Mittwoch, 31. Mai 2023

Aus der Praxis: Wenn alles zusammenbricht

 



Ganz plötzlich ist etwas, was gewohnt und vertraut war zu Ende. Etwas was dir sehr wichtig war, etwas von dem du geglaubt hast, es ist eine tragende Säule deines Lebens, etwas, wovon du meintest, es gehört unabdingbar zu dir und zu deinem Leben. Oder es war etwas in das du deine ganze Hoffnung gelegt hast, in das du Zeit und Energie investiert hast – ein Projekt ein Traum, eine Beziehung, deine Arbeit. Und manchmal bricht sogar alles auf einmal oder kurz nacheinander weg, das vertraut war.
In diesem Moment fühlt es sich an, als würde dir der Boden unter den Füßen weggezogen. Deine Welt bricht zusammen. Du hast das Gefühl versagt zu haben. Du fragst dich, wie du jetzt weiter machen sollst und weit und breit ist keine Lösung in Sicht. In diesem Moment siehst du nur, was du verloren hast und bist nicht fähig zu ermessen, was du gewinnen wirst. Aber du wirst etwas gewinnen, auch wenn du es jetzt nicht glauben kannst. 
 
Wenn das Alte zusammenbricht heißt das, etwas hat sich überlebt. 
Eine Beziehung, die schon lange nicht mehr funktioniert hat, ein Job, den du schon lange nicht mehr machen wolltest, ein Ort, an dem du dich nicht wohl gefühlt hast und den du schon lange verlassen wolltest, eine Weltanschauung, die schon lange nicht mehr zu dem Menschen passte, der du in diesem Moment in der Zeit bist. Du hast es nur verleugnet, du hast dich selbst getäuscht um das, was ungut war, nicht verändern zu müssen. Du hast in deiner Komfortzone gelebt um etwas vor dir selbst zu leugnen, und dieses Etwas war: So wie es ist, ist es nicht richtig für mich. Ich bin nicht zufrieden und schon gar nicht glücklich.
Jetzt hast du keine Wahl: Du musst du dich der Veränderung stellen.
Das bedeutet: Neu anzufangen.
Und du hast keine Ahnung wie das gehen soll.
 
Du wirst vielleicht viele Abende alleine dasitzen und du wirst lernen müssen mit dir allein zu sein. Du wirst lernen die Zeit mit dir allein zu schätzen. Du wirst dir Zeit nehmen müssen, deine Wunden zu versorgen, die durch den Verlust entstanden sind.
Du wirst dich vielleicht einsam fühlen, elend und von aller Welt verlassen. Du wirst Angst bekommen, denn du allein bist es, die jetzt dafür sorgen muss, dass es weiter geht. Niemand wird dich retten, egal wie viel Unterstützung du hast, das ist jetzt dein Job.
Du wirst praktische Dinge regeln müssen, du wirst dir eine neue Struktur schaffen müssen, ein Zuhause, indem du dich wohl und geborgen fühlst, ein Ort des Friedens, von wo aus du deine neue Lebensrichtung finden und planen kannst. Du wirst Tage und Nächte der Verzweiflung, des Schmerzes und des scheinbar nicht enden wollenden Kummers erleben und du wirst Angst haben, es nicht zu schaffen, dein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen und neu zu beginnen. 
 
Als Erstes wirst du aussortieren müssen.
Was dir dient, wirst du behalten und pflegen, was dir nicht mehr dient, wirst du loslassen.  
Du wirst allen Ballast abwerfen, der dich am Weitergehen hindert. Alte schädliche Glaubenssätze und blockierende innere Überzeugungen, Gewohnheiten und Menschen, die dir nicht guttun, Vorstellungen, die dich blockieren, Bedürfnisse, die sich nicht erfüllen lassen, auf die Art und Weise wie du es zuvor versucht hast. Alles was in deinem Leben längst abgestorben ist, alles, was nicht funktioniert hat, wirst du sein lassen. Wenn all das aussortiert ist, kann sich das verdammt leer anfühlen. Das musst du erst einmal aushalten. Ich weiß, das ist eine schwere Übung, aber sie wird dich stark machen, denn du wirst aushalten, mehr als du dir jemals zugetraut hast. 
 
Du wirst dir Zeit geben müssen um zu trauern.
Zeit um zu genesen und Zeit um den Schaden, der entstanden ist, zu reparieren. Und dann beginnst du mit dem, was du noch hast, von vorne. Von da aus, wo du jetzt bist.
Das bedeutet dich zunächst dem anzupassen wie es jetzt ist.
Den Ist-Zustand anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Es bedeutet dir eine Vision zu erschaffen von dem Leben, das dich zufrieden macht, und nicht von einem Leben, von dem man dir beigebracht hat, wie es zu sein hat, damit es eins ist.
Du wirst erkennen was deine Stärken und Ressourcen sind und sie dir bewusst machen um sie zu nutzen. Du wirst Dinge (wieder) finden und tun, die dich nähren und dir Energie geben. Und mehr davon machen.Du wirst lernen dich selbst an erste Stelle zu setzen, denn nur wenn du stabil und klar bist, kannst du für andere da sein.
 
Jeden Tag auf Neue wirst du etwas tun, um zu genesen, so gut du es kannst, ohne dir Druck zu machen, ohne zu denken, das muss schnell gehen. Und wenn du einen Tag gar nichts schaffst, ist das auch okay. Ruh dich aus. Morgen ist auch noch ein Tag.
Wir beginnen zu genesen, wenn wir den Widerstand aufgeben, gegen das, was unveränderbar ist und wenn wir bereit sind die Fragen zu beantworten, die das Leben uns in diesem Moment unserer Reise stellt. Mit Widerstand meine ich auch all die Widerstände in dir selbst, die gegen dich selbst sind. Die hohen Erwartungen, die du an dich selbst stellst, die Gedanken, die du über dich selbst hast: Dieses Ewige: Ich bin nicht gut genug.
Du bist gut genug und du warst es schon immer!
Wenn dir das Leben etwas nimmt, heißt es nicht, dass es dich strafen will, es nimmt dir das, was du nicht mehr brauchst und gibt dir, was du brauchst, um aus deinem abgestorben Ich herauszukommen und dich zu dem Menschen werden zu lassen, der du im Kern bist, bis du erkennst – ich war schon immer gut genug.
Wenn du das erkannt hast, wirst du neu beginnen und das, was dir wirklich entspricht, erfüllen und Wirklichkeit werden lassen.
All dies erfordert Zeit, Geduld mit dir selbst, Mitgefühl mit dir selbst, Fürsorge für dich selbst, radikale Selbsterkenntnis, Bewusstheit und eine große Portion Mut. 
Es bedeutet auch: Mit der Angst und trotz der Angst weiter zu gehen.
Wer jetzt denkt: "Die hat gut reden, wenn das mal so einfach wäre." 
Ich stehe wie vielleicht du jetzt, genau an diesem Punkt.
Ich muss mich neu erfinden und ich bin bereit dazu. 
 

“Fear is a natural reaction to moving closer to the truth.”
- Pema Chödrön
 

Montag, 29. Mai 2023

Du bist keine Option!

 


                                                                  Malerei: A.Wende


Beziehungen sind wichtig. Sie schenken uns Verbundenheit, Halt und im besten Falle Liebe. Authentische, gesunde Beziehungen zu anderen Menschen gehören zu einem erfüllten Leben.
Darum ist es so wichtig, uns unsere Beziehungen genau anzuschauen, ob sie uns guttun oder nicht. Nichts vergiftet unser Leben so sehr wie unheilsame Beziehungen. Sie rauben uns das Wertvollste was wir haben: Unsere Energie. 
 
