten. Seine Probleme müssten, um sie zu lösen, nicht abgelehnt, sondern ein würdiges Gegenüber werden aus dem er Wertvolles schöpfen kann damit es ihm mit der Zeit besser geht. All das Verdrängte, alle Selbstlügen, die so lange unterdrückt wurden, brauchen Kontakt, sie brauchen Nähe, Mitgefühl und Liebe. Um dahin zu gelangen braucht es Bereitschaft auch Unangenehmes auszuhalten und die Einsicht, dass das, was jahrzehntelang im Argen lag, nicht in kurzer Zeit anders wird und dass es mühsam ist all das zu be-und zu verarbeiten.

 

Wann immer wir uns lost oder blockiert fühlen, sind wir im Widerstand gegen das Leben, das eine neue Version von uns verlangt, weil die alte Version nicht mehr unserer Realität entspricht.  Wir sind im Widerstand gegen eine tiefe innere Wahrheit, die wir längst wissen, aber nicht sehen wollen und schon gar nicht akzeptieren wollen.



Der Klient in der Mitte seiner Sechziger meint, er müsse unbedingt noch etwas Großes erreichen. Er hat Ideen, er macht Pläne und Konzepte, aber er kommt nicht ins Handeln. Immer wenn es an die Umsetzung geht ist er blockiert. Er tut dann nichts und macht weiter Pläne, ständig getrieben von dem Gedanken: Ich muss noch etwas Großes erreichen, bevor meine Zeit abläuft.

Dabei ignoriert er, dass es ihm an Vielem fehlt um das "Große" umzusetzen. Er ignoriert, dass er eigentlich gar nicht die Disziplin, die emotionale Stabilität und die Ausdauer hat um kontinuierlich dran zu bleiben.

Er ignoriert, dass er wenig Chancen mit seinem Projekt hat, weil der Markt übersättigt ist und es viele Jüngere in diesem Bereich gibt, die sehr erfolgreich sind.

Er weiß im Grunde – es ist für das „Große“ zu spät. 

Er will es aber nicht sehen. Er drückt sich vor der Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgabe. Er will nicht (ein) sehen, dass das Leben jetzt etwas anderes von ihm will – nämlich sich sich selbst zuzuwenden und das „Große“ in sich selbst zu entdecken, um innere Ruhe, Zufriedenheit, Wertschätzung für sich selbst und Gelassenheit zu finden. Er jagt einer Illusion hinterher, die mit der Version seiner selbst, die er zu diesem Zeitpunkt seines Lebens ist, nicht kompatibel ist. Er will nicht wahrhaben, dass diese Lebensphase eine neue Version seiner selbst von ihm verlangt. Er verdrängt eine tiefe innere Wahrheit, nämlich, dass er im Tiefsten sein Leben als sinnlos und unerfüllt empfindet. Er weicht aus, indem er sich auf etwas „Großes“ im Außen fixiert, was seinem Leben dann noch einmal Sinn geben soll. Das wahre Problem ist seine Angst ein misslungenes Leben gelebt zu haben. Die Aufgabe ist - den Weg nach Innen zu gehen und sich mit sich selbst und seinem Leben zu versöhnen und das Jetzt zu akzeptieren, um dann einen Weg zu gehen, der dem Menschen entspricht, der er in dieser Lebensphase ist. Seine Herausforderung wäre, würde er sie annehmen: Die Chance zur Entdeckung neuer Entwicklungs- und Erfahrungsufer, unabhängig davon, sich selbst und anderen "Großes" beweisen zu wollen. Er aber geht in den Widerstand und alles bleibt beim Alten.

 

Die Aufgabe ist nie unklar, sie ist nur unangenehm.

Solange die Probleme und deren Ursachen, die durch die innere Arbeit ans Licht kommen, abgelehnt oder als „verschlimmert“ beklagt werden, sind wir im Widerstand. So gelingt weder die Versöhnung mit dem Verdrängten noch dessen Integration. Mit anderen Worten: Es braucht eine eine gewisse Toleranz und im besten Falle: Akzeptanz, Mitgefühl und Liebe für unser Leiden.

 

Wir müssen aufhören wegzulaufen vor dem, was wir nicht sehen wollen.

