Sonntag, 28. September 2014

Gedankensplitter

Jede Art von Erziehung bedarf irgendwann der Entziehung.

Gedankensplitter





Trotz ist Gegenbewegung zu dem, was man uns anerziehen wollte.
Auch wenn er damals Sinn machte, steht er uns heute bei so manchem, was für uns gut wäre, im Wege.

Freitag, 26. September 2014

Gedankensplitter




Seelenfrieden bedeutet nicht, dass uns die Enttäuschungen, Sorgen und Probleme des Lebens verschonen oder nichts mehr ausmachen. Seelenfrieden finden wir dann, wenn wir mit Leib, Herz, Geist und Seele in unserem Leben präsent sind, uns selbst und anderen aufmerksam begegnen und offen sind für das, was das Leben uns lehren will.

Mittwoch, 24. September 2014

Unterdrückte Gefühle



Meine Mutter hat alles geschluckt, sie hat ihren Frust und ihren Kummer still in sich hineingefressen. Nach Außen hat sie so getan, als sei die Welt in Ordnung.

Sie sah mich an. In ihren Augen lag eine traurige Wut.

Wissen sie, sie hat immer alles schön gemacht, sich um den Haushalt gekümmert und ihren Garten gepflegt. Sie hat sich über jede Blume gefreut und über jedes Tierchen. Über mich hat sie sich nie gefreut. Sie hat so getan, als sei die Welt in Ordnung, aber ihr Gesicht sprach von etwas anderem, es sprach von Kummer und Wut. Ich hörte es, sah es. Wenn ich sie fragte, Mama, was ist mit dir?, lächelte sie krampfhaft: Nichts, was soll ich denn haben, das bildest du dir ein! Dann nahm sie den Hund hoch, drückte ihn fest an sich und sagte: Nicht wahr, mein Liebling, alles ist gut.

Dieses künstliche „alles ist gut Getue“, wie ich es hasste.  Dieses, „das bildest du dir ein“, es hat mich so ohnmächtig gemacht.

Sie weinte.

Sprechen sie weiter, sagte ich.

Ich fühlte mich in der Gegenwart meiner Mutter niemals sicher. Ich sah, dass es ihr nicht gut ging, ich sah es in ihrem Gesicht. Ihr Gesicht strafte ihre Worte Lügen, in ihrem Gesicht stand groß geschrieben: Ich leide. Ich hätte ihr so gern geholfen, wenn sie doch nur geredet hätte, ich hätte ihr so gerne zugehört, sie in den Arm genommen und sie froh gemacht. Sie stieß mich weg. Ich fühlte mich wie ein räudiger Hund, während sie den richtigen Hund umarmte und zu ihrem Tröster machte. Ich war einsam, so abgetrennt von der eigenen Mutter.  

Sie sah mich an: Verstehen Sie das?

Ja, das verstehe ich, antwortete ich. Wenn ein Erwachsener ständig mit kummervollem oder ärgerlichen Gesicht herumläuft und sich nicht erklärt, fühlt sich das Kind schuldig, es glaubt es ist verantwortlich für diesen Kummer, es denkt es macht alles falsch, weil es ihm nicht gelingt die Mutter froh zu machen. Am Ende ist das Kind davon überzeugt, dass es selbst falsch ist.

Ja, so habe ich mich gefühlt. Ich dachte, ich bin schuld am Unglück meiner Mutter. Wäre ich nicht gewesen, hätte sie meinen Vater nicht ertragen müssen. Er war böse, er schrie mich oft an: Du bist zu nichts nütze, du bist an allem schuld. Das war schlimm, aber die Leidensmine meiner Mutter war schlimmer als alles, was mir mein Vater in seiner Wut entgegenwarf. Seine Wut war laut, aber mit dieser Wut konnte ich umgehen, sie bewirkte meinen Trotz. Dieser Trotz ist mein Motor, der mich bis heute hat überleben lassen. Die stumme Wut meiner Mutter war subtiler, weil sie allgegenwärtig war. Sie verrauchte nicht wie die explosive Wut meines Vaters. Sie vergiftete unsere Familie. Es gab wenig Freude. Diese stille Wut spüre ich in so vielen Menschen.

