Montag, 24. Juni 2024

Overload

 

                                                                    Foto: pixybay


Viele Menschen fühlen sich zur Zeit mental erschöpft und müde. Erschöpfung und Müdigkeit entstehen dann, wenn wir uns zu viel mit Dingen beschäftigen oder über Dinge nachdenken, die nicht in unserem Einflussbereich liegen. Je weiter wir uns von unserem Einflussbereich mental wegbewegen, je tiefer wir uns in destruktive Gedanken hineinziehen lassen, desto anstrengender wird es für den Geist.
 
Wichtig ist es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was überhaupt in unserem Einflussbereich liegt und uns dann darauf zu konzentrieren.
Wer sich ständig Gedanken um Dinge macht von denen er weder weiß, ob sie wahr sind oder überhaupt eintreten werden, gerät in ein gedankliches und emotionales Dauergewitter. Er verliert die Klarheit und damit die Erdung. Der Verlust von Klarheit und Erdung raubt geistige und körperliche Kraft, die Folge: wir fühlen uns müde, erschöpft, bis hin zu Apathie.
Im anderen Fall kann es wütend machen die eigene Ohnmacht ob des Geschehens im Außen zu erkennen, was den meisten Menschen, da sie mehr im Außen als bei sich selbst sind, aber nicht bewusst ist – sie fühlen sich ohnmächtig. Weil sie das Gefühl nicht identifizieren können und falls sie es können, nicht aushalten können, werden sie wütend. Sie füttern sich selbst mit unheilsamer Energie, was wiederum auch auf Dauer ausbrennt und zur mentalen Erschöpfung führt. Hilfreicher ist es Wut und Aggression zu beherrschen, ohne sie künstlich zu unterdrücken.
 
Wenn wir nur das Schlimmste sehen, zerstört das unsere Fähigkeit, etwas zu tun. Je mehr wir mental Dinge konsumieren, zerdenken, beklagen und diskutieren, auf die wir absolut keinen Einfluss haben, desto erschöpfter werden wir. 
Je mehr Unheilsames, Schwarzmalendes und Angstschürendes an Nachrichten und Informationen wir konsumieren, desto verwirrter werden wir. Irgendwann hat die Psyche einen Overload an destruktiver Energie, die sich zu den eigenen psychischen Defiziten und Problemen legt. Der psychische Apparat ist heillos überfordert.
Erdung und Klarheit, ich kann es nicht oft genug sagen, führen zu innerer Stabilität und Stärke - das ist das, was wir in diesen schwierigen Zeiten brauchen - für uns selbst und unsere Nächsten.
Bevor wie also unsere Energie darauf verwenden, was im Außen geschieht, ist es heilsamer sie auf das zu verwenden was für uns wichtig ist und uns auf unsere eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren. Das heißt nicht, dass wir nichts tun um jeden Tag unser Bestes in die Welt zu geben, es bedeutet, dass wir besser in der Lage sind auf uns selbst aufzupassen. Nur dann können wir mit Energie auch für andere da sein und Dinge bewegen. Klarheit und Erdung gibt uns die Energie zum Handeln. 
 
Durch mehr Achtsamkeit und gezielte Meditationsübungen können wir lernen uns selbst zu regulieren, uns zu erden und mental zu stärken, uns bewusst Denkpausen zu nehmen und eine geerdete, gelassene Perspektive einzunehmen.
Es fühlt sich besser an, als wie ein aufgeschrecktes Huhn, das nicht weiß, wohin mit sich, herumzuflattern und den ganzen Stall in Unruhe zu versetzen.
 
„Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen zu surfen.“ 
Jon Kabat-Zinn

Donnerstag, 20. Juni 2024

Ein verletztes Herz

 

"Ich kann mein Herz nicht mehr öffnen, weil ich verletzt wurde."

Denke und glaube ich so, bleibe ich an meinem Schmerz haften. Ich bleibe an denen oder dem haften, der ihn mir zugefügt haben. Ich füge mir selbst über den Schmerz hinaus Leid zu. Ich mache aus Schmerz Leiden, im Glauben mir eine schützende Rüstung um mein Herz legen zu müssen, auf dass mich nichts und niemand mehr verletzt. Aber, in dieser Rüstung lebt es sich nicht gut. Sie ist hart und eng. Sie macht Atmen schwer, Bewegung schwer, trennt mich von all dem, was mir nah kommen will. Sie macht verdammt allein. Aus Selbstschutz wird Selbstquälerei.