Es ist normal, dass sich durch jede Art der inneren Arbeit belastende Erinnerungen, Symptome und Wahrheiten hervordrängen, die früher nicht wahrgenommen, bzw. verdrängt, abgewehrt oder abgespalten wurden und dass innere und äußere Konflikte verschärft werden. Das ist eine vorübergehende Verschlechterung, die es durchzustehen gilt. Nur brechen viele genau an dieser Stelle die Arbeit an sich selbst ab. Sie gehen, bewusst oder unbewusst, in den Widerstand und wenden sich wieder den vertrauten alten Überlebensmustern und Gewohnheiten zu – eben auch der Verdrängung, der Abspaltung, der Betäubung und der Selbstlüge. Mit dem Ergebnis: Die ganze Arbeit hat nichts gebracht, außer der fälschlichen Annahme: Es geht mir schlechter damit.

 

Man kann nichts verändern, was man nicht akzeptiert und was nicht nahe genug ist.

Der Widerstand aber scheut sich vor wahrer Nähe mit sich selbst.

 

 

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Montag, 24. November 2025

Das Leben ist keine Spirale, die sich unaufhörlich nach oben schraubt

 


Das Leben ist keine Spirale, die sich unaufhörlich nach oben schraubt.

Krankheit, Einsamkeit, Alter, Sterben und der Tod zerstören die Illusion einer lebenslangen Aufwärtsbewegung und machen mit einem Mal die immer verdrängte Verletzlichkeit der Existenz bewusst. Das beharrlich Verleugnete, weil latent Gefürchtete, mit dem sich der Mensch nicht auseinandergesetzt hat und dem er dann nichts entgegenzusetzen hat, fordert früher oder später seinen Tribut. Die Realität des Todes lässt sich auf die Dauer nicht verleugnen und ereilt uns schließlich doch. Die Abwehrstrategie der Besonderheit und Grandiosität funktioniert nicht mehr – das idealisierte Selbst und seine illusionären Wunschvorstellungen zerfallen.

Sonntag, 23. November 2025

Manifestationen

 

                                                                     Foto: www

 

Du versuchst durch Manifestationen etwas in dein Leben zu holen, was dir fehlt, was du nicht schaffst oder aus eigener Kraft nicht erreichst.
Du setzt dich hin und manifestierst. Und du stellst fest – es ändert sich nichts. Du bekommst nicht, was du dir wünscht, egal wie oft und wie lange du manifestierst.
Warum ist das so?

Weil Manifestation nichts damit zu tun hat, sich hinzusetzen und Wünsche zu beschwören. Sie hat nichts damit zu, etwas durch Gedanken oder Wünsche anzuziehen. Manifestation entspringt auch nicht dem good will des Universums.
Manifestation entsteht nicht durch Manipulation oder durch eine Technik.
Manifestation ist die innere Ausrichtung auf die Wahrheit deines Herzens.
Deshalb musst du dein Herz fühlen, es öffnen und das Falsche loslassen. Dann kann sich deine Wahrheit offenbaren.
In dem Moment, in dem du Ja zu dem sagst, was für dein Herz wahr ist, sagt das Leben Ja zu dir.

Donnerstag, 20. November 2025

Aus der Praxis: Kognitive Verzerrungen

 



Eingefahrene Denkmuster und innere Überzeugungen über uns selbst, andere und das Leben, bilden sich in der Kindheit. Diese Denkmuster und Überzeugungen führen zu Gefühlen, die wir verinnerlichen und abspeichern. Sie werden zu Automatismen, die wir nicht mehr bewusst wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung passt sich damit unbewusst den eigenen inneren Überzeugungen an. Diese werden zu einem Teil unserer Identität.
Wenn diese Denkmuster und Überzeugungen zu selbstschädigenden belastenden Gedanken und Gefühlen führen, nennt man das Kognitive Verzerrungen.
Kognitive Verzerrungen sind systematische Denk- und Wahrnehmungsfehler und verzerrte, fehlerhafte Annahmen, die zu irrationalen oder falschen Urteilen und Entscheidungen führen können. Sie beeinflussen, wie wir die Dinge erinnern, bewerten, verarbeiten und auf sie reagieren. Sie führen zudem dazu, dass wir unbewusst nach allem suchen, alles so wahrnehmen und alles so interpretieren, dass unsere inneren Überzeugungen bestätigt werden. Wir sehen und selbst und die Welt quasi durch einen Filter.
In der Psychologie nennt man das Confirmation Bias, zu deutsch: Bestätigungsfehler, eine selektive Aufmerksamkeit, ein Trugschluss, der dazu führt, dass wir das, was wir ohnehin schon glauben und annehmen, bekräftigt wissen wollen, damit es in unser Selbst- und Weltbild passt.
Kurz: Es geschieht nach unserem Glauben.
 
