Foto: A. Wende
„Er trinkt, er hört nicht auf zu trinken. Ich hab das lange Jahre mitgemacht. Ich habe immer gehofft, dass er irgendwann aufhört. Ich habe versucht ihn zu retten. Ich habe ihn angefleht aufzuhören, einen Entzug zu machen, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Er war dann mal in einer Entzugsklinik und kaum war er draußen, hat er wieder getrunken. Ich bin geblieben, weil ich ihn liebe und weil er, wenn er nüchtern ist, ein wunderbarer Mann ist. Vor einem halben Jahr habe ich ihn verlassen, in der Hoffnung, dass er endlich wach wird. Er trinkt weiter. Und ich ertrage es nicht, dass er sich zugrunde richtet. Er fehlt mir so, ich kann ihn nicht vergessen, aber ich will ihn nicht zurück, weil ich weiß, dann geht alles von vorne los.“
Meine Klientin ist verzweifelt. Seit der Trennung von ihrem Partner hat sie das Gefühl ihr Leben ist leer und sinnlos. Sie ist antriebslos und ständig krank. Sie ist gelähmt, geht kaum noch raus, hat keine Freude mehr an Dingen und Begegnungen. Sie hat keine Ziele und keine Motivation. Ihre Trauer über den Verlust ist so schmerzhaft und groß, dass sie sich vollkommen isoliert hat. Sie ist einsam.
„Ich habe Angst, dass ich an meiner Einsamkeit zugrunde gehe“, sagt sie.
Meine Klientin hat so viel nutzlose Energie verschwendet, den Trinker zu retten, dass sie das Gefühl und die Kraft für sich selbst verloren hat. Sie ist emotional ausgebrannt und körperlich erschöpft. Sie hat die Verbindung zu sich selbst und damit den Bezug zur Welt verloren. Und das nicht erst seit der Trennung. Die Trennung bringt nur nach oben, was im Tiefsten immer schon war.
Als wir die Verbindung zwischen ihrer Beziehung und ihrer Kindheitserfahrungen erforschen, erzählt sie vom Vater, der auch trank. Sie erinnert sich an sein Verhalten, das für die ganze Familie erschreckend, angstbesetzt und demütigend war. Sie erinnert sich an das Leugnen der Mutter, die so tat, als gäbe es das Problem nicht um die Fassade aufrecht zu erhalten.
„Mutter hat sich ständig nur um ihn gekümmert, wenn ich sie brauchte war sie nicht da. Sie hat mich nicht gesehen. Ich war mit allem allein. Mein Vater war emotional nicht erreichbar, er war ja immer besoffen.“
Sie erinnert sich an die Abende, an denen sie half, den betrunkenen Vater wie ein Kleinkind ins Bett zu bringen. Sie erinnert sich an die Scham und die Angst, die sie fühlte, wenn der Vater betrunken ausrastete und die Mutter und sie beschimpfte. Sie erinnert sich an die Abende, an denen die Mutter am Fenster stand und weinte, weil der Vater nicht nach Hause kam und sie sie tröstete.
„Ich hatte keine Freundinnen. Ich habe nie ein Kind zu mir nach Hause mitgebraucht, so wie andere, weil ich mich schämte. Er konnte ja jeden Moment ausrasten. Ich war schon als Kind einsam. Irgendwie war ich unsichtbar.“
Meine Klientin wuchs in einem schwer gestörten Familiensystem auf. Sie wuchs ohne emotionale Unterstützung auf. Sie war nie Kind. Sie musste ihre Bedürfnisse und ihre Gefühle unterdrücken. Sie hatte niemand, der für sie da war. Sie musste lernen für sich selbst zu sorgen und zudem musste sie ihre Mutter bei der Betreuung des suchtkranken Vaters unterstützen und sie zu trösten, wenn sie verzweifelt war. Sie empfand den Vater als jämmerlich, abstoßend, schwach und bedürftig. Sie lernte sich um ihn zu kümmern wie um ein krankes Kind.
Sie hatte eine Rolle, die einem Kind nicht zusteht und es vollkommen überfordert.
Wenn ein Kind gezwungen wird eine solche Rolle anzunehmen entwickelt es keine eigene Identität. Das ist bei Kindern aus Alkoholikerfamilien oft der Fall. Sie lernen sich zu kümmern, zu verschweigen, nicht gesehen zu werden, sich still zu verhalten, keine Probleme zu machen, zu helfen, zu funktionieren, zu umsorgen. Sie sind überladen mit Gefühlen von Schuld, Scham und Versagen. Sie haben das Gefühl, sie wären besser nicht da, um keine weiteren Probleme zu verursachen. Sie lernen ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und ihre Gefühle runterzuschlucken. Sie lernen ihre Gefühle abzuspalten und ihre vitalen Bedürfnisse zu unterdrücken. Sie lernen, was es bedeutet einsam zu sein.
