Freitag, 31. Mai 2024

Sinnfindung durch fruchtbare Wechselwirkung

 

                                                                Foto: Pixybay

 
Als Psychologen von der Colorado State Universität rund 8000 Probanden zum Sinn des Lebens befragten, ermittelten sie zwei Werte: wie sehr jemand nach dem Lebenssinn suchte und wie sehr diese Person mit ihrem Leben zufrieden und glücklich war. Das Resultat: Je höher der Sinnsuche-Wert, desto weniger zufrieden und glücklich waren die Menschen.
Nicht wirklich überraschend, aber doch nachdenkenswert.
 
Je ratloser wir sind, was den Sinn unseres Lebens betrifft, umso mehr suchen wir danach. Wir empfinden ein existenzielles Vakuum, ein Leben, das gefühlt ins Leere läuft, existenzielle Frustration.
Das würde für mich bedeuten, mich auf den Weg zu machen und Sinn zu suchen.
Aber machen sich alle, die ihren Lebenssinn nicht kennen, auf die Suche?
Oder ist es nicht vielmehr so, dass je ratloser Menschen ob des Sinns ihrer Existenz sind, sie umso mehr nach Ablenkungen suchen? Sie verlieren sich in Konsum, Spaß, Prestige, Sex, Anerkennung, Macht, beruflichem Erfolg, in Süchten usw. Je mehr sie das tun, desto ratloser und frustrierter werden sie, denn all das führt nicht dazu einen Sinn zu finden, geschweige denn einen Sinn zu empfinden. Hedonistische Ablenkungen sind genau das, was nicht zu tiefem Sinnempfinden führt. 
 
Sicher macht es Sinn, dass wir es uns gut gehen lassen und das Leben mit all den schönen Dingen genießen. Das ist das eine. Aber was ist das andere?
Manche haben genug Ablenkungen und es geht ihnen trotzdem nicht gut. Manche leben ihre Gaben, Fähigkeiten und Talente, verwirklichen all das und es geht ihnen trotzdem nicht gut.
Der existenzielle Sinn fehlt.
Aber wie ihn finden, wo, womit und worin?
Das muss, wer sucht, letztlich jeder für sich selbst herausfinden, suchen eben. Es gibt unendlich viele Ansätze zur Sinnfindung. Ich beziehe mich in diesem Text auf zwei davon.
 
Ikegai
Ikigai heißt auf japanisch: Lebenssinn oder anders ausgedrückt: das Gefühl ein Warum zu haben, wofür es sich lohnt, am Morgen aufzustehen.
Nach dem Motto: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie." Dieses Nietzsche-Zitat war übrigens der Leitsatz Viktor Frankls, des Begründers der Logotherapie.
 
Zum Ikegai
Können, Freude am Tun dessen, was wir können und Sinnstiftung durch das, was wir tun und dann noch damit unseren Lebensunterhalt bestreiten können – so wird Sinn im Ikegai zusammengefasst. Wir sind in unserem Ikegai, wenn unser Beruf oder unsere Selbstständigkeit diese vier Merkmale aufweisen.
Ein Erfüllungsmodell, das erst einmal gut klingt und ich kann es, was meine Tätigkeiten angeht, bestätigen.
Aber reicht das aus um einen tiefen existentiellen Sinn zu empfinden?
Meine Antwort lautet: Nein. Zumindest nicht für jeden und nicht für mich. Es ist nur Teil des Ganzen. Sinn empfinden bedeutet mehr. Wesentlich um existenziellen Sinn zu spüren, ist zum Beispiel ein Aspekt, den wir Resonanz nennen. Resonanz von lat. resonare: widerhallen.
 
Resonanz
In der Physik bezeichnet Resonanz ein Phänomen, bei dem ein schwingungsfähiges System durch periodische Einwirkung von außen zu besonders starken Schwingungen angeregt wird.
Resonanz auf uns Menschen bezogen bedeutet eine intensive Beziehung zwischen uns selbst und unserer Umwelt, die durch gemeinsame Schwingungen und Rhythmen entsteht.
Gekonnt beschrieben ist Resonanz in Rilkes Gedicht „Liebeslied“: 
 
„Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.“
 
Das klassisches Beispiel für ein Resonanzphänomen: eine schwingende Saite.
Resonanz beschreibt in der Psychologie die Rückkopplung von gezeigten Emotionen oder Verhaltensweisen. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt das Resonanz-Phänomen ausführlich und beeindruckend in seinen Büchern. Nach Rosa ist Resonanz ein Beziehungsmodus, in dem gegenseitige Schwingungen erzeugt werden, zum einen im äußeren Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, zum anderen im eigenen Inneren zwischen Körper und Psyche. Er spricht von einem Resonanzraum für Resonanzerlebnisse und ordnet die Bezugspunkte auf drei Achsen der Weltbeziehung, die ich hier kurz zusammenfasse.
 