Kognitive Verzerrungen schaden uns besonders dann, wenn wir eine verzerrte Wahrnehmung unserer selbst haben. Sie verzerren unser Selbstbild und sie verzerren die Realität.
Um uns unsere kognitiven Verzerrungen bewusst zu machen, ist es hilfreich sie zu identifizieren. Und dann zu überprüfen, ob unsere Bewertungen und Überzeugungen heute noch zu uns und unserem Leben passen oder ob sie der Vergangenheit angehören. Das finden wir heraus, wenn wir uns selbst hinterfragen und überprüfen was wirklich ist – also indem wir uns unser Leben genau anschauen und es neu bewerten.
Ein kurzes Beispiel:
Eine Klientin denkt, ich bin alleine nicht lebensfähig. Sie sucht verzweifelt einen Partner und leidet jeden Tag, weil sie keinen findet. Ihr Leben erscheint ihr ohne eine Beziehung misslungen und sinnlos.
Ich frage sie: Stimmt diese Bewertung?
Wenn sie ohne diese Verzerrung auf ihr Leben blickt und die Realität überprüft, stellt sie fest, sie wie gut sie es meistert. Sie hat einen guten Job, Freunde und ein erfüllendes Hobby.
Wahr ist: Sie ist alleine durchaus lebensfähig.
Jetzt kann sie eine neue Bewertung abgeben.
Das zu verinnerlichen wird dauern, aber es ist der Anfang, um sie aus der kognitiven Verzerrung zu befreien.
 
Es macht Sinn uns aktiv damit zu beschäftigen, ob nicht genau das Gegenteil von dem, was wir glauben, wahr sein könnte. 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Montag, 17. November 2025

Der Absturz von Éduard Louis

 



„Dieses Buch ist der Abschluss eines Familienfreskos, das vor zehn Jahren mit „Das Ende von Eddy“ begonnen hat", steht auf dem Buchrücken von Éduard Louis neuester Erzählung „Der Absturz.“
Es ist der letzte Teil der Geschichte einer zerrütteten Familie, in der Alkohol, emotionale und körperliche und Gewalt an der Tagesordnung sind. Es ist die Geschichte über das Leben und den Tod seines Bruders, den Louis gehasst hat, den er zehn Jahre nicht gesehen hat, dessen Tod ihn gleichgültig lässt, ihn aber dazu bringt über den Bruder nachzudenken, und zu analysieren, was ihn zu dem zerstörten Menschen gemacht hat, der er war. Es ist eine Geschichte, die mich vom ersten Moment an nicht mehr losließ. Sie ist so unfassbar tragisch, zutiefst traurig und erschütternd, dass sie kaum zu verkraften ist. 
 
Louis stellt Fragen, die kaum zu beantworten sind, Fragen, die ein menschliches Leid fassbar machen sollen, für das es kaum Worte gibt. Louis findet sie und sie sitzen, sie treffen mitten ins Herz. Kühl, distanziert, intelligent, immer wieder die Psychologie einbeziehend, in einer anspruchsvollen Sprache, geht der dreiunddreißigjährige Autor auf Spurensuche, zieht den Leser in menschliche Abgründe, entblößt nicht nur den Bruder und die Familie, sondern schonungslos auch sich selbst.
Absturz“ ist ein Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte, ein Buch das unter die Haut geht und weh tut. 
 
„Manchmal habe ich das Gefühl die Geschichte meines Bruders ist die Geschichte einer zur Welt gekommen und immer wieder aufgerissenen Wunde.
Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben meines Bruders war nur ein Werkzeug im Dienst seiner Wunde, und die Frage lautet nicht, wie die Wunde entstanden ist, sondern warum die Welt ihm so viele Gelegenheiten gegeben hat, sie zu vertiefen.“

Freitag, 14. November 2025

Der "Stumme Zeuge"

 


Wenn einem Kind etwas Traumatisches passiert und die Eltern sagen: „Das ist nicht wahr, du bildest dir das nur ein!“, wenn sie ihm nicht glauben, ist das Kind, um emotional zu überleben, gezwungen zwischen der Wahrheit seiner Erfahrung und der Bindung zu den Eltern, von denen es abhängig ist, zu wählen. Weil Bindung für das Kind sein emotionales Überleben bedeutet, wird es seine eigene Wahrheit opfern.
Das ist der Anfang von Selbstzweifeln und Selbstverlust.
Das ist der Anfang von Schuld und Scham im Leben des Kindes.