Es ist schwer sich aus der der Verhaftung mit einem alten Schmerz zu herauszulösen, schwer die schützende Rüstung abzulegen im Wissen – jetzt bin ich wieder verletzbar. Schmerz ist wieder möglich. Neuer Schmerz. Manchmal kann es sogar soweit kommen, dass die Rüstung so vertraut oder sogar so liebgeworden ist, weil sie mir als Schutz für mein verletztes Herz gute Dienste leistet. Das Herz aber wird leiden. Es wird an der Enge langsam ersticken. Es wird an Einsamkeit, an Verbitterung, an Resignation erkranken.

Um die Rüstung abzulegen und zu gesunden, bedarf es der Verantwortungsübernahme – und zwar für das eigene Leben. Und das bedeutet - uns zu öffnen für das Leben, wieder und wieder, auch wenn wir verletzt sind und auch wenn wir die Gefahr eingehen wieder verletzt zu werden.

„Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod“ , schreibt Viktor Frankl.

 

Es gibt immer schmerzvolle Dinge und Umstände, denen wir als Mensch unausweichlich begegnen. Es gibt das Schicksal, das manchmal ein Arschloch ist. Es gibt so vieles, was nicht in unserer Hand liegt. Es gibt Erfahrungen, die uns alles abverlangen und denen wir uns stellen können oder nicht. Es gibt Dinge, die unveränderbar sind, egal wie sehr wir uns dagegen wehren.

Wie wir damit umgehen, wie wie wählen, allein das liegt in unserer Hand. Was wir damit machen, liegt in unserer Hand. Das entscheiden wir selbst. Jeden Tag haben wir neu die Wahl, angesichts des Schmerzes, den wir fühlen zu resignieren – oder aus dem Schmerz heraus unser Leben neu zu gestalten, indem wir den Sinn im eigenen Leiden zu erkennen suchen,  indem wir uns fragen:  

Aus welchem Grund bin ich in dieser Lage?  

Was will das Leben jetzt von mir?

Worin könnte meine Aufgabe, meine Herausforderung liegen?

 

„Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, wir haben zu antworten und diese Antworten zu ver-antworten“, Nichts anderes kommt uns Menschen zu!“, schreibt Frankl weiter.

 

Was heißt das?

Es heißt die Herausforderung anzunehmen indem wir uns zu fragen: Wozu fordert mich mein Schmerz  heraus?

Und: Welche Antwort will ich geben?

Will ich mein Leid vermehren oder es wandeln?

 

Sich wandeln hat einen Preis, nämlich den die scheinbar sichere Rüstung abzulegen, den Schmerz loszulassen, die Verbitterung und die Resignation loszulassen und aufhören zu sagen: "Ich kann mein Herz nicht mehr öffnen, weil ich verletzt wurde." Auch ein verletztes Herz kann wieder ganz werden, nicht mehr ganz so ganz wie es einmal war, aber mutiger, weicher, wissender, weiser, mitfühlender, ehrlicher und wahrhaftiger sich selbst und damit anderen gegenüber.

Wir können die Rüstung ablegen und uns fragen:

Wofür will ich mein Herzblut geben?

Was will ich aus meinen Herzen heraus in die Welt geben?

 

 

Samstag, 15. Juni 2024

Tiefes Verständnis

 

                                                                     Foto: A.Wende


Ich sehe dich, ich höre dich, ich verstehe dich, ich fühle dich, ich nehme dich ernst.
 
DICH
Egal, was meine Meinung ist.
Egal, ob ich die Dinge anders sehe.
Egal, was und woran ich glaube.
Egal, was ich denke.
 
Ich höre DIR zu ohne mit dem meinen zu antworten.
Ich nehme DEINE Emotionen ernst, auch wenn meine Emotionen andere sind.
Ich begegne DIR mit Offenheit und Empathie, auch wenn ich anders fühle, denke oder andere Erfahrungen habe.
Ich bewerte das DEINE nicht.
Ich beurteile nicht.
Ich verurteile nicht.
Ich höre DEINE Geschichte.
Ich überlagere das DEINE nicht mit dem Meinen.
Ich übertrage das meine nicht auf das DEINE.
Ich projiziere das Meine nicht auf das DEINE.
Ich nehme DICH ernst.
Ich achte und respektiere DEINE Worte.
Ich achte und respektiere DEINE Gefühle und Gedanken.
Ich achte und respektiere DEINE Wahrheit, auch wenn es nicht die meine ist.
Ich bin DIR gegenüber offen.
Nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen.
Ich gehe mit DIR in Resonanz. 
 