Unheilsam ist eine Beziehung …
Wenn du merkst, dass jemand wenig oder nichts in eure Beziehung investiert.
Wenn jemand nicht respektvoll mit dir kommuniziert oder dich respektlos behandelt.
Wenn er unzuverlässig ist und sich an nichts, was vereinbart war, hält.
Wenn er sich nur bei dir meldet, wenn er etwas von dir will.
Wenn er dich Tage lang ignoriert und die Kommunikation abbricht.
Wenn er emotional nicht das Gleiche in die Beziehung einbringt wie du.
Wenn du viel gibst und wenig oder nichts zurückkommt.
 
Hör auf ihm hinterherzulaufen.
Die Strategie funktioniert nicht.
Mehr ist nicht mehr.
Mehr führt zu noch weniger.
Hör auf zu glauben, du kannst ihn ändern.
Der andere wird sein Verhalten nicht ändern, vielmehr wird er genauso weitermachen, weil er merkt, dass du es mit dir machen lässt, weil du zulässt, dass er mit dir so umgehen kann. Also wird er es weiter tun. Du gibst ihm ja die Erlaubnis dazu.
 
Mach niemanden zu deiner Priorität, für den du lediglich eine Option bist!
Versuche keinen Menschen festzuhalten, der nicht bei dir sein will.
Schenke deine Liebe niemanden, der nicht bereit ist dich zu lieben.
Schenke deine Freundschaft niemanden, der sie nicht pflegt.
Zu diesen Menschen gehörst du nicht.
Sei nicht für Jemand da, dem deine Anwesenheit nichts bedeutet.
Lass dich nicht als Lückenbüßer, Kummerkasten oder Problemlöser benutzen.
Hör auf ihm zu texten oder ihn anzurufen.
Hör auf um Aufmerksamkeit und Zuneigung zu betteln.
Versuche nicht zwanghaft ihn für dich zu gewinnen.
Hör auf dich selbst zu entwürdigen.
Hör auf dich zu fragen: Warum ist er so? Warum behandelt er mich so? Was mache ich falsch?
Erlaube diesem Jemand nicht deine Energie zu fressen und dich geringzuschätzen.
Du bist wertvoll, lass das nicht zu.
Wenn du von einem Menschen übergangen, subtil verletzt oder missachtet wirst, schadest du dir selbst, wenn du ihm weiterhin deine Energie und deine Zeit widmest.
Gib dich nicht mit einer solchen Behandlung zufrieden.
Gibt dich nicht mit schwer verdaulichen Brosamen zufrieden.
Sag nicht ja, zu etwas, was sich nicht gut anfühlt.
Was sich nicht gut anfühlt, ist nicht gut!
 
Wenn du aufhörst deine wertvolle Energie in die Beziehung zu investieren ist sie vielleicht zu Ende. Wahrscheinlich ist sie sogar sehr schnell zu Ende. Du bist ja nicht mehr zu gebrauchen.
Daran wirst du erkennen, dass das, was du gegeben hast, das Einzige war, was diese Beziehung überhaupt aufrechterhalten hat.
Ersetze diese Beziehung durch das, was dir im Leben wichtig ist.
Ersetze sie durch Werte, die dir wichtig sind und denen du folgst.
Durch Gefühle, die heilsam sind.
Durch Dinge, die wesentlich sind.
Durch das, was du zu tun liebst.
Und indem du dich Menschen zuwendest, denen du wirklich wichtig bist.
Einer dieser Menschen bist DU.
Du bist wertvoll. Vergiss das nie! Sei gut zu Dir!

Woran du merkst, dass du auf dem richtigen Weg bist.

 

                                                                        Foto: www

Wenn du dich anstrengen musst, um dich selbst davon zu überzeugen, dass du auf dem richtigen Weg bist, ist es mit Sicherheit nicht der richtige.
Wenn du auf dem richtigen Weg bist, ist alles einfach.
Natürlich kannst du auch all die Steine, die im Weg liegen aufheben und wegräumen oder wie Goethe schreibt: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.“
Aber, hast du nicht schon genug Steine aufgehoben und noch immer nichts Schönes gebaut? Wäre es nicht weniger anstrengend und mühsam, endlich den richtigen Weg zu gehen?
Nur wie findest du ihn?
Den richtigen Weg gehen ist keine Kopfsache.
Du spürst es. Es ist das Gefühl des Einklangs mit dem, was das Leben in diesem Moment in der Zeit von dir will. Es bedeutet zu erkennen und dem nachzukommen, was tief im Einklang mit deinem Sein ist und wie ehrlich und wahrhaftig du mit dir selbst bist. Wenn du im Einklang bist, vertraust du deiner inneren Führung und der Weg ist einfach und leicht. Du gehst ihn, folgst deiner Intuition, innerlich ruhig und sicher, im tiefen Vertrauen, dass es der deine ist.
Manchmal sind wir innerlich so gefangen und blockiert, dass wir den richtigen Weg, der sich vor uns auftut, nicht sehen können. Wir sind dem Weg auf dem wir gehen lässt entwachsen und können nicht sehen wo es jetzt langgeht. Wir sind so gefangen ins uns selbst, dass wir nicht achtsam sind und den Weg der hell und leuchtend vor uns liegt, glatt übersehen. Unser Fokus ist so fixiert, dass wir kurzsichtig sind. Wir haben Vor-stellungen im Kopf, die uns wie Bretter den Blick verstellen. Wir wollen es so, wie es ist, partout nicht haben und denken wir brauchen dies und das und suchen danach.
Wir laufen vielleicht mit einem gebrochenen Herzen herum und suchen auf verschiedensten Wegen jemand, der es heil macht. Wir sind so bedürftig, dass wir jede Abzweigung nehmen, die uns von dem wegbringen soll, was wir eigentlich tun müssten: Auf uns selbst zugehen, uns um uns selbst kümmern und uns Zeit nehmen um zu genesen. Wir gehen einen Weg nach dem anderen, nur um nicht den Weg zu uns selbst gehen zu müssen. Weil er sich als der beschwerlichere anfühlt oder weil wir Angst haben auf diesem Weg alleine zu sein, vielleicht für immer.
Wir gehen einen Holzweg nach dem anderen, sehen das Geröll, das uns entgegenkommt, schuften uns ab um es wegzuräumen, kümmern uns um die Probleme und Nöte anderer, nur um uns nicht um uns selbst kümmern zu müssen. Wir nehmen jeden noch so dunklen Weg, nur weil er uns vorgaukelt uns vor uns selbst zu retten und vor den wahren Gefühlen, die wir haben, um sie nicht fühlen und aushalten zu müssen. Je länger wir das tun, desto müder, schwerer und verzagter werden wir.
Wir sind auf dem falschen Weg und wissen es eigentlich längst. 
 
"When you start following your intuition you begin to experience the phenomen of synchronicity.
If it is fantasy, you don´t get that kind of help.
You get closed doors."
- Caroline Myss

Sonntag, 28. Mai 2023

Veränderung, Neuanfang, Kreativität

 


Wir genießen die freien Tage, machen was wir lieben und freuen uns an der Schönheit der herrlichen Pfingstrosen. Aber was war da eigentlich an Pfingsten?
Wieso feiern Christen das Pfingstfest?
Fünfzig Tage nach dem Tod Jesus am Kreuz sitzen die Jünger in Jerusalem zusammen, als plötzlich ein gewaltiger Wind das Haus erschüttert: „Sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in anderen Sprachen“, steht in der Bibel.
Von nun an hörten die Menschen die Jünger in ihrer jeweiligen Muttersprache sprechen. Darin besteht, laut der Bibel, das Pfingstwunder: Gott schenkt seinen Geist allen, die an ihn glauben. Pfingsten als Symbol für einen Neuanfang, für die göttliche Kraft der Veränderung und Kreativität.
 
Man mag nun Christ sein oder nicht, manchmal brauchen wir einen Neuanfang, weil es so wie es, ist nicht mehr ist. Dann brauchen wir die Kraft der Veränderung um aus dem Loch, in dem wir feststecken, herauszukommen, um einen Verlust zu überwinden, um uns neu zu erfinden, um weiter gehen zu können. Das ist nicht leicht. 
 