Ihr inneres Kind spürt sie, weil es sie so gut kennt, und deshalb haben sie eine Resonanz  zur unterdrückten Wut anderer, weil sie diese Wut in sich tragen. In ihr lebt die Wunde ihrer Kindheit.

Sie nickte: Ich spüre diese Wut schon sehr lange, aber sie ist gewachsen. Sie wird immer größer.

Diese Wut versetzt sie in das alte Lebensgefühl, das in ihrer Familie herrschte. Sie fühlen sich noch immer ohnmächtig, das macht sie wütend, sagte ich.

Ja, es ist diese Ohnmacht, diese Hilflosigkeit an der mein Trotz zerbricht, mein Lebenswille, meine Kraft. Ich bin müde. Ich kann es nicht lösen, meine Mutter ist jetzt alt und ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Ich vermisse sie, aber ich weiß, wenn ich zu ihr gehe wird sie mich wieder wegstoßen.

Sie können sich davon lösen, antwortete ich.

Aber wie?

Ihre Mutter wollte sich nicht von ihnen helfen lassen, sie haben alles versucht und weil es ihnen nicht gelungen ist, sind sie wütend auf sich selbst. Aber es lag damals nicht in meiner Macht und es liegt heute nicht in ihrer Macht ihre Mutter zu retten. Sie können das Leid ihrer Mutter nicht ändern, sie können die Vergangenheit nicht ändern. Sie können keinen anderen von seiner Wut befreien. Sie können die unterdrückten Gefühle anderer nicht für andere ausdrücken, auch wenn sie es stellvertretend für sie versuchen. Bleiben sie bei ihrer eigenen Wut.

Sie schüttelte den Kopf: Aber meine Wut macht meine Wut auf meine alte und neue Ohnmacht so groß, dass ich das Gefühl habe langsam zu explodieren.

Ich verstehe sie gut, antwortete ich, aber sie müssen erkennen, sie haben keine Macht über andere Menschen und schon gar nicht über deren Gefühle. Jeder Versuch läuft ins Leere, wie damals bei ihrer Mutter.

Sie weinte. Am Ende habe ich sie hassen müssen um nicht an ihrer stummen Wut und an meiner Hilflosigkeit zu zerbrechen.

Aber heute sind sie nicht mehr das hilflose Mädchen, das sie damals waren.
Sie können auch heute nicht ändern was ist, aber sie können ihre Ohnmacht genauer betrachten. Sie haben diese Familie verlassen in der so viel stummer Ärger und so viel laute Wut war. Sie können jeden Moment damit beginnen gut für sich selbst zu sorgen, indem sie einsehen, dass sie, egal wie viel sie getan und versucht haben, in der ganzen Zeit nichts bewirkt haben und sich nur immer ohnmächtiger und leerer gefühlt haben. Sie können jetzt entscheiden, sich diesem Gefühl nicht mehr aussetzen. Sie können heute wählen, sie könnten sagen: Ich will nicht mehr hilflos und ohnmächtig sein und mir selbst dabei zusehen wie ich innerlich unter einem solchen Druck meiner unterdrückten Gefühle stehe, dass ich irgendwann im- oder explodieren werde. Sie können sich von den Menschen abwenden, bei denen sie diese unterdrückte Wut spüren. Nur sie selbst können entscheiden, diese schmerzhafte Erfahrung ihrer Kindheit nicht länger in Dauerschleife zu wiederholen. Ich weiß es ist schwer, aber sie haben die Lektion erkannt, sie heißt: Du hast keine Macht über andere. Du kannst andere nicht ändern. Und sie heißt: Lass dich nicht mehr zum Opfer von Gefühlen oder Bedürfnissen machen, die nicht deine sind. Sie haben nur Macht über sich selbst und in diese Macht können sie kommen, um das zu ändern, was in ihnen zu verändern ist, damit sie wieder Freude spüren. Ich sah sie an: Sagen sie es, sagen sie: Ich bin wütend!

Ich bin verdammt wütend, sagte sie unter Tränen.

Und es ist gut, wenn sie es ausdrücken. Denn was sich nicht ausdrückt, erdrückt das Leben und blockiert den Lebensfluss.

Aber was soll ich tun? Die Wut ist nicht weg, auch wenn ich es sage.