So entsteht tiefes Verständnis und tiefe Verbundenheit.


Mittwoch, 12. Juni 2024

Ein offener Geist

 

                                                                    Foto: pixybay


Es herrscht viel Angst in dieser Zeit.
Aus dieser Angst heraus versuchen Menschen die Zukunft zu kontrollieren oder sie versuchen vorhersehen zu wollen, was passiert.
Wahr ist: Wir können die Zukunft nicht vorhersehen.
Keiner von uns weiß, was kommt und was sein wird.
Manche aber behaupten zu wissen.
Sie geben Prognosen ab, machen unheilsame Prophezeiungen oder malen Bilder in den Köpfen der Menschen, was Schlimmes auf sie kommt, wenn sie dies und das nicht tun.
Selbsternannte SeherInnen projizieren ihre verdrängten Schatten und ihre Ängste auf ihre Mitmenschen und den Zustand der Welt, geben ihren Followern Ratschläge was zu tun ist und hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie betreiben Spaltung nach dem Motto: Wir sind die Guten und die anderen die Bösen. Und nur die Guten werden den drohenden Zerfall dieser Welt überleben.
Das Netz ist voll von bedrohlichen und angstmachenden Informationen, voll von Meinungen, Scheinwissen, Überzeugungen und Konzepten.
Je nachdem mit welchen Informationen wir unseren Geist täglich füttern, verfallen wir einem Glauben. Je mehr wir einem Glauben verfallen, desto mehr wird er zu unserer Wahrheit. Alles was dieser Wahrheit nicht entspricht, wird dann ausgeblendet. Der Geist ist verblendet. 
 
Verblendung ist niemals Klarheit und schon gar nicht Wissen und Wahrheit.
Ein gesunder Geist ist offen.
Seine Haltung ist die der Offenheit und der Unvoreingenommenheit.
Er hat Verstehen erlangt.
Dazu gehört die Haltung des “nicht wissens”.
Zu wissen ist die Haltung des Egos, weil das Ego sich sicher fühlen muss. Meinen zu wissen, verhilft dem Ego dazu sich mächtig zu fühlen. Wer glaubt jemand zu sein, der alles weiß, ist engstirnig, nicht willens zu lernen und auf Seelenebene zu wachsen.
Ein Mensch mit engstirnigem Geist sagt: „Ich weiß“.
In Wirklichkeit weiß er nichts. 
 
Entwicklung und Wachstum bedeutet: Offenheit, geistige Weite und die Bereitschaft zu erfahren und zu lernen.
Eine offene Geisteshaltung bedeutet auch zu erkennen, dass es beides in dieser Welt gibt. Das Negative und das Positive. Das Gute und das Ungute. Ein offener Geist weiß um beides und versteht beides. Er ist bestrebt das Gute zu tun, damit in seinem Einflussbereich nichts Ungutes entsteht.
Er schützt sich vor negativen Energien. 
 
Woran erkennen wir negative Energie?
Negative Energie erkennen wir daran, dass sie Ängste schürt.
Sie urteilt, beurteilt und verurteilt.
Sie ist starr, engstirnig und regide.
Sie betreibt Schwarzmalerei.
Sie redet andere Menschen und andere Ansichten schlecht.
Sie denkt die Welt sei böse und ihr etwas schuldig und lebt ständig in einer Anklage- und Vorwurfshaltung.
Sie betreibt Manipualtion.
Sie drückt anderen ihre Meinung auf.
Sie wertet alles ab, was nicht in ihren Denkrahmen passt.
Sie hat ein Netzwerk von unbewussten Fesseln und starren Glaubenssätzen, das so dicht ist, dass die Fähigkeit, offen zu denken und zu fühlen, fehlt.
Um dieser negativen Energie nicht anheim zu fallen, ist Bewusstsein erforderlich. Das bedeutet: Den Geist offen zu halten und achtsam zu sein, womit wir ihn nähren. 
 
Je achtsamer wir sind, je offener und klarer unser Geist ist, desto kleiner wird die Angst und umso größer wird das Vertrauen in uns selbst und unseren Weg in eine unbekannte Zukunft.