Veränderung zulassen bedeutet - sich einzulassen - auf Neues.
Es bedeutet unbekanntes Terrain zu betreten, ohne das Wissen wie es dort aussieht, was uns erwartet und wie es ausgeht. Weil wir so voll sind mit Angst vor dem Ungewissen, fürchten sich viele von uns vor Veränderungen. Das ist absolut menschlich.
Aber was wollen wir tun, wenn wir uns verändern müssen?
Wenn das Leben einen radikalen Schnitt macht zwischen dem Gestern und dem Heute? Wenn es absolut nicht mehr so weitergeht wie es war? Wollen wir erstarren und gelähmt sitzen bleiben? Wie ein Kind unter die Bettdecke kriechen, und glauben, man sieht uns nicht, und weil man uns nicht sieht, sind wir in Sicherheit?
Es gibt keine Sicherheit, schon gar nicht unter der Bettdecke.
Die Veränderung holt uns ein, egal was wir machen, weil sie zum Leben gehört. Weil nichts bleibt, auch wir nicht, am Ende.
 
Alles geht vorüber, jedem Ende aber folgt ein neuer Anfang.
Und wie dieser wird, das können wir gestalten mit unserer Kreativität - das ist Schöpfertum.
Auch wenn wir Angst haben, es muss weiter gehen, es sei denn, wir entscheiden uns aufzugeben, und auch das ist Veränderung. Ich erinnere mich an den Vater meines Sohnes, der aufgegeben hat, weil seine Angst vor der Veränderung riesengroß war. Er hat sich das Leben genommen und damit hat er nicht nur seine Qual beendet, er hat mit seinem Freitod das Leben meines Sohnes und das meine radikal verändert. Wir mussten neu anfangen mit einer großen Last, die den Neuanfang schwer machte. Wir haben ohne ihn zu leben gelernt. Ich erinnere mich an einen Menschen, der, anstatt sich einem Neuanfang zu stellen, seine Angst und seine Verzweiflung mit Alkohol betäubt hat und jetzt, in der chronischen Phase der Sucht angelangt, fehlt ihm die Kraft noch irgendetwas kreativ zu verändern. Nun, auch das ist Veränderung, allerdings zum Unheilsamen hin.
 
Egal wie wir auf einen Veränderungsruf des Lebens antworten, es liegt an uns, wie es weitergeht. 
Wir können ja dazu sagen und nach Lösungen suchen oder wir können uns dem verweigern, wozu uns das Leben herausfordert. Wenn wir aber nichts proaktiv ändern, ändert es sich für uns. Dann sind wir Spielball der Umstände und fühlen uns machtlos. Wir fühlen uns als Opfer und ergeben uns in das, was ist und wird. Manche Menschen haben die Kraft zu einem Neuanfang nicht.
Ihr Geist lässt es nicht zu, ihr Körper ist zu schwach oder ihre Seele ist todmüde. Das ist unendlich traurig. Dann sollten wir nicht urteilen, denn wir gehen nicht in ihren Schuhen.
Aber solange wir noch Kraft haben, solange wir hoffen und das Leben lieben, können wir immer wieder neu beginnen. Jeden Tag können wir das. So wie die Sonne jeden Morgen neu aufgeht, können wir unseren Geist jeden Morgen neu ausrichten und uns auf unsere Kreativität besinnen, um das zu verändern, was verändert werden will.
Und ja, manchmal dürfen wir auch müde sein, von den ewigen Veränderungen im Leben und uns sagen: Fuck it, tu nichts, ruh dich aus und versuch es Morgen wieder!

Samstag, 27. Mai 2023

Viva la Vida!



Warum wollen so viele etwas anderes sein, als sie sind?
Warum diese tiefe Unzufriedenheit?
Besser, schöner, erfolgreicher, beliebter, perfekter, mehr Geld, mehr Macht, mehr Erleuchtung. Weiter, schneller, höher.
Warum nicht einfach dankbar sein für das Leben, das uns geschenkt wurde und mit ihm die Möglichkeit es zu gestalten?

Das Leben ist schön. Mit allem, was es ausmacht.
Auch das Leiden gehört dazu, wir wachsen daran, wir lernen daraus, es gehört zu unserer Reise.
"Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde", schrieb einst Goethe.
All die Schicksalsschläge, all die großen und kleinen Unglücke, die uns treffen und unser Leben radikal verändern, all die Verluste und Trennungen, die Enttäuschungen, die Wunden und Verletzungen, die wir erleiden – auch das ist Leben. Manchmal braucht es vielleicht sogar einen Schicksalschlag um uns wach zu rütteln, damit wir erkennen wie kostbar und wertvoll das Leben ist, damit wir lernen dankbar zu sein, für das, was wir haben und nicht wertgeschätzt haben.
Der Umgang und die Verarbeitung solcher Erfahrungen sind weniger leidvoll, wenn wir sie als als Teil des Lebens selbst betrachten. Jedes Sterben im Leben ist auch die Chance uns neu zu erfinden. Wenn wir uns wieder "neu erfinden", entspricht dies genau diesem "Stirb und werde!"
Ganz davon abgesehen, dass Leiden auch tief macht.
Weil aus Leiden auch wunderbare Erkenntnisse geboren werden. Weil aus Leiden Großartiges entstehen kann. All die Kunstwerke all der "leidenden" Künstler in Wort, Schrift, Musik, Bild, es gäbe sie nicht.
All den kleinen Toden im Leben, folgt, wenn wir offen dafür sind, eine Auferstehung und manchmal sogar Momente der Erleuchtung. Ich bin dankbar, dass ich lebe. Ich liebe das Leben, mit allem, was es ausmacht. Oder wie Frida Kahlo sagte, die ihr Leben lang unter Schmerzen litt: Viva la Vida!

"Schmerz, Vergnügen und Tod sind nicht weiter als ein Prozess der Existenz. Der revolutionäre Kampf in diesem Prozess ist ein Tor zur Intelligenz. "
Frida Kahlo

Dienstag, 23. Mai 2023

Karma - Wir treffen Entscheidungen im Leben, aber letztlich treffen unsere Entscheidungen uns

 

                                                                   Foto: www
 
Aus dem Buddhismus kennen wir das Wort „Karma“, das Prinzip von Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion. Man kann es auch so ausdrücken: Jede unserer Entscheidungen führt zu einer Handlung und jede Handlung hat eine Wirkung.
Sie hat Aus - wirkungen auf uns selbst, auf andere, auf die Welt.
Wenn ich an das Prinzip Karma glaube und mein Jetzt anschaue, dann sagt mir das viel über meine Entscheidungen und Handlungen in der Vergangenheit. Karma ist das Ergebnis all meiner vergangenen Entscheidungen und Taten. Jede Einzelne holt mich irgendwann ein. Im Guten wie im Unguten. Alles Unerledigte, Verdrängte, jedes Trauma, alles Unheilsame, das ich getan habe, sei es wissentlich oder unwissentlich, kommt in meine Gegenwart zu seiner Zeit. 
 
