Das Leben ist eine Kippfigur, sagt Henry. Ich spüre das Kippen schon lange deutlich. Die Angst vor dem Kippen, gehört sie dazu, frage ich ihn. In seiner ruhigen Art zu reden antwortet er mir. Es ist wie es ist. Das Kippen gehört dazu. Einmal bist du oben und ein anderes Mal unten. Jetzt gerade bist du unten. Die Angst ist eine Illusion.
Wie geht nicht weinen? Frage ich zurück mit Tränen in den Augen, Tränen, die ich weine, ohne sie kontrollieren zu können, immer öfter. Henry zeigt Mitgefühl, nicht hörbar, kaum spürbar. Er will nicht, dass ich ihm leid tue. Sag mir, wie geht das? Nicht schreien, nicht verzweifeln, nicht ausrasten, nicht aufgeben, nicht sich selbst zerreißen, wenn innen alles längst gerissen ist. Wie geht weitermachen und jeden Tag leben, so tun als sei die Welt in Ordnung, wenn sie es nicht ist, schon lange nicht mehr und bald gar nicht mehr. Wie geht leben, wenn die Angst mächtiger ist als alles andere, wenn die unmittelbare Zukunft eine festgelegte Größe ist, wenn du weißt, dass war das Ende des Kippens, dann ist da das Fallen, der Aufschlag auf den Du gewartet hast, den du gefürchtet hast und dann wieder herbeigewünscht, weil das Ungewisse dann endlich Gewissheit ist. Auch nicht besser, ich weiß es jetzt.
Und jetzt? frage ich Henry. Was machen wir jetzt. Müssen wir weiter machen? Müssen wir es oder wollen wir es? Und wenn wir es wollen dann weil wir Menschen sind und weil wir hoffen, weil der Mensch immer hofft - auf Besseres, wenn das Gute außer Sicht ist und das Schöne längst verloren. Machen wir uns etwas vor oder machen wir weiter auch wenn wir uns im Zweifel etwas vormachen, weil weiter machen noch irgendeine Chance bedeutet, Hoffnung eben. Wenn sie nicht mehr ist sind wir nicht mehr.
Ist Aufgeben leichter? Oder feige, oder mutig, oder die letzte Option wenn nichts mehr geht, wenn nichts besser wird, wenn alles verloren ist. Wann ist alles verloren, wenn wir sterben oder wenn wir lebendig sind und uns wie tot fühlen. Kalt innen, eiskalt, erfroren, vereist, starr.
Die Starre ist längst eingetreten, sie umklammert mein Herz, verkrampft mir den Magen, sitzt wie ein kalter Knoten im Hals, macht schlucken schwer, atmen geht von alleine – wie lange noch? Was hält ein Mensch aus? Wie viel hält ein Mensch aus, wie viel von was und wie lange vom Vielen, zu viel von allem, zu lange schon und alles ungut und schmerzt. Wie geht Verstehen, wenn nichts verstanden wird, wenn Warum nicht die Frage ist, weil sie es nie ist, weil es keine Antworten gibt auf Warums, die keine Fragen erlauben und wir stellen sie doch, weil wir Fragende sind, Suchende, Sinn suchende. Auch wenn es keinen gibt, fragen wir nach dem Sinn des Sinnlosen.
Antwortlos bleibt uns dieses „alles hat einen Sinn“, weil wir nicht anders können, denn ohne Sinn ist es sinnlos und dann macht nichts mehr einen Sinn, dann ist Ende und wir sind verzweifelt und Verzweiflung ist der schlimmste Affekt – im Zweifel tödlich.
Henry weiß nichts von Verzweiflung, auch wenn er glaubt zu wissen. Seine Verzweiflung hat das Bodenlose nie erreicht, es ist Schmerz, den er für Verzweiflung hält. Ich sage ihm das nicht, weil er es nicht zulassen wird, wie er so vieles nicht zulässt, was sein Kopf nicht erlaubt.
Weiter gehen weil wir leben? Wir leben noch und solange wir leben ist alles gut, besser als nicht mehr leben, denn dann geht gar nichts mehr. Gar nichts mehr ist schlimmer als Etwas, auch ein Etwas von dem wir nichts wissen, außer, dass es ein Etwas ist und das ist immer noch besser als dieses Nichts. Nichts macht uns mehr Angst als das Nichts, weil das Nichts das Unbekannteste alles Unbekannten ist, das was wir am meisten fürchten.