Es kommt zur inneren Spaltung.
Ein innerer Anteil weiß, es ist etwas Traumatisches passiert, ein anderer innerer Anteil sagt, es ist nichts Schlimmes passiert.
Das Nervensystem weiß, es ist etwas Schlimmes passiert.
Der Verstand sagt, das hast du dir eingebildet.

Diese innere Spaltung führt zu einer tiefen inneren Unsicherheit und Zerissenheit. Sie führt zu einem Gefühl von: Was ich fühle ist nicht wahr. Und später zu: Ich kann meiner Wahrnehmung, meiner Erinnerung und meinen Gefühlen nicht glauben und nicht trauen.
Ich kann mir selbst nicht vertrauen.
Das führt zu Selbstverlust.
Das führt zu einer Spaltung der Seele und zu einer tiefen inneren Einsamkeit. Das Kind und später der Erwachsene, ist nicht glaubwürdig, nicht für die anderen und nicht für sich selbst.  

Was diese Menschen brauchen, ist das, was Alice Miller den „Stummen Zeugen“ nannte. Der stumme Zeuge ist Teil der Selbstfindung, bei der der Mensch sich von alten Traumata löst und sein authentisches Selbst wiederentdeckt. Der stumme Zeuge ist Jemand, der ihm achtsam und wertschätzend zuhört und ihm Glauben schenkt. 

Glaubwürdig zu sein ist Teil des Heilungsprozesses.
Wenn jemand endlich sagt: Ja, das ist wirklich passiert. Du hattest Recht, Angst zu haben, wütend oder hilflos zu sein, dann können sich Gefühl und Tatsache wieder verbinden. Die Seele kann sich entspannen, weil Realität und Gefühl übereinstimmen.
Endlich glaubwürdig zu sein durchbricht die innere Einsamkeit. Es durchbricht Schuld und Scham.


Angelika Wende
Kontakt aw@wende-praxis.de


Donnerstag, 13. November 2025

Aus der Praxis: Compassion Collapse - Mitgefühlszusammenbruch

 


"Die Empathie unter den Menschen geht immer mehr verloren, sagte neulich ein Klient zu mir. Das ist erschreckend." Ich gebe ihm absolut Recht, auch ich nehme das so wahr, aber es hat Gründe.
 
Menschen haben seit jeher gelitten hat und Leid gibt es in jedem Leben. Heute erleben wir, aufgrund der Medien, das Leid weltweit hautnah mit. Nun könnte man meinen, dass unser Mitgefühl mit zunehmendem Leid wächst. Dem ist nicht so. Studien des Labors für Empathie und Moralpsychologie an der Penn State University, zeigen das Gegenteil: Das Mitgefühl nimmt ab. Klingt paradox. Sollten wir nicht mehr Mitgefühl empfinden, je mehr das Leid zunimmt? „Gerade dann, wenn es am nötigsten erscheint, ist das Mitgefühl am geringsten“, sagt Dr. Daryl Cameron, Leiter des Labors für Empathie und Moralpsychologie an der Penn State University.
 
Compassion Fatigue bis hin zum Compassion Collapse nennt man das psychologische Phänomen, bei dem die Fähigkeit der Menschen, Empathie zu empfinden und mitfühlend zu handeln, mit zunehmendem Ausmaß des Leids, mit dem sie konfrontiert werden, abnimmt.
Warum ist das so?
Die Größe und das Ausmaß des Leids ist irgendwann emotional so überwältigend, dass wir unbewusst unser Mitgefühl als Selbstschutzmechanismus reduzieren. Mit anderen Worten: Die Angst emotional vom Leid anderer überwältigt zu werden, treibt uns zu einer selbstschützenden Reaktion der emotionalen und affektiven Begrenzung. Ein zweiter Aspekt ist die Überzeugung, dass ab einem gewissen Ausmaß an Leid unser Handeln keinen Unterschied macht. Dies führt dann, bewusst oder unbewusst, zu der Annahme, dass es sinnlos ist, den Schmerz anderer zu mitfühlen, wenn wir sowieso nichts tun können, um ihre Lage zu verändern. 
 