1. Die Horizontale Resonanzachse
Begegnungen und Beziehungen zu anderen Menschen. Familienbeziehungen, Liebes- und Freundschaftsbeziehungen und ergebnisoffene Beziehungen im gesellschaftlich/politischen Raum.
 
1. Die Diagonale Resonanzachse
Beziehungen zu Dingen und Tätigkeiten, etwa zur Arbeit, zur Ausbildung, zu einem Hobby, einer Leidenschaft und bei Künstlern - die Beziehung zu ihrem Handwerkszeug oder dem Material mit dem sie arbeiten.
 
2. Die Vertikale Resonanzachse
Kulturelle Beziehungsräume, Natur, Kunst, Geschichte, Religion und Spiritualität.
In all diesen Achsen gehen wir eine Beziehung zur Welt ein, wir machen also Resonanzerfahrungen. Machen wir diese, fühlen wir Verbundenheit auf verschiedenen Ebenen – mit Welt, mit anderen, mit uns selbst. Wir berühren und wir werden berührt und das beeinflusst wechselseitig. Resonanz ist ein wechselseitiges Sich-Einschwingen, ein sich Einstimmen aufeinander und auf uns selbst.
Ein sinnvolles, gelingendes Leben, so Rosa, hängt von der Qualität unserer Weltbeziehung ab – und eben nicht von der Anhäufung all dessen, was Erich Fromm das „Haben“ nennt. 
 
"Das Leben gelingt, wenn wir es lieben. "Es", das sind dabei die Menschen, Räume, Aufgaben, Ideen (...), die uns begegnen. Wenn wir sie lieben, entsteht so etwas wie ein vibrierender Draht", schreibt Rosa. Fruchtbare Wechselwirkung also. 
 
Wenn wir keine oder nur wenig resonante Erfahrungen oder nur auf einer der Achsen, fühlen wir wenig Verbundenheit. Wir fühlen Trennung. Uns fehlt der Draht, der vibriert, die Schwingung mit dem Ganzen, das Gefühl von Lebendigkeit und damit fehlt tiefes Sinnempfinden. Ein Gefühl von Entfremdung stellt sich ein. Entfremdung von Welt und Entfremdung vom Selbst.
Das erklärt auch, warum Menschen, die sich getrennt von Welt, von anderen und/oder von sich selbst fühlen, ihr Leben oft als sinnlos und leer empfinden.
Wenig Resonanz empfinden bedeutet mitunter auch sich einsam fühlen. Keiner, dem wir uns tief verbinden fühlen, keine Seele, die mitschwingt, kein Feedback, keine Antwort auf uns. Auch das schafft das Gefühl Sinnlosigkeit in einem Leben. Ich kann mein Ikegai leben, ich kann mich selbst verwirklichen so viel ich will – ist da keine Resonanz zum anderen hin, fehlt Entscheidendes um einen existentiellen Sinn zu spüren.
 
Leider leben wir in einer Zeit der Überindividualisierung. In einer Zeit der zunehmenden Vereinzelung des Individuums. In einer Zeit in der soziale Medien Resonanz künstlich herstellen. Wir sind alle miteinander verbunden auf Facebook, Twitter, Instagramm usw., aber lebendige Resonanzerfahrungen fehlen vielen Menschen mehr und mehr. Es liegt an uns das zu wandeln.
„Resonanz ist das Versprechen der Moderne – Entfremdung ist ihre Realität“, schreibt Rosa.
Ich gebe ihm Recht. 
 
 
Buchtipp: „Resonanz“ von Hartmut Rosa

1 Kommentar:

  1. Wir glauben nicht, dass das Leben einen Sinn hat - außer dem, dem jeder individuell ihm gibt. Die Sinnfrage halten wir deswegen für müßig und deswegen wundert es uns, dass Sinnsucher oft unglücklich sind.
    Wenn wir uns dunkel erinnern, schrieb H. Hesse einen Text über Sinnsucher.
    Der einzige Sinn des Lebens, den wir sehen können, ist zu leben.
    The Fab Four of Cley
    :-) :-) :-) :-)

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