Solange wir leben, fürchten wir es, so sehr, dass wir nicht daran denken, es verdrängen in die hinterste Ecke unserer Gedanken. Da wollen wir nicht hinschauen, dann lieber in das diffuse Etwas, das zumindest Rahmenbedingungen hat, in denen wir uns zurechtfinden, im Zweifel, weil alles besser ist als das absolute Nichts. Ist es das wirklich?
Nachschlag gibt es nicht. Wiedergeburt ist für Träumer und Esoteriker, die noch mehr Angst haben als die, die sich mit dem Endlichen abfinden. Eins haben wir, ein Leben und sonst keins. Ich erinnere mich nicht an ein anderes, in dem ich eine andere war und doch ich. Die Idee von der ewigen Seele missfällt mir, weil sie vielleicht nichts anderes ist als ein Abfallprodukt unseres Egos, das glaubt dass da mehr sein muss, als Gedanken und Gefühle, Körper und Geist, weil wir Menschen sind und uns für die klügeren Tiere.
Wer sagt, dass es wahr ist, das mit der Seele und ihrer Unsterblichkeit und nicht nur die Gier nach mehr als da ist? Es gibt kein Röntgenbild der Seele, keine sichtbare Darstellung – die Seele ist bloße Vermutung. Warum glauben wir an ihre Existenz, inniger als an die Existenz eines altmodisch gewordenen Gottes. Herr schütze uns und leite uns, sei unser Hirte. Wir sind das Schaf, das am Ende auf der Schlachtbank landet, mit deiner Führung. Geschlachtet werden wir alle – der Schlächter heißt Tod und er ist sicherer als das Leben. Gott weiß was er tut, trösten wir uns, wenn wir nicht mehr wissen was uns tröstet, wenn uns geschieht was nicht zu ertragen ist, wenn es keine Antworten gibt und wir das Warum fragen sein lassen um nach dem Wozu fragen – die letzte Krücke, die uns vor dem Kippen retten soll. Rettet uns irgendwas?
Nein ich rede nicht von der Kippfigur eines Wittgenstein, ich rede von der meinen und sie ist ein schwankendes etwas Mensch.
Das Leid zieht seine Berechtigung aus der Fähigkeit des Menschen es zu ertragen. Ertragen heißt dann Stärke. Stark sollen wir sein.
Sei stark, sagt Henry, du bist stark. Ich sage, ich kann es nicht mehr hören, weil ich es nicht bin. Ich bin schwach und tue so als sei ich stark. Ich belüge die anderen und mich selbst und das ist das Schlimmste, weil ich mir selbst unglaubwürdig bin. Ich bin schwach, ich bin gefallen, längst schon – siehst du es nicht? Ich liege am Boden, aber ich tue so als würde ich stehen, weil mich keiner aufhebt, weil sie wissen wenn sie sich nach unten beugen fallen sie im Zweifel auch. Die Gefallenen liegen auf dem Schlachtfeld, es gibt nichts mehr zu tun, rette dein eigenes Leben. Auch Tiere haben Selbsterhaltungstrieb. Ich nehme es keinem übel.
Sei stark, sagt Henry, du bist stark. Ich sage, ich kann es nicht mehr hören, weil ich es nicht bin. Ich bin schwach und tue so als sei ich stark. Ich belüge die anderen und mich selbst und das ist das Schlimmste, weil ich mir selbst unglaubwürdig bin. Ich bin schwach, ich bin gefallen, längst schon – siehst du es nicht? Ich liege am Boden, aber ich tue so als würde ich stehen, weil mich keiner aufhebt, weil sie wissen wenn sie sich nach unten beugen fallen sie im Zweifel auch. Die Gefallenen liegen auf dem Schlachtfeld, es gibt nichts mehr zu tun, rette dein eigenes Leben. Auch Tiere haben Selbsterhaltungstrieb. Ich nehme es keinem übel.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dich selbst lieben, dann den Nächsten. Erst dich selbst sonst kannst du nicht lieben, den anderen nicht lieben. Wer sagt das? Von Anfang an wird uns gesagt. Wie sollen wir lernen zu hören auf das, was aus uns zu uns spricht? Fremdes wird Eigenes, bevor Eigenes werden kann. Das einzig Eigene ist das Unterscheiden und Unterschiedenes entscheiden.
Wer aus dem Rahmen fällt, fällt.