Wenn uns Unerledigtes einholt, dann wissen wir, wir können das, was wir in der Vergangenheit getan oder versäumt haben zu tun, nicht ändern. Es ist schmerzhaft zu erkennen, wo wir nicht im Guten und nicht verantwortungsvoll uns selbst und/oder anderen gegenüber entschieden und gehandelt haben.
Wir können uns beschweren, wir können uns Vorwürfe machen, wir können uns grämen, uns grollen, wir können wütend sein oder uns als Opfer fühlen und uns beklagen – es ändert nichts. Das Unerledigte steht groß vor uns und fordert uns auf es zu erledigen.
Wir können wieder neu entscheiden, ob wir es dieses Mal erledigen oder es wieder nicht erledigen. Tun wir es wieder nicht, haben wir einen Aufschub erreicht, aber es wird wiederkommen. Und eines Tages kommt es laut und donnernd wie ein erschütternder Gongschlag wieder und wir müssen uns ihm stellen.
Es gibt keinen Ausweg mehr.
Wir müssen Verantwortung übernehmen, auch wenn diese Verantwortungsübernahme bedeutet, dass sich alles ändert, was war und was ist.
Das kann sich anfühlen wie ein Sturz in die Bodenlosigkeit. Es kann diesen Sturz sogar bedeuten: Wir stürzen in ein tiefes schwarzes Loch. Es gibt nichts um den Sturz aufzuhalten. Wir sehen keinen Grund mehr, das Loch verschluckt uns. Wir wissen nichts. Wir haben keine Ahnung wie es jetzt weitergeht – wir wissen nur – so wie es war, geht es nicht weiter.
Weil es so nicht weitergehen soll.
Weil wir lange auf dem Holzweg waren.
Weil wir lange nicht bewusst waren.
Weil wir lange verdrängt haben.
Weil wir lange uns selbst und anderen etwas vorgemacht haben.
 
Jede Bodenlosigkeit, jedes schwarze Loch ist ein Aufruf mit offenem Herzen und offenem Geist hinzuschauen und unser Tun und Handeln im Jetzt genau zu überlegen und neu zu entscheiden und heilsam zu handeln, egal was wir dabei zu verlieren glauben oder wirklich verlieren. Es geht darum es jetzt anders zu machen indem wir eine Entscheidung treffen, die aus einem klaren Geist kommt und aus einem offenen Herzen , auch wenn es weh tut, auch wenn es bedeutet, wir müssen etwas loslassen für das wir all die Jahre gelebt und gekämpft haben. Wir können nichts tun, um die Vergangenheit zu ändern, aber wir können das tun, was dazu beiträgt die Zukunft besser zu gestalten.

Freitag, 19. Mai 2023

Aus der Praxis: Selbstmitleid

 

                                                                       Foto: www

 

Ich schäme mich, ich bin so traurig, wenn ich an meine Kindheit denke, dass ich vor Selbstmitleid zerfließe.

Diese Worte, sagte eine Klientin.

Viele von uns schämen sich, wenn sie Selbstmitleid empfinden. Selbstmitleid ist etwas, was sich nicht gehört, was abgelehnt wird. Dann kommen Sprüche wie: Selbstmitleid ist erbärmlich, schwach, würdelos. Komm ins Selbstmitgefühl!

Ich sehe das anders.

Es ist vollkommen okay mit sich selbst Mitleid zu haben. Wir leiden ja in diesen Momenten an uns selbst. Wofür also sollten wir uns schämen? Wofür uns schuldig fühlen, weil wir dieses Leid fühlen und ihm Raum und Ausdruck geben?

Wer sagt das?

Ich wünsche mir, dass Sie vergessen, was man ihnen über Selbstmitleid erzählt hat, bitte ich meine Klientin. Es ist vollkommen okay, dass sie das kleine Mädchen, das sie waren, bemitleiden. Sie erwarten ja nicht, dass jemand anderes ihnen das Gefühl abnimmt. Sie fühlen es. Sie be-mit-leiden den Teil in ihnen, der gelitten hat. Sie sind mit ihm, fühlen mit ihm, verbunden durch ihr Selbstmitleid. Sie betrauern dieses Kind in sich selbst, das leiden musste. Selbstmitleid setzt diese Trauer frei. Endlich darf sie fließen. Das ist Teil ihrer Genesung.

 

Wenn wir uns krampfhaft bemühen kein Mitleid mit uns selbst zu haben, betrügen wir uns selbst. Wir betrügen uns um das Recht unsere Kindheit zu betrauern. Unser Inneres Kind bleibt genauso allein und verlassen wie es damals war.  Unterdrückte Trauer verstopft den Kanal, den wir öffnen müssen, um zu genesen. Gefühle wie Selbstmitleid und Trauer müssen ausgedrückt werden, um uns nicht weiter selbst so mies zu behandeln wie man uns als Kind behandelt hat. Gesundes Selbstmitleid heißt nicht: ich gebe die Verantwortung ab. Es heißt vielmehr: ich erlaube mir mitleidend mit mir zu sein und mich dann zu trösten, indem ich schaue, was ich brauche, damit mein Leiden kleiner wird.

 

 

Sonntag, 14. Mai 2023

Der Schatten der Mutter

                                                   L'Esprit de géométrie, René Magritte

"Als sie das Haus der Mutter verließ, hatte sie, Närrin, geglaubt, sie sei ein für allemal Herrin ihres Privatlebens geworden. Das Reich der Mutter erstreckte sich jedoch über die ganze Welt und griff überall nach ihr. Nirgends würde Teresa sich ihm entziehen können", schreibt Milan Kundera in

"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"
Ob liebevoll oder kalt, fürsorgend oder vernachlässigend, lebend oder tot, die Mutter bleibt immer Ursprung und existentieller Beginn unseres Lebens. Die Bindung zur Mutter ist die früheste überhaupt, und sie ist die Prägendste. Sie prägt unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Handlungen und unsere Sicht auf uns selbst und die Welt. Das größte Glück, dass ein Kind haben kann, ist eine hinreichend gute Mutter. Wenn unsere Beziehung zur Mutter als liebevoll, fördernd, wohlwollend und wertschätzend erlebt wurde, fühlen wir uns sicher in uns selbst. Wenn die Mutter an uns glaubt, lernen wir an uns selbst zu glauben.
„Du hast immer an mich geglaubt, und das hat mir die Kraft gegeben, meinen Traum zu leben", sagte mein Sohn einmal zu mir. Er ist Musiker geworden, er lebt seinen Traum und er kann davon leben. Mein Sohn ist das Beste, was mir das Leben geschenkt hat. Er weiß das.
Natürlich war ich nicht die perfekte Mutter. Die gibt es gar nicht. Ich habe Fehler gemacht und ich habe sie mir und ihm eingestanden. Es gab Krisen in unserer Beziehung und Konflikte, aber wir konnten sie immer lösen. Unsere Beziehung war sehr innig und mein Sohn hat gelernt, sich von mir zu lösen und ich mich von ihm. Heute ist er ein erwachsener Mann und lebt ein eigenverantwortliches Leben. Er bekommt das gut hin, in einigen Bereichen sogar besser als ich, besonders was seine Liebesbeziehung angeht. Sie ist seit langen Jahren stabil und beide sind glücklich miteinander. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Heute Morgen am Muttertag, dachte ich: Ich habe es besser gemacht als meine Mutter, die mir keine Liebe gegen konnte und mich als Baby wegegeben hat. Ich habe den Schatten meiner Kindheit nicht an meinen Sohn weitergegeben.
Ich habe weder mütterliche Fürsorge noch bedingungslose Liebe erfahren. Ich habe lange gebraucht, um damit klar zu kommen. Wer das nicht bekommt, wer nicht am eigenen Leibe spürt wie sich mütterliche Liebe anfühlt, wird sich im Leben schwertun. Aber er wird sich nicht unebingt damit schwertun, all das dem eigenen Kind zu geben und irgendwann auch sich selbst.

Auch wenn die Beziehungserfahrung, die wir mit der Mutter gemacht haben, unser Leben auf gute oder ungute Weise weitgehend prägt, sie muss es nicht ein Leben lang dominieren. Es liegt, wenn wir erwachsen sind, an uns selbst, ob wir bereit sind die unheilsamen Erfahrungen zu verarbeiten und von unseren destruktiven Prägungen zu genesen. Es liegt an uns, ob wir bereit sind, die Verantwortung im Jetzt zu übernehmen und die Verstrickung zu lösen.