Montag, 10. Juni 2024

Warum ist es so schwer im Jetzt zu bleiben?

 

                                                                    Foto: Pixybay

 
"Wir haben nur den Moment. Wir leben im Jetzt. Das Jetzt ist alles, was wir haben. Zeit ist eine Illusion. Ich bin das Jetzt."
Wir alle wissen das.
Unser Leben spielt sich in der Gegenwart ab, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Was wir auch wissen: Wir sind nicht nur das Jetzt, wir sind alles: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, denn wir haben eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und mit einem Ende, irgendwann dann.
Die meistem von uns schaffen es nicht, bewusst in der Gegenwart zu leben. Körperlich sind wir zwar in dieser Zeitspanne präsent, geistig und emotional gelingt das allerdings nicht oder nur sehr wenigen.
Dabei wäre das Leben viel einfacher, wenn es gelänge.
Unsere Gedanken kreisen aber ständig zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Wir erinnern uns an Dinge die waren, wir denken an Dinge, die noch nicht sind und von denen wir nicht einmal wissen wie sie sein werden. Diese Gedanken haben mit dem was Jetzt, in diesem Moment in der Zeit ist, ist meistens nicht viel zu tun.
 
Während ich das schreibe, denke ich zum Beispiel an eine Klientin. Ihre Beziehung ist zu Ende. Sie hat großen Kummer. Sie leidet an dem Verlust ihrer Liebe. Andererseits weiß sie, dass die Trennung richtig war, denn die Beziehung war ein Desaster.
Worunter sie leidet sind die schönen Erinnerungen, die die hässlichen überdecken. Sie hat Sehnsucht nach dem Menschen, mit dem sie in der Vergangenheit so viele glückliche Momente hatte, obwohl dies nur für eine kurze Zeit so war. Zudem leidet sie darunter jetzt allein zu sein. Ohne Partner, ohne Liebe, ohne Berührung, ohne Dinge teilen zu können. Was ihr Leid schlimmer macht: Sie hat Angst für immer allein bleiben zu müssen, nie mehr einer neuen Liebe zu begegnen.
"Würde es Ihnen besser gehen, wenn Sie diese Angst nicht hätten?", habe ich sie gefragt.
"Ja", sagte sie, "dann könnte ich das Jetzt für mich besser gestalten, ich könnte ruhiger sein, angstlos und genießen was ich jetzt, trotz meinem Kummer, auch habe."
Wie hilfreich wäre es also für meine Klientin im Jetzt leben zu können. Präsent in der Gegenwart und jeden Moment achtsam zu erfahren, ohne die Gedanken, die sie belasten und ängstigen.
Es gelingt ihr aber nicht.
 
Und mir gelingt es auch nicht immer präsent im jetzigen Moment zu sein, denn sonst würde ich nicht über das vergangene Gespräch mit meine Klientin nachdenken. Ich würde in meinem Garten sitzen, meinen Körper und meinen Geist im Jetzt verankern, achtsam meinen Kaffee trinken, den Vögeln zuhören und nur wahrnehmen, was sich in diesem Moment abspielt.
Das könnte ich natürlich tun, mache ich später auch, aber würde ich das Jetzt leben, würde ich nichts schreiben. Und gäbe es das Gestern nicht, mit dem Problem meiner Klientin, gäbe es diesen Text nicht.
Es ist nicht möglich permanent mit der Aufmerksamkeit im Jetzt zu sein, wenn ich etwas schreiben will. Dazu brauche ich meine Erinnerung, die ich ins Jetzt hole. Es ist nicht möglich ständig im Jetzt zu sein, wenn ich etwas gestalten will. Es wäre auch nicht möglich mit meiner Klientin an ihrem Thema weiter zu arbeiten, wenn ich beim nächsten Termin gedanklich nur im Jetzt bleiben würde, denn ich brauche die Informationen, die ich gespeichert habe, um mit ihr weiter zu arbeiten.
Ich bin das jetzt und ich bin Vergangenheit und ich bin Erinnerung. 
 