Das Sinnhafte klebt am Orientierungssystem der Masse wie ranziges Fett. Masse sind wir nicht, Henry nicht und ich nicht. Henry gelingt es besser sich einzufügen. Wer aus dem System fällt trägt schwer am Verlust der Orientierung. Verlust heißt Verloren. Halten wir das aus - uns an nichts halten zu können? Stabilität versus Stabilität. Mut haben die Wenigsten. Rückgrat vermisse ich bei allen, die mir vertraut sind.
Kippen und Fallen. Oder Schwanken – vielleicht nur das, ohne zu kippen. Hin und her schwanken im eigenen Universum – wohin führt das? Das Leben ist keine sichere Größe. Wir schwanken immer. Mehr oder weniger beeinflusst von Umständen.
Das Leben ist eine Kippfigur. Henry hat Recht, wie so oft hat er Recht mit dem was er sagt. und auch ich habe recht mit meiner Kippfigur und will mich nicht streiten. Henry liebt Stichpunkte. Kurze Sätze. Es gelingt ihm mit kurzen Sätzen das Ganze zu erfassen. Er braucht Klarheit. Die Frage des kleinen jüdischen Psychiaters, der nach Jahren in denen ich ihn nicht gesehen habe auf meiner Vernissage erschienen ist wie ein Geist aus der Vergangenheit, wer siegen soll, der Kopf oder das Herz, wählt Henry den Kopf. Ich wähle das Herz. Vielleicht weil ich eine Frau bin und Henry ein Mann.
Meine Kippfigur - am Ende wird sie überlastig. Wir fallen mit Sicherheit, vermessen zu glauben wir könnten entscheiden wie, wann, wie tief, wie hart. Alle fallen auf ihre Weise. Der Tod macht uns alle zu gleich Gefallenen. Zwischenzeit Leben.
Gib mir einen Grund weiter zu machen, bitte ich Henry. Lebe für die Menschen, die dich lieben und die du magst und für deine Talente. Seinen Worten zu folgen bedeutet: Wir haben die Wahl. Haben wir die? Wahl bedingt Möglichkeiten – im Rahmen der Möglichkeiten wählen wir. Immer sind es Möglichkeiten. Ohne Möglichkeiten ist keine Wahl möglich. Wer bestimmt Möglichkeiten?
Möglichkeiten sind Gegebenheiten. Wir wählen in Gegebenheiten. Wer gibt, wer nimmt? Was wird gegeben, was nehmen wir? Und wann sagen wir ja und wann nein? Ein Vielleicht bedeutet Stillstand. Wir haben die Wahl – immer. Schließt Stillstand kippen aus? Still kippen ist möglich. Mancher ist aus dem Stand umgefallen.
Nimm die Theatralik raus, sagt Henry und zündet sich eine Zigarette an. Ich sage Henry, dass ich ihn liebe. Er beklagt sich, dass ich das in letzter Zeit immer öfter sage und ich frage mich, warum ich es ihm sage und immer öfter und ich weiß es nicht. Ich liebe ihn nicht wie man einen Mann liebt, oder einen Sohn, oder einen Vater. Vielleicht muss ich einfach irgendeinem sagen, ich liebe dich um auszusprechen was ich nicht mehr fühlen kann. Du liebst niemanden, außer deinem Sohn, sagt Henry und bläst Zigarettenrauch in die Nacht.
Wir trinken Wein, Henry Roten und Weißen, weil es warm ist heute zum ersten Mal in diesem frühen Jahr. Wenn es warm ist trinke ich keinen Rotwein mehr. Ich fühle mich sicher an seiner Seite und trotzdem verloren, weil die Sicherheit eine trügerische ist. Sie ist eine Augenblickssicherheit, damit ist sie eine Illusion. Alles ist eine Illusion behauptet Henry. Ich weiß, dass es stimmt und trotzdem erlaube ich sie mir, weil wir das alle tun, weil die Illusion uns rettet, wenn wir die Wirklichkeit nicht aushalten oder nicht sehen wollen. Henry wendet sich Anna zu, meiner Anna, die mich begleitet seit einigen Jahren, die schön ist und klug, die ihre Sehnsucht nach sich selbst unter einem Zuviel an Gewicht verpackt, die da ist wenn ich sie brauche und immer weiß, was das Beste für mich ist. Henrys Abwenden lässt mich die aufkommende Kühle der Nacht deutlich spüren.