„Wissen Sie“, sagte letztens eine Klientin, „ich leide noch immer unter den vernichtenden Worten meiner Mutter. Seit ich denken kann hat sie meine Selbstachtung in den Boden gestampft. Ihre harten Worte klingen mir in den Ohren, auch dann, wenn ich doch eigentlich glücklich sein könnte. Es ist mir bis heute nicht gelungen mich aus dem Käfig der Erinnerungen zu befreien. Ein Teil von mir glaubt ihr, und ein anderer weiß, dass sie Unrecht hatte. Meine Mutter kann gut vergessen. Wenn ich ihr die Glaubenssätze wiederhole, die sie mir eingeimpft hatte, die mich klein gemacht haben, weigert sie sich mich zu verstehen. Sie legt sich alles zurecht, wie es in ihr Bild passt. Meine Worte haben für sie keinen Wert. Sie bleibt bei ihren Überzeugungen und so muss sie nichts einsehen, was ihre Realität ins Wanken bringen könnte. Manchmal bedauere ich, dass ich diese Gabe nicht besitze.
Es ist ein Kampf, jeden einzelnen Tag. Ich glaube zu wissen was ich will, aber ich tue es nicht, ich glaube zu wissen, wer ich bin, aber ich bin es nicht, ich glaube zu wissen, wohin ich gehen will, aber ich vertraue mir selbst nicht. Ich bin mir in nichts sicher, das macht mich schwach. Ich stelle mir vor, wie es sein könnte, wenn ich endlich erwachsen wäre, ihr entwachsen wäre und ich frage mich, was ich dazu brauche, um diesem Schatten, der mein Leben erdrückt, zu entkommen. Ich bin ein Unglücksrabe, der ein Adler hätte sein können, hätte man ihn in ein anderes Nest gelegt.“

Sie wurden aber in genau dieses Nest gelegt. Haben Sie schon einmal überlegt, dass sie vielleicht diese Mutter haben, um die zu werden, die sie sind?, frage ich sie. Sie konnten sich ihre Mutter nicht aussuchen, aber jetzt können sie wählen, wie sie mit dem umgehen, was sie als Kind erleben mussten. Sie können sich ewig beklagen über die gute Mutter, die sie nicht hatten, sie können sie ewig verantwortlich machen für das, was ihnen nicht gelingt, es hilft ihnen nichts. Sie behandeln sich damit nur weiter so wie man sie als Kind behandelt hat. Sie führen zwei Kämpfe - den gegen die Mutter und den anderen gegen sich selbst. Sie werden keinen davon gewinnen.
Wollen sie das?

„Nein, aber bin wütend auf sie, noch immer. Ich würde ihr gern mal sagen: Mutter, wenn du wüsstest, wie schmerzhaft deine harten Kanten mein Leben in zwei Teile spalten. Ich würde ihr gerne entgegenschreien: Warum liebst du mich nicht? Warum hast du mir das angetan?“
Gut, und was wäre dann anders?, antworte ich.
Würde diese Einscht ihrer Mutter die Vergangenheit wieder gut machen?
„Nein“, sagt sie, „und auch nicht all die Jahre in denen ich um ihre Liebe gekämpft habe. Sie fühlt sie einfach nicht. Nein, nichts wäre anders.“
Also, was nützt Ihnen ihr Wiedergutmachungswunsch?
„Nichts.“
Eine Träne rollt über ihre Wange.
Gut, was könnten Sie sich selbst sagen, damit es ihnen besser geht?, frage ich sie.
Sie schweigt einen Moment.
„Ich könnte mir sagen: Du bist jetzt erwachsen, du kannst dich lösen, von dem, was dich festhält und klein macht. Du kannst aus ihrem Schatten treten, die Vergangenheit sein lassen und dich dem zuwenden, was du sein willst. Du kannst dich selbst gut behandeln. Aber ich kann nicht. Sie soll endlich begreifen, was sie mir angetan hat!“
Doch, Sie können, sage ich.
Sie können es, wenn sie die Bereitschaft dazu haben und die Geduld diesen Weg zu gehen und wenn sie es wirklich wollen. Sie können ihre Wut und ihren Schmerz zulassen, ihre Gefühle fühlen und sie da sein lassen. Sie können ihre Trauer anerkennen und sie da sein lassen. Es ist traurig, es ist schmerzhaft und es ist bedauerlich, was geschehen ist. Ja. Aber es hilft ihnen nicht es weiter geschehen zu lassen und das tun sie, wenn sie weiter gegen etwas kämpfen, was sich nicht ändern lässt. Sie dürfen lernen, sich selbst eine hinreichend gute Mutter zu sein.
„Kann man das?“
Ja, sage ich, man kann. Es wird dauern. Es bedeutet Arbeit, es bedeutet Versöhnung mit uns selbst und mit der eigenen Biografie und wenn das Herz bereit ist: Vergebung.
Indem wir anerkennen: Sie konnte nicht anders. Das bedeutet nicht, dass wir es gutheißen, es bedeutet – wir lassen los von der Illusion einen Menschen ändern zu können. Wir finden Frieden im Herzen.
„Wie soll das denn gehen, verdammt?“
Indem man zuallererst aufhört vom anderen zu erwarten, dass er einen erlöst, auch wenn es die eigene Mutter ist.

"But behind all your stories is always your mother's story, because hers is where yours begins."
―Mitch Albom


Ich wünsche allen Müttern, Töchtern und Söhnen einen friedvollen Muttertag.

Samstag, 13. Mai 2023

Aus der Praxis: Wenn die Kindheit vergiftet ist

 

                                                             Foto: A. Wende
 
 
„Er trinkt, er hört nicht auf zu trinken. Ich hab das lange Jahre mitgemacht. Ich habe immer gehofft, dass er irgendwann aufhört. Ich habe versucht ihn zu retten. Ich habe ihn angefleht aufzuhören, einen Entzug zu machen, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Er war dann mal in einer Entzugsklinik und kaum war er draußen, hat er wieder getrunken. Ich bin geblieben, weil ich ihn liebe und weil er, wenn er nüchtern ist, ein wunderbarer Mann ist. Vor einem halben Jahr habe ich ihn verlassen, in der Hoffnung, dass er endlich wach wird. Er trinkt weiter. Und ich ertrage es nicht, dass er sich zugrunde richtet. Er fehlt mir so, ich kann ihn nicht vergessen, aber ich will ihn nicht zurück, weil ich weiß, dann geht alles von vorne los.“
 
Meine Klientin ist verzweifelt. Seit der Trennung von ihrem Partner hat sie das Gefühl ihr Leben ist leer und sinnlos. Sie ist antriebslos und ständig krank. Sie ist gelähmt, geht kaum noch raus, hat keine Freude mehr an Dingen und Begegnungen. Sie hat keine Ziele und keine Motivation. Ihre Trauer über den Verlust ist so schmerzhaft und groß, dass sie sich vollkommen isoliert hat. Sie ist einsam.
„Ich habe Angst, dass ich an meiner Einsamkeit zugrunde gehe“, sagt sie.
Meine Klientin hat so viel nutzlose Energie verschwendet, den Trinker zu retten, dass sie das Gefühl und die Kraft für sich selbst verloren hat. Sie ist emotional ausgebrannt und körperlich erschöpft. Sie hat die Verbindung zu sich selbst und damit den Bezug zur Welt verloren. Und das nicht erst seit der Trennung. Die Trennung bringt nur nach oben, was im Tiefsten immer schon war.
Als wir die Verbindung zwischen ihrer Beziehung und ihrer Kindheitserfahrungen erforschen, erzählt sie vom Vater, der auch trank. Sie erinnert sich an sein Verhalten, das für die ganze Familie erschreckend, angstbesetzt und demütigend war. Sie erinnert sich an das Leugnen der Mutter, die so tat, als gäbe es das Problem nicht um die Fassade aufrecht zu erhalten.
„Mutter hat sich ständig nur um ihn gekümmert, wenn ich sie brauchte war sie nicht da. Sie hat mich nicht gesehen. Ich war mit allem allein. Mein Vater war emotional nicht erreichbar, er war ja immer besoffen.“
Sie erinnert sich an die Abende, an denen sie half, den betrunkenen Vater wie ein Kleinkind ins Bett zu bringen. Sie erinnert sich an die Scham und die Angst, die sie fühlte, wenn der Vater betrunken ausrastete und die Mutter und sie beschimpfte. Sie erinnert sich an die Abende, an denen die Mutter am Fenster stand und weinte, weil der Vater nicht nach Hause kam und sie sie tröstete.
„Ich hatte keine Freundinnen. Ich habe nie ein Kind zu mir nach Hause mitgebraucht, so wie andere, weil ich mich schämte. Er konnte ja jeden Moment ausrasten. Ich war schon als Kind einsam. Irgendwie war ich unsichtbar.“ 
 