Viele dieser Kinder lernen, dass ihre einzige Rolle im Leben ist, sich um andere zu kümmern und nichts für sich selbst zu erhoffen. Sie lernen gebraucht zu werden und nichts für sich selbst zu erwarten. Sie lernen, dass nichts hilft um die Familie in Ordnung zu bringen. Sie lernen sich selbst aufzugeben. Sie lernen Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung, Ohnmacht und Vergeblichkeit. Sie entwickeln eine hohe Toleranz gegenüber zerstörerischem und nichtakzeptablem Verhalten. Viele dieser Kinder haben das Gefühl versagt zu haben, weil sie die Familie, bzw. den Alkoholiker, nicht retten konnten. Manche werden selbst alkoholkrank, andere bleiben, was sie als Kind waren: co-abhängig.
Wie kann ein Kind, das dieses Trauma erleben musste, im späteren Leben wieder einen Alkoholiker in sein Leben lassen?
Weil es das kennt.
Kinder von Alkoholikern finden sich als Erwachsene oft in Beziehungen zu Alkoholkern wieder. Das ist nicht erstaunlich. Sie wiederholen unbewusst ihr Trauma. Egal wie zerstörerisch und schmerzhaft die Kindheit war, das bekannt Vertraute schafft ein Gefühl von Sicherheit. Sie kennen die Muster und Regeln. Das gibt ihnen scheinbaren Halt und vermittelt ein paradoxes Gefühl von Sicherheit. Das Drama im Jetzt fühlt sich an wie Heimat, egal wie chaotisch und demütigend, wie angstbesetzt und schrecklich diese war - der unbewusste Trieb die vertrauten Muster und alten Gefühle zu wiederholen ist stärker als jede Vernunft. Probleme und Konflikte aus der Kindheit werden wiederholt und im Jetzt ausagiert mit dem unbewussten Wunsch es jetzt besser zu machen, als damals.
Der Glaube, es dieses Mal zu schaffen, ist der Urgrund eines tiefsitzenden Wiederholungszwangs.
Kinder aus Alkoholikerfamilien bleiben ein Leben lang empfänglich für das Thema Alkoholismus. Warum das so ist, weiß man nicht genau.
Vermutlich liegt es u.a. daran, dass unser Beziehungsverhalten und unsere inneren Bilder und Überzeugungen was Beziehung ist, stark durch die Identifikation und die Imitation der in der Ursprungsfamilie erlebten Beziehungsvorbilder gebildet wird, auch wenn diese dysfunktional und giftig waren.
Wer in giftigen Beziehungen aufwächst verinnerlich das Unheilsame als Normalität. Gelernt wird auch, dass geliebte Menschen emotional unerreichbar sind. Und mit dieser Art Menschen treten diese Kinder im späteren Leben dann nicht selten in Resonanz.
Die Beziehung meiner Klientin mit dem alkoholkranken Partner ist eine Reinzenierung ihrer Beziehung mit dem Vater. Indem sie sich einem süchtigen, unberechenbaren, kranken Mann zuwendet, wiederholt sie auf vielen Ebenen die Erfahrung ihrer Kindheit. Sie klammert sich verzweifelt an eine Beziehung zu einem Menschen, der emotional unerreichbar ist, an eine Beziehung, die echte Nähe unmöglich macht, die aber in all ihrer Unberechenbarkeit für sie berechenbar ist und sie davor schützt, sich auf tiefe, echte Nähe einzulassen, die, wie sie in der Kindheit gelernt hat, schmerzhaft ist. Die Wiederholung des giftigen Beziehungsmuster gibt ihr das Gefühl von Kontrolle, das sie als Kind niemals hatte.
Der Weg da raus ist schmerzlich. Es ist ein langer Weg. Das Thema ist komplex und vielschichtig. Zum einen muss die Trennung verarbeitet werden. Das wird dann gelingen, wenn die Trennung vom Vater gelingt, die innerlich nie stattgefunden hat. Zum anderen muss meine Klientin ihre traumatischen Erfahrungen mitsamt allen belastenden Gefühlen, die jahrelang unterdrückt wurden, verarbeiten. Schließlich muss sie eine Beziehung zu sich selbst finden um zu einer eigenen Identität zu gelangen.
„Spät“, sagt sie.
Ja, besser spät als nie.
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