Sie können sich Zeit nehmen und sich mit ihren Gefühlen befassen, alleine, solange bis sie ihre Wut ernst nehmen und sie da sein lassen, wenn sie da ist, solange bis sie ihre Wut in Kraft verwandelt haben, um ihren eigenen Weg zu gehen. Spüren sie ihre Wut, bis sie Trauer geworden ist, dann geht es weiter.

Sie sah mich erwartungsvoll an: Sind sie sicher?

Ich bin mir in nichts sicher, aber das ist kein Grund es nicht zu versuchen.









Dienstag, 23. September 2014

the good, the bad and the ugly




Mischtechnik auf Leinwand aw 2014

Aus der Praxis – Trauma





Ein Trauma findet in einer Situation der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertsein und der Unfähigkeit noch irgendwie handeln zu können, statt. Das Gehirn sucht nach einer Lösung, nach irgendetwas, das es möglich macht, der Situation zu entkommen. Gleichzeitig will es sofort reagieren, weil es den Reiz bekommt: Dein Leben ist in Gefahr. Diese beiden Reize sind nicht miteinander kompatibel. Das Gehirn ist komplett überfordert. Daher schaltet es alle wichtige Funktionen ab, etwa die bewusste Wahrnehmung, dessen was geschieht, oder es dissoziiert, was heißt - es spaltet ab. Doch die lebensbedrohliche Situation, die Ohnmacht, die Angst, das Ausgeliefertsein wird im Gehirn gespeichert. Wird der Traumatisierte später mit einem Reiz, der nur irgendeinem Reiz aus der traumatischen Situation ähnelt, konfrontiert, löst dieser sofort die in der Erinnerung gespeicherten Gefühle aus. Es kommt zu verschiedenen körperlichen Symptomen wie Atemnot, Schweißausbruch, Übelkeit oder Herzrasen, im schlimmsten Fall zu Panikattacken. 

Hier kann die bewusste Wahrnehmung oft keinen Zusammenhang herstellen, der Traumatisierte versteht sich selbst nicht mehr, er ist allein mit seiner Angst und seiner Ohnmacht, die er immer wieder erlebt, ohne zu wissen wann und wo sie ihn treffen werden.

Die meisten Traumatisierten leiden, weil ihnen das Vertrauen in das Leben verlorengegangen ist. Es ist als würde ein Teil von ihnen noch immer in der erlebten Situation feststecken. Ein Trauma zu heilen ist manchmal möglich und manchmal nicht. Es gibt keine Methode, die bei allen Menschen gleich funktioniert. Aber das Ziel jeder Traumaüberwindung ist immer: Vertrauen aufzubauen in das Jetzt.

autoportrait "diving in art work of fritz rauh"


Freitag, 19. September 2014

Eine unheimliche Angst

Es gibt eine Art von Angst, eine unterdrückte, heimliche Angst, die uns gefangen hält und uns daran hindert das Leben in seiner ganzen Viefalt zu erleben. Sie äußert sich in Trägheit, Desinteresse, Abgneigung gegen uns selbst und andere, Lebensüberdruss und dem Gefühl von allem getrennt zu sein. Es ist die unheimlichste Angst, weil wir sie nicht als Angst erkennen.

Mittwoch, 17. September 2014

Gedankensplitter

es gibt keine grundlose traurigkeit, keine grundlose wut, keine grundlose angst.
all diese gefühle kommen nicht so einfach aus dem nichts. 
sie haben einen grund, einen tiefen grund. 

Dienstag, 16. September 2014

JETZT




es gibt einen raum zwischen gestern und morgen
ein niemandsland in dem das alte nicht mehr ist
und das neue noch nicht ist

dieser raum ist wie ein tiefes loch
ein vakuum

es ist sehr ungemütlich in diesen raum
weil da nichts ist
an das du dich halten kannst

die alten muster sind überlebt
du brauchst sie nicht mehr
die neuen noch nicht gelernt

in diesem raum ist kein weg zu sehen
kein ziel
dieser raum ist unendlich weit und groß
in seiner stille aber spürst Du DICH in seiner mitte 
JETZT

Sonntag, 14. September 2014

Trauer



Die Wunden der Seele heilen wie die Wunden des Körpers, langsam.
Überlass es der Zeit, du kannst nichts beschleunigen.
Die Wunde verlangt nach Tränen.
Schmerz, der nicht gefühlt wird, hält dich in der Vergangenheit gefangen.
Trauer bringt dir die Vergangenheit nicht zurück, aber zu trauern bringt dir die Zukunft zurück.
Die Vergangenheit wird dann noch immer lebendig sein, aber sie wird dich nicht mehr lähmen.