Wr brauchen Erinnerung. In unserer Erinnerung ist ein reiches Wissen und ein reiches Erleben enthalten, das wir benötigen um im Jetzt überhaupt etwas tun zu können. Wüssten wir nicht wie Autofahren geht, weil wir es erinnern, wäre das z.B. auch höchst ungut. Wüsste ich nicht wie ich Worte schreibe, gäbe es meine Texte nicht.
Erinnerung ist in unserem Hirn gespeichert. Und sie ist immer präsent, auch wenn es Dinge gibt, an die wir uns sehr gerne nicht erinnern würden. Leider funktioniert unser Denkapparat aber nicht wie wir es wollen. Er speichert alles, auch den ganzen unseligen Kram unserer Vergangenheit. Er unterscheidet und wählt nicht nach hilfreich und nicht hilfreich, schön oder unschön und das Meiste an Erinnerung spult er automatisch ab. Gedanken und Gefühle übrigens.
Die Hirnforschung hat hinlänglich bewiesen, dass alles, was wir fühlen, denken und tun, von Gehirnprozessen vorbereitet, gestaltet und bewertet wird. Das Meiste davon ist unbewusst. "Wir sind nicht Herr im eigenen Haus", wie schon Sigmund Freud wusste, ohne den Blick ins Innere des Gehirns zu werfen. Denken, Handeln und Fühlen haben ihre physiologischen Entsprechungen, Gehirn, Psyche und Körper stehen in Verbindung und zwar wechselseitig.
 
Sich selbst zu befehlen, jetzt doch mal die Vergangenheit mitsamt den belastenden Erinnerungen sein zu lassen zu sein oder auszublenden, geschweige denn zu vergessen, funktioniert nicht. Und daher funktioniert es nicht mit unserem Bewusstsein immer präsent im Jetzt zu sein. Das Unbewusste lässt sich nicht ausknipsen. Es kann gelingen, immer wieder für Momente, aber eben nicht immer. Immer wieder innerlich kurz einen Schritt zurückzutreten, in Ruhe zu atmen und uns im Jetzt zu verankern, mehr geht nicht für den normalen Menschen.
Wir schweben ständig zwischen gestern und morgen.
Im Jetzt leben ohne an die Zukunft zu denken?
Auch das ist so gut wie nicht möglich.
Von Kindheit an werden wir konditioniert nach vorn zu schauen, auf das, was über den Ist-Zustand hinausgeht. Wir lernen, wir machen eine Ausbildung, um später einen Beruf zu haben und und und … Der gedankliche Verweis auf die Zukunft ist unabdingbar um im Jetzt das zu tun, was notwendig ist um Zukunft überhaupt zu gestalten. 
 
Auch wenn wir in der Gegenwart leben, wird diese Jetztzeit durch einen Zukunfts – und Vergangenheitsfilter erfahren. Dazu gehören auch Ängste vor der ungewissen Zukunft, wie bei meiner Klientin. Wir sind eben auch im Jetzt unsere Geschichte, die wir weiterschreiben. Wir sind auch im Jetzt unsere Erinnerung und wir denken auch im Jetzt an unsere Zukunft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander und daraus ergibt sich ein Konzentrat dieser Zeitebenen im Jetzt.
Zu meinen, wir müssten immer Jetzt sein, hört sich richtig gut an, aber es kann eben nicht dauerhaft gelingen. Wer das versucht, setzt sich massiv unter Druck. Wir Menschen sind so nicht konstruiert. Was auch durchaus Sinn macht, wie ich finde.
Was nicht heißt, dass wir um uns selbst zu beruhigen und unser Gedankenkarussel zum Stillstand zu bringen, immer wieder Momente herbeiführen können, wo wir vollkommen präsent im Jetzt sind. In der Meditation zum Beispiel und mittels anderer Achtsamkeitstechniken. Das gelingt immer öfter wenn wir kontinuierlich üben, indem wir immer wieder Pausen machen und uns bewusst ins Jetzt holen. Das gelingt wenn wir das, was wir gerade tun, achtsam tun, indem wir unser Gewahrsein bewusst nur auf das richten, was wir gerade tun.
Übrigens, das Jetzt ist auch nicht immer so schön, dass ich ständig darin verweilen möchte. Ich bin sehr dankbar, mich in den Zeitebenen hin und her bewegen zu können. 
 
 
„Die Zeit ist ein Zusammentreffen von Wirklichkeit und Erinnerung.“
– Milan Kundera

Donnerstag, 6. Juni 2024

Aus der Praxis: Schuld im Zusammenhang mit emotionalem Missbrauch


                                                      Malerei: A.Wende

 

Wie definiere ich den Begriff emotionalen Missbrauch?

