Donnerstag, 21. Februar 2013

Melancholie


 
Ich bin nicht die Einzige, sagte sie auf seinen Vorwurf hin, sie kultiviere ihre Melancholie, wolle sie nicht loslassen aus Angst zu verlieren, was sie seit einer Ewigkeit innerlich zusammenhielt. Er dachte das. Sie dachte anders darüber. Sie wusste, dass es anderen ähnlich ging. Auch wenn das keine Rolle spielte, sie hatte ihm das sagen müssen, das mit dem nicht einzig sein. Vielleicht in der Hoffnung seine Zustimmung zu erhalten. Er schwieg, nahm ihre Hand und legte sie auf die Seine. Seine Hand war warm.

Sie hatte erfahren, dass Begegnungen in gleicher Feldstärke und Seelentiefe selten waren. Sie wusste wie es sich anfühlte, wenn die Radikalität der Sinnfrage in die innere Einsamkeit zog. Sie hatte erfahren, dass die Einsamkeit eine verlässliche Vertraute war, dass sie den Suchenden immer wieder einholte, ihm keine Flucht und keine Ablenkung erlaubte.

Er nahm einen Schluck von dem roten Wein, von dem er zu viel trank, obwohl er immer wieder sagte, es sei ungut zu viel zu trinken. Sprich weiter, sagte er, ich will verstehen. Sie dachte, er trinkt um nicht zu ertrinken und dass sie das auch manchmal tat und dass es ihr egal war, dass er es tat oder sie. Das Leben war ungesund, mit und ohne den Wein. Die Einsamkeit will ausgehalten werden, sagte sie, sie ist eine der intensivsten Befindlichkeiten. Sie gleicht einer Übung im Sterben und ist Auferstehung zugleich, sie ist eine Übung in Demut, geboren aus der Einsicht in die Vergänglichkeit aller Dinge. Er schüttelte den Kopf, sagte, er habe keine Angst, nicht vor der Vergänglichkeit und nicht vor dem Sterben.

Sie lächelte, weil sie das mit der Angst gar nicht gesagt hatte. Sie hatte Angst vor der Vergänglichkeit und vor dem Sterben. Vor dem Tod fürchtete sie sich nicht. Warum kannst du nicht einfach loslassen von diesen Gedanken, sie sind so schwer. Dein Lächeln ist leicht. Ich liebe es, wenn du lächelst. Er versuchte ein Lächeln. Sie lächelte zurück, weil sie es auch liebte, ihr Lächeln. Sie liebte die Einsamkeit mehr. Sie wusste, wenn sie ihm das sagen würde, würde es ihn traurig machen, weil es seinen Ausschluss aus ihrem Leben bedeutete. Er wollte seins mit ihrem teilen. Keiner sollte mit dem anderen alles teilen, schon gar nicht sein Leben, dachte sie. Sie wusste, dass es von den Erfahrungen abhing, die einer gemacht hatte, ob er die Einsamkeit liebte. Vielleicht, dachte sie, macht jeder die Erfahrungen, die er macht, weil er ist, was er ist. Als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte er, Einsamkeit ist eine Erfahrung. Die Sehnsucht nach der Einsamkeit entsteht durch ein ständiges Abrufen dieser Erfahrung, bis man denkt, man kann nicht mehr anders leben. Lass los, du brauchst sie nicht mehr, bat er sie.

Sie zündete sich eine Zigarette an und dachte nach, über das was sie brauchte und das, was sie nicht brauchte. Der Rauch sponn graublaue Fäden, die sich in der Scheibe des Fensters widerspiegelten und verdoppelten. Draußen war Nacht. Distanziert und nüchtern ragten die Häuser im fahlen Schein der Straßenlaterne aus dem nassen Pflaster in den Himmel. In statuarischer Pose sprachen sie von Beziehungslosigkeit, Entfremdung und Isolation. Das diffuse Licht dramatisierte die Melancholie, die sie plötzlich umfing. Die im Schwarz der Nacht abgetönten Fassaden erschienen ihr wie eine Übersteigerung der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, der sie nicht standhalten wollte. Komm da raus, sagte er, tu es für dich, komm da raus. Sie drückte die aufgerauchte Zigarette in den Aschenbecher. Sie war sich nicht sicher, ob er es nicht für sich selbst wollte.








4 Kommentare:

  1. In meine Blogroll aufgenommen. Mal sehen. Ich liebe Mainz, in Wien bisher einmal, ich liebte Ludwig Hirsch, sah ihn einmal im Unterhaus....
    Gruß von Sonja

    AntwortenLöschen
  2. danke sonja,

    das freut mich!

    ich liebte ludwig hirsch, ich hatte als mädchen alle platten von ihm, konnte seine texte auswendig, leider habe ich ihn live nie gesehen...

    gruß nach wien
    angelika

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Angelika,
      nicht nach Wien grüßen, ich lebe in Rheinhessen, habe es nicht weit nach MZ....

      Löschen
  3. liebe sonja,

    pardon ... gruß nach rheinhessen :-)

    AntwortenLöschen