... on n'oublie jamais rien on vit avec.




Freitag, 12. September 2014

Wehmut



grauer herbstmorgen
regentropfengeräusch
wehmutstropfen 
herzklopfgeräusch
zeit vergeht 
ich mit ihr

Dienstag, 9. September 2014

tausende



tausende bitten
tausende worte
tausende versuche
tausende mahnungen
tausende hoffnungen
tausende gebete
tausende tränen
tausende momente der verzweiflung
tausende momente des aufgeben wollens
tausende versuche des loslassen übens
tausende male vergeblichkeit
tausende tage der ohnmacht
tausend mal nicht aufgegeben

Montag, 8. September 2014

Gedankensplitter



Nur im schmerzhaften Erleben des Ausgestoßenwerdens aus der schützenden Hülle der äußeren und inneren Begrenzungen ist Wachstum und Wandlung möglich. Sich selbst suchen und finden, wieder verlieren und wieder finden, das ist Entwicklung. Diese Reise ist ein Abenteuer für Mutige. Und auch die Mutigen haben Angst, aber sie reisen, trotz der Angst, ohne die Versicherung jemals anzukommen.

Samstag, 6. September 2014

GertJan Evelo – Altar im Elfenbeinturm




Einmal empfing der japanische Zen-Meister Nan den Besuch eines Professors, der etwas über Zen erfahren wollte. Nan-in servierte Tee. Er goss die Tasse seines Besuchers voll und hörte nicht auf, weiterzugießen. Der Professor beobachtete das Überlaufen, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte. „Es ist übervoll, mehr geht nicht hinein“, rief er. „So wie diese Tasse“, sagte Nan-in, „sind auch Sie voll mit ihren eigenen Meinungen und Spekulationen. Wie kann ich Ihnen Zen zeigen, bevor Sie Ihre Tasse geleert haben?“
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte?

Weil ich Sie bitten möchte, die Tasse da oben in Ihrem Kopf leer zu machen, um wahrzunehmen, worum es dem Amsterdamer Künstler GertJan Evelo in seiner Arbeit im Tiefsten geht. Die Voraussetzung um die Dinge wirklich wahrzunehmen, ist gegenwärtig zu sein, im Hier und Jetzt zu sein, als Beobachter, ohne Bewertung des Geschehens einfach da zu sein, ohne Ziele und Absichten. Gegenwärtig sein heißt den ständigen Strom der Gedanken zur Ruhe kommen lassen, um sich in der Stille zu öffnen, für einen Bewusstseinsraum des Nichtdenkens und Nichtwissens, und dadurch in Kontakt zu kommen mit den Kräften der Intuition, der Inspiration und der Kreativität, die diese Räume atmen. 

  

Schauen ohne zu bewerten ohne die Konstruktionen von Wirklichkeit, die wir machen, mit all den Konditionierungen und Glaubensmustern, die uns vom ersten Atemzug an in unsere Tasse da oben gegossen wurden – das ist Achtsamkeit. Achtsamkeit ist für die meisten von uns nichts Selbstverständliches, wir sind so übervoll mit dem, was im Außen geschieht, so fremdbestimmt, dass wir den Kontakt zur Achtsamkeit verlieren, und damit verlieren wir den Kontakt zu uns selbst. Nichts fällt uns schwerer als den Verstand zur Ruhe zu bringen und uns auf das Fühlen einzulassen.




Und genau darum möchte ich Sie jetzt, für einen Moment in der Zeit, zu einer Übung in Achtsamkeit einladen.

Ich bitte Sie jetzt, so gut es im Stehen geht, eine angenehme Körperhaltung einzunehmen.

Spüren Sie erst einmal, ob ihre Füße festen Kontakt zum Boden haben.