Wir Menschen sind endliche Wesen mit begrenzten Ressourcen. Wenn wir zu viel mitfühlen sind unsere eigenen Ressourcen irgendwann erschöpft.  
Das gilt auch dann, wenn wir ständig der seelische Mülleimer anderer sind. Sind wir dauerhaft mit den Problemen, den destruktiven Gefühlen und dem Leid anderer konfrontiert, kommt es mit der Zeit zu einem emotionalen Overload. Die Psyche schaltet, weil es ihr zu viel wird, das emotionale Mitschwingen ab. Das Ich ist erschöpft vom Mitgefühl für andere. Die Empathie erschöpft sich, sie kollabiert und wird dissoziiert. Dieser psychologische Schutzmechanismus hat nichts mit emotionaler Kälte zu tun, sondern er schützt uns davor, uns selbst im Leid anderer zu verlieren.

Wir alle laufen Gefahr, dass unser Mitgefühl nachlässt. Was können wir tun, damit es soweit nicht kommt und um unsere Empathiefähigkeit und unser Mitgefühl zu bewahren?

 

1.   Selbstmitgefühl praktizieren. Make safe number one first. Du kannst nur für andere da sein, wenn du selbst okay bist. Ein leeres Fass kann kein Wasser geben. Ein Selbst ohne Selbstmitgefühl ist im Dauerstress. In der Praxis des Mitgefühls und Selbstmitgefühls lernen wir, den inneren Kampf zu beenden und freundlich und mitfühlend zu uns selbst zu sein. Das ist die Basis, um freundlich und mitfühlend anderen gegenüber sein zu können.

 

2.  Selbstfürsorge nicht vergessen. Dazu gehört auch nicht zu viel unheilsame Nachrichten konsumieren. Der permanente Nachrichtenstrom führt dazu, dass wir uns von den Informationen überwältigen lassen. Angesichts des Leidens in der Welt kommt es zu einem Gefühl der emotionalen Überflutung, der Hilflosigkeit und der Resignation, so dass wir, wie oben beschrieben, als Selbstschutz unser Mitgefühl irgendwann abspalten.

 

3.  Uns nicht mit Menschen umgeben, die unser Mitgefühl benutzen um uns für ihre Zwecken zu manipulieren.

 

4.  Einen achtsamen Weg zum Umgang mit Mitgefühl finden. Dazu gehört insbesondere unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen, sie zuzulassen und sie ernst zu nehmen. Dazu gehört unsere Grenzen wahrzunehmen und sie zu achten. Und sie auch zu setzen, wenn es uns zu viel wird.

 

5.  Erkennen wo wir aufhören und wo der andere anfängt. Was bedeutet: uns nicht in Mitleid zu verstricken. Uns fragen: Was gehört zu mir? Was gehört nicht zu mir?

 

6.  Rückverbindung mit uns selbst herstellen. Kontemplative Praktiken wie Atmen, Meditieren, in die Stille gehen. Diese Praktiken stärken nicht nur unser Selbstmitgefühl, sondern auch unser Mitgefühl.  

 

7.  Rituale schaffen, die uns emotional entlasten und uns Kraft schenken.

 

8.  Selbstregulation als Skill nutzen, wenn uns alles zu viel wird.

 

9.  Uns, bevor wir uns für das Leid anderer verantwortlich fühlen und für jeden den Retter spielen wollen, klar darüber werden, ob unsere Hilfe und unser Handeln gewünscht ist, ob es Bedeutung hat und ob es wirksam ist. Uns klar darüber werden, ob unsere Hilfe einen Unterschied machen wird. Uns fragen: Verbessert sich damit etwas?

 

Wenn wir glauben, die Welt oder irgend jemanden retten oder verbessern zu können, überschätzen wir uns selbst. Auch professionelle Helfer kommen irgendwann an ihre Grenzen, wenn sie ihre Grenzen nicht schützen oder wenn sie sich selbst überschätzen. Auch wir, die professionell helfen, dürfen lernen, dass es wichtig ist, uns auf das zu fokussieren, was wir wirklich tun können, was machbar und was wirksam ist. In diesem Bewusstsein kann unsere Empathie und unser Mitgefühl freier fließen.


Ein Mensch ist ein Teil des Ganzen, das wir ›Universum‹ nennen: ein Teil, der durch Zeit und Raum begrenzt ist. Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Übrigen Getrenntes – eine Art optische Täuschung seines Bewusstseins. Diese Täuschung ist ein Gefängnis für uns, das uns auf unsere persönlichen Bedürfnisse und die Zuneigung zu einigen wenigen Menschen beschränkt, die uns nahe sind. Unsere Aufgabe ist es, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis des Mitgefühls erweitern und alle lebenden Wesen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umarmen.  