Meine Klientin wuchs in einem schwer gestörten Familiensystem auf. Sie wuchs ohne emotionale Unterstützung auf. Sie war nie Kind. Sie musste ihre Bedürfnisse und ihre Gefühle unterdrücken. Sie hatte niemand, der für sie da war. Sie musste lernen für sich selbst zu sorgen und zudem musste sie ihre Mutter bei der Betreuung des suchtkranken Vaters unterstützen und sie zu trösten, wenn sie verzweifelt war. Sie empfand den Vater als jämmerlich, abstoßend, schwach und bedürftig. Sie lernte sich um ihn zu kümmern wie um ein krankes Kind.
Sie hatte eine Rolle, die einem Kind nicht zusteht und es vollkommen überfordert.
Wenn ein Kind gezwungen wird eine solche Rolle anzunehmen entwickelt es keine eigene Identität. Das ist bei Kindern aus Alkoholikerfamilien oft der Fall. Sie lernen sich zu kümmern, zu verschweigen, nicht gesehen zu werden, sich still zu verhalten, keine Probleme zu machen, zu helfen, zu funktionieren, zu umsorgen. Sie sind überladen mit Gefühlen von Schuld, Scham und Versagen. Sie haben das Gefühl, sie wären besser nicht da, um keine weiteren Probleme zu verursachen. Sie lernen ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und ihre Gefühle runterzuschlucken. Sie lernen ihre Gefühle abzuspalten und ihre vitalen Bedürfnisse zu unterdrücken. Sie lernen, was es bedeutet einsam zu sein.
Viele dieser Kinder lernen, dass ihre einzige Rolle im Leben ist, sich um andere zu kümmern und nichts für sich selbst zu erhoffen. Sie lernen gebraucht zu werden und nichts für sich selbst zu erwarten. Sie lernen, dass nichts hilft um die Familie in Ordnung zu bringen. Sie lernen sich selbst aufzugeben. Sie lernen Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung, Ohnmacht und Vergeblichkeit. Sie entwickeln eine hohe Toleranz gegenüber zerstörerischem und nichtakzeptablem Verhalten. Viele dieser Kinder haben das Gefühl versagt zu haben, weil sie die Familie, bzw. den Alkoholiker, nicht retten konnten. Manche werden selbst alkoholkrank, andere bleiben, was sie als Kind waren: co-abhängig. 
 
Wie kann ein Kind, das dieses Trauma erleben musste, im späteren Leben wieder einen Alkoholiker in sein Leben lassen?
Weil es das kennt.
Kinder von Alkoholikern finden sich als Erwachsene oft in Beziehungen zu Alkoholkern wieder. Das ist nicht erstaunlich. Sie wiederholen unbewusst ihr Trauma. Egal wie zerstörerisch und schmerzhaft die Kindheit war, das bekannt Vertraute schafft ein Gefühl von Sicherheit. Sie kennen die Muster und Regeln. Das gibt ihnen scheinbaren Halt und vermittelt ein paradoxes Gefühl von Sicherheit. Das Drama im Jetzt fühlt sich an wie Heimat, egal wie chaotisch und demütigend, wie angstbesetzt und schrecklich diese war - der unbewusste Trieb die vertrauten Muster und alten Gefühle zu wiederholen ist stärker als jede Vernunft. Probleme und Konflikte aus der Kindheit werden wiederholt und im Jetzt ausagiert mit dem unbewussten Wunsch es jetzt besser zu machen, als damals.
Der Glaube, es dieses Mal zu schaffen, ist der Urgrund eines tiefsitzenden Wiederholungszwangs.
Kinder aus Alkoholikerfamilien bleiben ein Leben lang empfänglich für das Thema Alkoholismus. Warum das so ist, weiß man nicht genau.
Vermutlich liegt es u.a. daran, dass unser Beziehungsverhalten und unsere inneren Bilder und Überzeugungen was Beziehung ist, stark durch die Identifikation und die Imitation der in der Ursprungsfamilie erlebten Beziehungsvorbilder gebildet wird, auch wenn diese dysfunktional und giftig waren. 
 
Wer in giftigen Beziehungen aufwächst verinnerlich das Unheilsame als Normalität. Gelernt wird auch, dass geliebte Menschen emotional unerreichbar sind. Und mit dieser Art Menschen treten diese Kinder im späteren Leben dann nicht selten in Resonanz.
Die Beziehung meiner Klientin mit dem alkoholkranken Partner ist eine Reinzenierung ihrer Beziehung mit dem Vater. Indem sie sich einem süchtigen, unberechenbaren, kranken Mann zuwendet, wiederholt sie auf vielen Ebenen die Erfahrung ihrer Kindheit. Sie klammert sich verzweifelt an eine Beziehung zu einem Menschen, der emotional unerreichbar ist, an eine Beziehung, die echte Nähe unmöglich macht, die aber in all ihrer Unberechenbarkeit für sie berechenbar ist und sie davor schützt, sich auf tiefe, echte Nähe einzulassen, die, wie sie in der Kindheit gelernt hat, schmerzhaft ist. Die Wiederholung des giftigen Beziehungsmuster gibt ihr das Gefühl von Kontrolle, das sie als Kind niemals hatte.
Der Weg da raus ist schmerzlich. Es ist ein langer Weg. Das Thema ist komplex und vielschichtig. Zum einen muss die Trennung verarbeitet werden. Das wird dann gelingen, wenn die Trennung vom Vater gelingt, die innerlich nie stattgefunden hat. Zum anderen muss meine Klientin ihre traumatischen Erfahrungen mitsamt allen belastenden Gefühlen, die jahrelang unterdrückt wurden, verarbeiten. Schließlich muss sie eine Beziehung zu sich selbst finden um zu einer eigenen Identität zu gelangen.
„Spät“, sagt sie.
Ja, besser spät als nie.

Freitag, 12. Mai 2023

Der spirituelle Weg

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Viele Menschen fragen sich, oft in der Lebensmitte: War es das jetzt? Was ist der Sinn meines Daseins?
Irgendjemand soll ihnen die Antwort geben. Manche legen Engelskarten oder lesen im Tarot, manche setzen sich aufs Meditationskissen und meditieren ohne jemals die Praxis verstanden und verinnerlicht zu haben, oder sie folgen spirituellen Lehrern und lesen unzählige Bücher um dort Antworten zu finden. Sie finden sie nicht. Wie auch? Die Antworten liegen in ihnen selbst. Um diese zu finden dürfen sie sich sich selbst zuwenden, ehrlich, aufrichtig, bar jeder Verleugnung. Machen viele aber nicht. Sie gehen den Holzweg weiter, der mit Frust gepflastert ist.
 