Es geht nur darum wahrzunehmen, dass ihre Füße Kontakt zum Boden haben und wo sie Kontakt haben.

Und als Nächstes bitte ich Sie wahrzunehmen, dass Ihr Körper atmet und dass er dabei Bewegungen macht.

Registrieren Sie diese Bewegungen.

Registrieren Sie, dass Ihr Brustkorb sich sanft hebt und senkt und wenn Sie sehr genau wahrnehmen, dann spüren Sie auch, dass Ihre Nasenflügel ganz kleine Bewegungen machen. Und diese Bewegungen des Körpers beim Atmen nehmen Sie einige Augenblicke lang wahr.

Beenden Sie die Übung, indem Sie wieder bewusst wahrnehmen, dass Ihre Füße Kontakt mit dem Boden haben und nehmen Sie Ihre Körpergrenzen achtsam wahr.
 

Kehren Sie dann mit der Aufmerksamkeit bewusst in den Raum zurück und nehmen Sie diesen bewusst wahr.


Dies ist eine sehr einfache Achtsamkeitsübung. Aber was Sie dabei vielleicht für diesen kurzen Moment gespürt haben, ist der Seinszustand in dem GertJan Evelo lebt und aus dem er seine Kunst schöpft. Es ist ein schöpferisches Tun, das in der Stille des Geistes geboren wird und aus dieser Erfahrung heraus von innen nach außen wirkt, um Kunst zu werden, um uns zu berühren, ein Anliegen, begründet und gestaltet aus dem Bewusstseinsraum der Meditation. Diesen Bewusstseinsraum nennen wir auch die transpersonale Ebene oder den Raum des Überbewussten. Diesem Raum entspringt unsere spirituelle Kompetenz, was bedeutet, dass wir fähig sind, die eigene Intuition sicher wahrzunehmen und in Handeln umzusetzen, was nichts anderes heißt als: Unser Verstand und unser Herz handeln in Einheit. Es ist kein leichtes Unterfangen in Worte zu fassen, was uns hier auf riesigen Leinwänden und in archetypischen Skulpturen entgegentritt, denn es beraubt das Werk dessen, was es ausmacht: Die Sprache des Überwussten, die über die Symbole zu uns spricht. Am Liebsten würde ich Sie einladen zu schweigen, still und achtsam die Räume des alten Turms zu durchschreiten, diese kraftvollen Gemälde und Objekte einfach auf sich wirken zu lassen, sie zu erspüren, ohne bewerten zu wollen, aber dann hätte ich meinen Auftrag nicht erfüllt und deshalb rede ich, und wir werden später gemeinsam genau das tun, was wir immer tun: Sehen, filtern, denken, durcheinander denken und reden: Miteinander, durcheinander, übereinander. Aber vielleicht gelingt es uns ja, wenn Sie mögen, für diesen Abend gegenwärtig zu sein und den Tumult in unseren Köpfen in den Griff zu bekommen und dem, was wir sehen, unsere ungeteilte Achtsamkeit zu schenken – präsent zu sein.


 „GertJan Evelo installiert seine Malerei und Skulpturen in Form von drei Altären zu Ehren der Kunst, der Venus und des Mars. Eisen, Gold, Kupfer und der rot blaue Stuhl Gerrit Rietvelds dienen als Quelle zur meditativen Inspiration und Achtsamkeit – von Amsterdam über den Rhein nach Mainz. Übergroße Formen schweben. Ein mutiger Anfang der ästhetischen Bekenntnis zur neuen Form.“ So steht es im Einladungstext zur Ausstellung. Die neue Form – was ist das? Abstrakte Malerei, die sie hier auf riesigen Leinwänden sehen ist nichts Neues. Abstrahierte Torsi in Gold und Kupfer gegossen oder mit Eisenspänen legiert – nichts Neues. Was also ist hier neu? Neu oder besser anders und beeindruckend, ist die unstrukturierte Zufälligkeit seiner Bildsprache, die das Symbol eines in sich geschlossenen Ganzen gegenüberstellt. Vom psychologischen Gesichtspunkt aus wird hier mehr als nur ein Gleichgewicht geschaffen zwischen der kupfernen Venus im einen Raum und dem eisernen Mars im anderen Raum: Es entsteht ein Ganzes aus den Aspekten des bereits Ganzen. Die Altäre fungieren als Symbole der geheimen Seele der Dinge, als Metapher unseres kollektiven und persönlichen Erfahrungsraumes. Venus als Abbild innerseelischer weiblicher Züge und Mars als Abbild innerseelischer männlicher Qualitäten. 