Albert Einstein

Mittwoch, 12. November 2025

Aus der Praxis: Empathie und Mitgefühl

 

                                                              Malerei: A.Wende

 

Carl Rogers sagte einmal, Empathie ist das wertvollste Geschenk, das man einem anderen machen kann. Empathie zeigen bedeutet uns einfühlen und das wiederum bedeutet im besten Falle: nicht, zu werten, zu urteilen, zu korrigieren oder zu erklären. Empathie bedeutet, in die Welt eines anderen einzutreten und seine Erfahrungen so zu spüren, als ob es die eigenen, ohne dabei das „als ob“ zu verlieren. Empathie ist dann gegeben, wenn sie mit Kongruenz und einer tiefen Wertschätzung des Menschen ohne Bewertung, verbunden ist. Wenn das gelingt, fühlen sich Menschen gesehen, gehört, wahrgenommen und verstanden. Dann fühlen sie sicher genug, um sich zu öffnen.  

 

Empathie ist aber nur die halbe Miete. 

Empathie bedeutet allein wertfreies Einfühlen - ich kann mich einfühlen, aber Einfühlen allein hilft nicht weiter. Was weiter hilft, ist der Impuls der nach dem Einfühlen kommt: Mitgefühl. Mitgefühl geht über bloße Empathie hinaus – sie trägt in sich den Wunsch zu helfen – uns selbst und anderen.

 

Montag, 10. November 2025

Sicherheit

 


Sicherheit ist ein psychologisches Basisgefühl. Der Wunsch nach Sicherheit ist als existenzielles Bedürfnis tief in uns Menschen verankert. Der Wunsch zu wissen ist der Wunsch nach Sicherheit. Wissen schafft das Gefühl von Sicherheit. Je mehr wir über etwas wissen, desto besser können wir uns selbst, unsere Umgebung, Situationen und andere Menschen einschätzen. Das Gefühl von Sicherheit ist ein entscheidender Faktor, wenn es um unser emotionales Wohlbefinden und unsere emotionale Stabilität geht. Je unsicherer ein Mensch sich fühlt, desto mehr Angst hat er. Sein Nervensystem ist ständig übererregt, er verliert die Klarheit – er wird unsicher im Denken, Fühlen und Handeln. Er trifft keine sicheren Entscheidungen. Eine Traumafolge ist zum Beispiel der ständige Versuch Sicherheit herzustellen, nachdem ein maximaler Kontrollverlust erlebt wurde. Ständige Unsicherheit hat eine Vielzahl negativer Auswirkungen, darunter Stress, Angst und Zwänge, Depressionen, Sucht. 
 
Jeder Mensch braucht einen sicheren Raum, auch und besonders in sich selbst.
Sicherheit gibt uns das Gefühl von Halt, dass das Leben gestaltbar und beeinflussbar ist und die Dinge weitgehend berechenbar und verlässlich. Sicherheit stärkt das Gefühl von Vertrauen. Sie ist die Basis um überhaupt zu vertrauen – in uns selbst und in andere, in Beziehungen ebenso wie im kollektiven Miteinander. Sicherheit ist für die politische und soziale Stabilität jeder Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Sicherheit hängt mit Kohärenz zusammen. Kohärenz ist die subjektive Einschätzung, dass das Leben verständlich, handhabbar und sinnvoll ist. Ein starkes Kohärenzgefühl wiederum schafft das Gefühl von Sicherheit.
Ohne das Gefühl von Sicherheit kommt Bodenlosigkeit.
Die Seele trudelt im leeren Raum.
 
Es ist wichtig das Gefühl von Sicherheit in uns selbst zu finden.
Nur wir selbst können uns Sicherheit und Klarheit geben. Je weniger zerrissen und innerlich ambivalent wir sind, je gefestigter wir in uns selbst sind, je mehr wir innerlich in Balance und mit uns selbst im Reinen sind, umso resilienter und umso flexibler sind wir, wenn die äußere Sicherheit zerbröselt. Je mehr wir in uns selbst angekommen sind, desto ruhiger wird es in unserem Kopf, umso selbstsicherer und umso klarer sind wir, umso besser können wir mit Unsicherheiten umgehen, uns ihnen stellen und unser Leben so gestalten, dass wir auch in unsicheren Zeiten den Halt nicht verlieren. 
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de