Eine häufige Erkrankung in der Krise nach der Lebensmitte ist die Depression. 
Die Betroffenen spüren innerlich, dass es in ihrem Leben so nicht weiter gehen kann, dass ein Richtungswechsel erforderlich ist. Ist er auch und zwar: Blickrichtung nach Innen, ins Unterbewusste. Genau dahin drückt dann die Depression, nach Unten, wenn wir es nicht freiwillig angehen.
Anstatt zu versuchen krampfhaft das Versäumte nachzuholen, was nach dem Erreichen der Lebensmitte von vielen Menschen versucht wird - ein Nachholen steht im Widerspruch zu der notwendigen Umkehr im Leben - macht es Sinn, das Wesentliche in sich selbst zu finden.
C.G. Jung war der Überzeugung, dass Menschen, die Spiritualität nach der Lebensmitte nicht finden, in schwerste Sinnkrisen fallen. Dann wird Halt gesucht, irgendwo im Außen, um nicht zu kippen, angesichts dessen, was im eigenen Inneren in Disbalance ist. Der Gewinn ist wieder eine scheinbare Sicherheit, weil alles bleibt wie es ist, wir den Ist-Zustand berechnen können und uns der Angst vor dem Blick nach Innen nicht stellen müssen. Es wird weiter kompensiert, weiter verleugnet, wir müllen uns weiter mit Ablenkungen und Dingen zu, die uns nicht im Geringsten guttun.
 
Warum spulen wir das immer gleiche Muster immer wieder ab?
Die Antwort ist banal: Weil das alles bekannt, vertraut und berechenbar ist, weil die Berechenbarkeit sicherer scheint und erträglicher anmutet, als die Angst vor Veränderung und dem Nichtwissen was sie bedeuten könnte. Das Streben nach Berechenbarkeit dominiert unser Denken und vor allen sorgt es dafür, dass wir funktionieren. Kalkulieren und Risiken ausschließen vermittelt uns Kontrolle, Sicherheit und Stabilität. Es soll uns vor der gefühlten Bodenlosigkeit des Lebens bewahren, es soll uns schützen vor dem Unerwartbaren, vor all dem, was wir nicht kontrollieren können. Aber nur aus der Instabilität heraus entsteht Stabilität. Wenn wir bereit sind, das Instabile zuzulassen, es auszuhalten und uns selbst ehrlich zu begegnen, wenn wir das Risiko eingehen unsere Schatten und Ängste anzuschauen, wenn wir bereit sind all die Illusionen und Täuschungen, denen wir anhaften zu ent -täuschen, begegnen wir der Wahrheit, und zwar unserer eigenen. Dann beginnen wir uns mit unserem ureigenen Wesen auseinanderzusetzen. Und ja, das kann zu einer kleinen Höllenfahrt werden. Erst mal.
 
Neulich sagt jemand zu mir: "Ich bin jetzt auf dem spirituellen Weg."
"Interessant und wie sieht der aus?", frage ich.
„Ich bin in der Liebe, ich bin reine Liebe, Licht und Liebe“, kommt dann, begleitet von einer Mimik spiritueller Überlegenheit und fast schon zwanghaft anmutender Gutmütigkeit.
„Ich denke nur noch positiv. Ich bin im Frieden. Das Negative prallt an mir ab. Das lasse ich nicht mehr zu. Ich lebe mein wahres Selbst. Ich lebe nur noch im Moment. Ich bewerte und verurteile nicht mehr. Und das lebe ich auch anderen vor.“
Liese rieselt der Glitzerregen des Spirituellen Bypassing und vernebelt die Realität. Ich kann ihn sehen. Allein, mir fehlt der Glaube. Und im nächsten Moment kommt: "Diese Schlafschaafe, die raffen es einfach nicht, wo es langgeht."
Aha, wie war das? Ich bewerte und ich verurteile nicht.
Aber gut, jedem das Seine, wer bin ich zu urteilen? 
 
Ich sehe es anders. Wenn wir uns auf den spirituellen Weg machen sind wir nicht reines Licht und allumfassende Liebe.
Wir sind blutige Anfänger. So blutige Anfänger, dass wir oft gar nicht wissen, was das ist – Spiritualität und auf was wir uns da einlassen. Schauen wir uns das Wort doch mal an: Spirituell kommt aus dem Lateinischen spiritus: Geist, bzw. spiro ich atme.
Und was soll uns das jetzt sagen, diese zwei Worte? Geist und Atmen.
Es sagt zumindest mir: Der spirituelle Weg beinhaltet die bewusste Hinwendung auf meinen Geist und die aktive Praktizierung des bewussten Atmens verankert im Körper.
Da geht es hin auf dem spirituellen Weg, zu mir selbst. Und nicht in die Gedanken eines Gurus, der mir sagt, wo es seiner Ansicht nach lang geht oder sonst wohin, wo man mir Liebe, Frieden, Glück, Leidfreiheit und Erleuchtung verspricht. Das muss ich schon selber machen. Nach Innen geht die Reise, wie C.G. Jung wusste, und alle, die sie jemals ernsthaft angetreten sind. 
 
Willkommen im eigenen Haus! Und das will erst mal geputzt werden. Das ist für mich der Anfang. Ohne inneren Hausputz geht nichts.
Wir werden vielleicht eine Menge Gerümpel aus dem Keller holen müssen und er wird uns ankotzen, der Anblick dessen, was wir da alles vergraben und vergammeln haben lassen und dann werden manche ganz schnell wieder aus dem Keller nach Oben ins saubere Wohnzimmer rennen, wo die schöne Welt der scheinbaren Ordnung wartet und nichts geschieht und alles bleibt beim Alten.
Nein, der spirituelle Weg ist nichts für Feiglinge und schon gar kein Bypassing, das uns derart verblendet, dass wir nicht mehr sehen können, was wirklich mit uns und um uns herum los ist. Es geht nicht um das Erlangen eines dauerhaften Wohlgefühls, es geht nicht darum, sich vom Licht blenden zu lassen, um die eigenen Schatten und die Schatten der Welt, nicht mehr sehen zu müssen. Es geht um Bewusstsein – und zwar für alles, wie es ist. Für mich, wie ich bin, mit allem, was ich bin. Eben nicht nur Licht und Liebe. Oder wie Antony de Mello sagt: “Erleuchtung bedeutet die absolute Kooperation mit dem Unvermeidlichen.” 
 
Ich kann jeden verstehen, der sich dagegen entscheidet, diesen Weg zu gehen, weil er mühsam ist und beschwerlich und angstbesetzt. 
Es ist ein Weg auf dem wir bei allem Guten, was wir erfahren dürfen, auch alle dunklen Seiten unserer Person und unseres bisherigen Lebens kennen lernen, sie verfluchen werden, sie beweinen werden, vor Wut über sie fast platzen werden, vor Angst am Liebsten davonrennen würden und dann irgendwann mit ihnen leben lernen und im besten Falle - demütig annehmen lernen. Das heißt nicht, dass wir unsere dunklen Anteile toll finden, sondern, dass wir sie mit liebevoller Güte betrachten, sie achten und integrieren, als einander bedingende Teile des ganzen Menschen, der wir sind und der sich endlich echt und wahrhaftig anfühlt.
Und was dann?
Dann folgt Authentizität, was nichts anderes bedeutet, als dass unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen übereinstimmen. Das kennzeichnet für mich das Ende der Selbstlüge und den Beginn eines spirituellen Lebens. 
 
In most cases, people are using spiritutuality simply as an escape mechanism. What spiritual bypassing would have us rise above is precisely what we need to enter, and enter deeply, with as little self-numbing as possible. To this end, it is crucial that we see through whatever practices we have, spiritual or otherwise, that tranquilize rather than illuminate and awaken us.
― Robert Augustus Masters, Spiritual Bypassing: When Spirituality Disconnects Us from What Really Matters

Donnerstag, 11. Mai 2023

Aus der Praxis: Selbstsabotage

 

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„Ich kann nicht, geht nicht, wird eh nichts!“
Heißt: Du glaubst nicht an deine Fähigkeit, etwas zu erreichen. Du zweifelst daran, dass du es überhaupt verdienst, dein Ziel zu erreichen. Du schiebst ein Projekt, das dir am Herzen liegt, ewig vor dir her, weil du Angst vorm Scheitern hast. Du gehst auf Niemanden zu, weil du Angst vor Zurückweisung hast. Du bleibst an einem Ort, der dir nicht gut tut, du haftest an Menschen, die dir nicht guttun, du machst den Job, den du dich magst, weil du denkst, du hast eh nichts Besseres zu erwarten.
 