 
Jeder von uns trägt beides in sich, die Frau den Animus und der Mann die Anima, die Schwierigkeit aber liegt darin, dass es nur wenigen von uns gelingt, beide Qualitäten in sich zu vereinen und zu leben. Das nennt man Individuation, den Weg zur eigenen Ganzheit. Und dieser Weg ist die schrittweise Bewusstwerdung, sich selbst als etwas Eigenes und Einmaliges zu begreifen und zu verwirklichen. Das Bild für dieses Ganze ist der Meditationsstuhl, ein Nachbau des rot blauen Stuhles von Rietveld. Der Edelstein am fließenden Gold hängend, ein Tropfen des allwissenden Universums, der sich auf die Sitzfläche zentriert, fungiert als Symbol für die Verbindung des menschlichen Geistes mit dem, was wir das göttliche Prinzip nennen oder das Universale. Gelingt diese Verbindung geschieht Heilung.



Hier ist ein Künstler am Werk, der spürt, dass Bewusstsein allein nicht ausreicht, die Frage nach dem Sinn, der aus dem Unbewussten auftauchenden Inhalte zu beantworten und ihre Bedeutung zu erkennen. Nur im Zusammenspiel mit dem, was als transzendent gilt, nämlich dem, was außerhalb oder jenseits des Bereiches der normalen Sinneswahrnehmung liegt, sprich, dem Erfahrungsbereich des Transpersonalen, was wir auch das Höheren Selbst nennen, zeigt das Sein seine intuitive schöpferische Kraft, die über das Banale hinausgeht und so Neues und Anderes schafft. Diesen Zustand erreichen wir in der Meditation.
GertJan Evelo spürt diese Sehnsucht nach dem Ur-sinn, der tief hinter der Welt der bloßen Erscheinungen existiert, dieses unbeschreibliche Gefühl reinen Seins. "Diese Erfahrung", sagt er, "macht bisweilen einsam, sie ist unteilbar." Einsam, trotz der gefühlten Erfahrung des Alleinsseins, die wir im Zustand tiefer Meditation machen können? Nun, vielleicht gelingt es uns sterblichen Menschen niemals, dieses Alleinssein in seiner ganzen Tiefe dauerhaft zu spüren. Gelänge es, wäre alle Trennung Illusion, wir besäßen das gefühlte tiefe innere Wissen, dass wir nicht allein sind, sondern mit allem verbunden und damit ganz.
  


Das Streben nach Ganzheit ist das Streben des Menschen schlechthin.

Wir möchten uns ganz fühlen, um genau diesem Gefühl der schmerzhaften Trennung zu entkommen, das uns überfällt, wenn wir allein sind. Diese Angst, allein gelassen zu werden, die wir zum ersten Mal spüren, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, und die uns ein Leben lang begleitet. Wir möchten, dass jemand da ist, der uns überleben hilft, weil wir spüren, wie zerbrechlich wir sind.

„Wir sind Menschen sind Halbierte“, erkannte schon Platon. Halbierte, die sich nach Ganzheit sehnen, ohne sie mit unserem Bewusstsein, überhaupt wahrnehmen zu können, aber mit dem Drang danach, weil unsere Seele im Tiefsten, um das Ganze weiß. Und sie weiß auch, dass es nirgendwo anders zu finden ist als in uns selbst. In unserer bewussten Wahrnehmung aber leben wir in einer polaren Welt, in einer Welt der Gegensätze. Indem wir "ich" sagen grenzen wir uns von allem ab, was wir als "nicht ich" empfinden. Wir sind Gefangene der Polarität.