Ich spreche von Missbrauch da, wo ein Mensch nicht respektiert, abgewertet, erniedrigt, gedemütigt, verwirrt, manipuliert, hintergangen, getäuscht, verraten und betrogen wird.

 

Wie sehe ich das Thema Schuld im Zusammenhang mit emotionalem Missbrauch?

 Die meisten Menschen, die emotionalen Missbrauch erfahren haben oder erfahren, haben keine oder nur eine geringe Chance sich gegen den Missbraucher zu wehren, wenn sie nicht rechtzeitig, bevor sich der Missbrauch einschleicht, die Red Flags erkennen und rennen.

Sie bleiben aus Zuneigung und Liebe zum anderen. Mit der der Zeit werden sie emotional destabilisiert, mental geschwächt, hilflos und, ohnmächtig. Sie müssen ihre Bedürfnisse, ihren Schmerz und ihren Zorn tief unterdrücken, um weitere Verletzungen oder Eskalation zu vermeiden, was wiederum dazu führt, dass der letzte gesunde Rest an Selbstwertgefühl und Selbstschutz zerbröselt. 

 

Wie oft höre ich in der Praxis: „Ich bin ja selber schuld, ich habe es mit mir machen lassen.“ Oder: „Ich habe nichts Besseres verdient, wer will mich denn schon?“

 

Betroffene haben „ES“ mit sich machen lassen. Das ist wahr. Wahr ist auch: Es gibt tiefliegende psychische Ursachen und Gründe warum sie ES mit sich machen ließen, derer sich die meisten Missbrauchsopfer aber nicht bewusst sind, eben weil sich Gründe und Ursachen dem Bewusstsein entziehen.

Was aber niemals sein darf: Dass diese Menschen sich die Schuld geben und sich dafür schämen, für das Leid, das man ihnen angetan hat. Damit übernehmen sie etwas, was nicht das ihre ist: nämlich die Schuld und die Scham, die in Wahrheit zum Täter gehören. Sie übernehmen die Verantwortung für das, was nicht in ihrer Verantwortung lag.. Damit sprechen sie den Täter frei und machen sich selbst zum Täter - an sich selbst.

 

„It takes two für Tango“, auch das ist wahr.

Aber wer von uns erwartet beim Tango, dass ihm der Tanzpartner aus purer Lust, Ignoranz oder aus Grausamkeit ständig auf die Füße tritt und immer weiter macht, auch wenn wir vor Schmerz laut aufschreien?

Nun kann man sagen:

Wer den Tanz nicht selbst beendet wird weiter leiden.

Stimmt.

Wer den Tanz nicht beendet, kann es nicht, denn könnte er es, würde er es tun. 

Stimmt.

 

Selber schuld! Nein nicht selber schuld! Schuldumkehr! 

Schuldumkehr das machen Narzissten, das machen unreflektierte und unreife Menschen, die keinerlei Verantwortung kennen und tragen wollen,  und das machen viele Menschen wenn es um emotionalen Missbrauch geht  mit sich selbst und sie müssen es auch von Außenstehenden erfahren.

Du bist ja selbst schuld, warum verlässt du ihn, sie nicht? Warum bist du so blöd, so naiv, so blind, so schwach usw. gewesen? Warum hast du dir das gefallen lassen? 

Die Schuldumkehr in der Selbstanklage klingt dann so: „Ich bin wertlos, mich kann man nicht lieben, ich war nicht lieb genug, ich habe ihn/sie nicht richtig geliebt, ich bin zu schwach“, und und und .. 

Der dümmste und menschenverachtendste Spruch zum Thema Schuldumkehr: Der Missbraucher ist nur dein Spiegel. Noch krasser kommt ein Spruch aus der spirituellen Fraktion daher: Die Seele wollte oder will das erleben.

Solche Sätze kommen von Menschen, die sich ihre eigene Welt bauen um die Wahrheit über allzu Menschliches - und dazu gehört auch das Böse und die Schuld - dahin zu biegen, wo  es für sie konsumierbar ist. 

Wahr ist: Es ist eine zum Himmel schreiende Ignoranz und eine an Gleichgültigkeit und Dummheit grenzende Verleugnung gegenüber dem Leid und der Grausamkeit, die Menschen anderen Menschen zufügen. Es gibt das Böse und wo es zuschlagen kann, wird es zuschlagen. Und nein, dann habe ich es nicht eingeladen. Er, du, es, wir, sie haben es nicht eingeladen.