Traumafolgen, negative Glaubensmuster, unheilsame Erfahrungen, Komplexe und ein geringes Selbstwertgefühl sind die Ursache für dieses selbstblockierende Verhalten.
Selbstsabotage ist ein Paradoxon, ein unbewusst offenkundiges Versagen, um ein mögliches Nichtgelingen zu vermeiden. Dabei ist es egal, ob es „Sinn macht“, es geht um Vorhersagbarkeit. Der Sinn deiner Selbstsabotage liegt darin, dass sie dir erlaubt zu prognostizieren, was sein wird, um dir das Gefühl von Kontrolle zu vermitteln.
 
Wenn du damit aufhören willst, fang klein an.
Mach kleine Schritte. Jeden Tag einen kleinen Schritt.
Erfolge sind Erfolge, egal wie klein oder wie groß sie sind.
Schreib dir jeden noch so kleinen Erfolg auf.
Sag dir immer wieder: Du machst das jetzt und du schafftst das!
Je öfter dir etwas gelingt, desto mehr gewinnt dein Nervensystem an Kapazität und Sicherheit. Du nimmst der Angst vor dem Versagen den Wind aus den Segeln. Du traust dir immer mehr zu. Dein Selbstvertrauen wächst.
Was könnte dein heutiger kleiner Schritt sein?

Dienstag, 9. Mai 2023

Vergebung

 

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Wir wurden verletzt und wir haben verletzt.
Manche verletzen absichtslos und manche absichtsvoll.
Wir wurden belogen, betrogen, ausgenutzt, gedemütigt und emotional misshandelt. Am Ende spielt es keine Rolle, was genau davon geschehen ist. Wir sind verletzt, wir sind gekränkt, unser Vertrauen ist zerbrochen. Aus Zuneigung wird Angst. Angst, der Mensch, der uns verletzt hat, könnte es wieder tun. Und wo Angst ist, ist wenig Raum für Liebe.
Jede tiefe Verletzung kränkt und verfolgt uns.
Vielleicht ziehen wir uns in uns selbst zurück und lassen niemanden mehr an uns heran. Oder wir geben, dem, der uns verletzt hat die Schuld und fühlen uns ohnmächtig. Vielleicht sind wir wütend, voller Groll und wollen Vergeltung. Wir würden es gerne ungeschehen machen, weil der andere uns wichtig war und wir nicht ertragen können, dass dieser wichtige Mensch uns so enttäuscht und weh getan hat. Warum gerade er, der uns so am Herzen lag, er, von dem wir das nie erwartet hätten?
Wir sind traurig und wütend zugleich. Unsere Gefühle fahren Achterbahn. Wir warten auf eine Entschuldigung, ein klärendes Gespräch, aber nichts geschieht. Und je länger wir warten, desto wütender, trauriger und verzweifelter werden wir. Wir wünschen uns, dass der andere genauso leidet wie wir selbst. Wir wünschen ihm mieses Karma. Es tritt ein. Jeder bekommt irgendwann zurück, was er an Gutem und Ungutem getan hat. Es ist nur eine Frage der Zeit. Da bin ich mir sicher.
 
Egal was wir fühlen, es sind negative Gefühle, die uns vergiften und verbittern, wenn wir sie nicht auflösen können. Damit sorgen wir für mieses Karma an uns selbst.
Wir leiden an einem Wiedergutmachungswunsch.
Wir sind in der Opferrolle gelandet.
Wir begreifen, wenn wir da wieder raus wollen, müssen wir etwas tun.
Aber was?
Das Erste was wir tun müssen: Erkennen, dass an dem, was geschehen ist, absolut nichts mehr zu ändern ist, durch nichts und niemanden. Der Mensch, der uns bis ins Mark verletzt hat, könnte morgen vor der Tür stehen und sagen: „Es tut mir leid.“ Es würde nichts ändern. Wir würden uns nicht wirklich besser fühlen. Vielleicht wären wir ein wenig erleichtert, vielleicht würde es uns ein wenig Genugtuung verschaffen, aber nichts wäre wirklich besser oder gar wieder gut. Es würde das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen. Es würde unser Vertrauen nicht wiederherstellen können. Wir würden vielleicht wieder mit diesem Menschen reden, aber die Beziehung würde nie mehr so sein wie sie einmal war. Das Band ist zerrissen, die tiefe Zuneigung, die herzliche Verbundenheit ist ein für alle Mal verloren. Das ist nicht mehr unser Mensch.
Eine Entschuldigung würde unsere Wunde also nicht heilen.
Es ist jetzt wie es ist.
 
Was können wir also tun?
Wir können entscheiden, ob wir das, was geschehen ist weiter mit uns herumschleppen oder es sein lassen und uns von der Last befreien. Wir brauchen keine Vergeltung und keine Entschuldigung, wir brauchen unseren Seelenfrieden. Und wenn wir klug sind, machen wir ihn nicht mehr vom Verhalten des anderen abhängig.
Wir vergessen nicht was geschehen ist. Wir heißen nicht gut, was geschehen ist, denn es war ungut. Wir machen uns nichts vor. Wir müssen nicht vergeben, aber wir können es tun. Wir leiten sie ein und entscheiden uns zu vergeben, wenn es soweit ist, dass wir es können. Wenn unser Herz dazu bereit ist.
Es fällt leichter zur Vergebung zu gelangen, wenn wir die Perspektive wechseln und Mitgefühl üben. Wenn wir dem anderen zugestehen, dass er, aus welchen Motiven auch immer, getan hat, was er getan hat, weil er nicht anders konnte. Nicht weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil er selbst Verletzungen in sich trägt, die ihn zu Handlungen verleiten, die er nicht kontrollieren kann. Weil er die Arbeit nicht macht, um zu genesen. Weil er nicht über die emotionale Fähigkeit verfügt, zu erkennen, wo die Grenzen sind und womit er andere verletzt. Weil er vielleicht unglücklich ist und uns attackiert hat, um sich besser zu fühlen, weil er vielleicht traumatisiert ist, voller Selbsthass, psychisch gestört oder ein Suchtproblem hat, das ihn unberechenbar macht.
Wir vergeben ihm seine Schwäche, weil wir wissen, auch wir haben Schwächen und auch wir haben andere schon verletzt. Wir lassen diesen Menschen und was uns an ihn bindet los, auch wenn es schwer ist. Wir wünschen ihm Genesung.
Wir hören auf zu wüten, zu urteilen und zu grollen und üben Mitgefühl. Dann wird aus Wut und Groll Trauer. Wir trauern um diesen Menschen, den wir lieb hatten und der uns so verletzt hat und wir trauern um die Beziehung, die zerbrochen ist.
Wut ist die Brücke zur Trauer und über diese Brücke gehen wir.
 
Er konnte nicht anders.
Aber ich kann anders.
Indem ich mich zum Opfer anderer mache, gebe ich mich selbst auf. Ich habe die Bereitschaft die Opferrolle zu verlassen und die volle Eigenverantwortung zu übernehmen. Ich bin bereit zu verstehen. Das ist der Beginn des Verzeihens. Anderen und mir selbst. Vergebung ist nie leicht. Sie bedeutet, dass wir über unseren Schatten springen müssen. Wenn wir inneren Frieden finden wollen, müssen wir springen. 
 
„Groll mit uns herumtragen ist wie das Greifen nach einem glühenden Stück Kohle in der Absicht, es nach jemandem zu werfen. Man verbrennt sich nur selbst dabei.“
Buddha
 
„When we do not take care of our grief, when we do not call it by its true name, it leaves us as anger and does more harm to others, perpetuating our pain externally.“
Thich Nhat Hanh