Und genau das zeigt uns GertJan Evelo. Er zeigt uns in diesen drei Räumen, wie sich die Welt unserer bewussten Wahrnehmung in Gegensätze aufspaltet. Das Eine ist für uns Menschen ohne das Andere nicht begreifbar, doch alles enthält im tiefsten Kern den Samen seines Gegenteils. Hell und Dunkel, Gut und Böse, Liebe und Angst. Hier Mann und Frau, Geia, Mutter Erde, Uranos, der Himmel, Venus und Mars, Yin und Yang. Löschen wir das eine aus, verschwindet für unser Bewusstsein das andere. In Wahrheit aber stehen die Gegensätze in hoher Abhängigkeit zueinander. Diese Abhängigkeit zeigt, dass in den polaren Gegensätzen eine Einheit existiert, die wir nur nicht gleichzeitig wahrnehmen können. Unser Bewusstsein ist nicht fähig Einheit wahrzunehmen, es spaltet und zerlegt. Wir müssen unterscheiden und bewerten um zu verstehen. Der Raum in der Mitte, in dem wir uns jetzt befinden, ist der Raum der die beiden anderen Räume verbindet, in dem sich die Gegensätze vereinen. Diese Bildersprache zeigt: In der von uns Menschen wahrgenommenen Polarität liegt das Einssein von Mikro- und Makrokosmos und der sich ergänzenden Gegensatzpaare Yang und Yin – und diese Einheit ist reines Sein. Das Dunkel verdrängt nicht das Licht, sie arbeiten zusammen. Was Osho die Unio Mystica, die Vereinigung der Gegensätze nennt und Gurdjeff, einer der außerordentlichen spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die Kristallisation des Seins nennt, ist nichts anderes, als zwei, die sich vereinen: Die innere Frau mit dem inneren Mann, Anima und Animus, Logik und Unlogik, Yin und Yang. Hier kommt zusammen, was wir als Dualität empfinden.



Die spirituelle Entwicklung des Menschen ist ein außergewöhnlicher Vorgang, der jedem, der diesen Weg geht, ermöglicht, über die Grenzen der gewöhnlichen menschlichen Natur hinauszugehen, in andere Bewusstseinszustände vorzudringen und ein Verstehens zu erlangen, das über die Bedingtheit unserer irdischen Existenz hinausgeht. Diesen Weg geht GertJanEvelo und er begann als er sechzehn Jahre alt war mit dem ersten Schritt. „Mein Bruder“, sagt er, „schenkte mir ein Buch über Meditation. Heute meditiere ich nicht mehr, ich bin Meditation.“ Ich bin ist das stärkste Mantra. Und es bedeutet achtsam zu sein sich selbt gegenüber, es bdeutet wahrhaft präsent bei allem Tun zu sein, es bedeutet Konzentration und es führt zur Einsicht in Nichtdualität. Die Energie der Achtsamkeit finden Sie in diesen Altären, meine Damen und Herren und wenn Sie präsent sind gelingt es Ihnen, tief zu schauen und wenn Ihnen das gelingt, fühlen sie sich vielleicht für einen Moment in der Zeit mit GertJan Evelo im Elfenbeinturm verbunden, dem geistigen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der lauten Welt, der sichere innere Ort, an dem wir tiefen Frieden finden können.

Ich danke GertJan für diese Erfahrung, ich danke Fee Fleck für die Empfehlung und der Kuratorin Valy Wahl, dass sie uns diese berührende Kunst in den Turm geholt hat.

 Ich erinnere Sie: Ein mutiger Anfang der ästhetischen Bekenntnis zur neuen Form. Instinktiv hat Valy es gespürt: Die neue Form, von der ihr Text spricht, geht über Grenzen hinaus. 
 
Ja, ganz sicher geht GertJan Evelo über Grenzen hinaus - die transpersonalen Inhalte seiner Kunst rütteln an den Grenzen derer, die sich noch immer am Übermaß dessen festhalten, was ihnen die linke Gehirnhälfte diktiert – nämlich rationales Denken, Logik und Kontrolle. Aber um auch nur annähernd ganz zu werden müssen wir beide Hirnhälften verbinden, denn nur dann geschieht die wesentliche Erkenntnis unserer Existenz, die C.G. Jung einmal so beschrieb: „Wenn man versteht und fühlt, dass man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan.“





© Angelika Wende, KV Eisenturm, 6. September 2014
Fotos (c) Alexander Szugger http://szugger.blogspot.de


Aufmerksamkeitsübung von Louise Reddemann