 

Jeder Mensch verdient Respekt, Wertschätzung, Ehrlichkeit und achtsame Behandlung. 

Jeder, auch jene Menschen, die ihre Grenzen nicht kennen, die zu sensibel, zu gutmütig, zu naiv, zu empathisch sind oder traumatische Erlebnisse hatten, die ihren Selbstwert geschwächt oder zerbröselt haben, verdienen all das, wenn sie eine Beziehung eingehen. 

Niemand stellt sich freiwillig und bewusst einem emotionalen Missbraucher zur Verfügung und sagt: „Mit mir ist es möglich!“ 

Es ist möglich, aber die Erlaubnis des Möglichen geschieht unbewusst. 

 

Wird ein Mensch emotional missbraucht, ist er nicht schuld daran. Schuld trägt der, der den Missbrauch ausübt.  

Sehr viele Menschen, die emotionalen Missbrauch erleben oder erlebt haben, reagieren ihre unterdrückte Wut nicht am Täter ab, sie bestrafen sich selbst für das, was ihnen angetan wurde, so wie sie es in der Kindheit gelernt haben. Sie werden krank, abhängig von Tabletten, Alkohol oder Drogen oder sie leiden an Ängsten und Depressionen oder sie ziehen sich aus der Welt zurück.  

Sie nehmen das alles in Kauf, um ja niemals den Täter zu beschuldigen. Immer suchen sie die Schuld bei sich selbst.

 

Ich höre jetzt über 16 Jahre Jahre als Coach meinen emotional missbrauchten KlientInnen zu und muss feststellen, dass sie ausnahmslos alle misshandelte und auf irgendeine Weise missbrauchte Kinder waren, aber ebenso wie sie diese Wahrheit leugnen und ihre Eltern in Schutz nehmen, nach dem Motto: „Sie konnten ja nicht anders“, leugnen sie die Schuld des missbrauchenden Partners und suchen sie beschämt bei sich selbst und ihren eigenen seelischen Defiziten. 

Heißt: Sie selbst hätten anders gekonnt und die armen Eltern nicht. 

Sie selbst hätten anders gekonnt und der arme Missbraucher nicht.

Sehr unheilsam dieses Denken. 

 

Die Verleugnung des eigenen in der Kindheit erfahrenen Leids, ebenso wie die Verleugnung des im Erwachsenalter erfahrenen Leids durch andere ist nicht nur unheilsam, sondern gefährlich für die Opfer und für die Täter gleichermaßen. 

Nur, dass mich die Täter an dieser Stelle gerade nicht interessieren. 

Mich interessieren all die Menschen, deren Seelen kaputtgemacht wurden und kaputt gemacht werden, die sich nicht wehren können, weil sie es nicht können.  

 

Menschen, die als Kinder misshandelt und missbraucht wurden, wird sogar in Therapien oft geraten ihren Misshandlern zu vergeben, auch denen, die später das Gleiche mit ihnen machen wie die Misshandler der Kindheit. Aber, und das weiß ich aus meiner Erfahrung mit vielen Menschen: Das Vergeben heilt keine Wunden. 

Wunden heilen, wenn überhaupt, durch das Zulassen der schmerzhaften Wahrheit, durch das Zulassen und das Durchleben der unterdrückten und verleugneten Gefühle, nicht aber durch Selbstbeschuldigung und angeratene Vergebung - das ist Selbstverrat. 

 

Um zu heilen, müssen die Wunden aufgedeckt werden und nicht verborgen bleiben. 

Um zu heilen muss nach der Ursache gesucht werden, warum der Missbrauch zugelassen werden konnte. Was in einem selbst es möglich machte. 

Um zu heilen, muss die Schuld denen zurückgegeben werden, die sich schuldig gemacht haben. 

Selbstverrat führt allein dazu, dass sich Opfer von emotionalem Missbrauch auch wenn der Missbrauch beendet ist, selbst genauso mies behandeln wie sie von ihrem Missbraucher behandelt wurden.

Damit hört das Leiden niemals auf. 

Der Weg der Heilung bedeutet für missbrauchte Menschen: Selbstermächtigung und nicht Selbstanklage.