Malerei. Angelika Wende |
Es war einmal ..., so beginnen Märchen.
Das Wunderbare an den Märchen ist, dass wir – ob als Kind oder als Erwachsener – Geborgenheit in ihnen finden und das seltsamerweise, obwohl jedes Märchen immer auch etwas Grausames und zutiefst Dunkles in sich trägt. Märchen beherrschen die Kunst, die Polaritäten und Gegensätze unserer menschlichen Existenz zusammenzufügen, sie eins werden zu lassen, untrennbar miteinander verbunden und einander bedingend.
Intuitiv verstehen wir im Märchen die elementaren Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Wir fürchten uns nicht, weil uns alles selbstverständlich erscheint und weil wir wissen, dass jeder Märchenheld, jede Figur, egal ob Hexe, Magier, böse oder gute Fee, ihre ureigene Funktion erfüllt. Im Märchen begreifen wir das Ganze. Wir lauschen fasziniert, und unserer Innerstes weiß: Ja so ist es, bis dass der Tod sie scheidet oder ... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Märchen sind tröstlich, denn am Ende siegt die Kraft der Liebe und das schenkt uns Zuversicht.
Der moderne Mensch liest keine Märchen mehr, er findet kaum mehr Geborgenheit, weder in den alten Mythen, noch in sich selbst. Er leidet still an seiner unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. In seiner Welt herrscht das Verbot der Leidenschaft und des platonischen Eros. Damit verträgt sich das Leistungsprinzip einer vom Habenwollen beherrschten Gesellschaft nicht. Der Zugang zur Liebe ist ihm versperrt. Liebe ist zum Sprachwort verkommen. Eros ist zur bloßen Erotik, zum Konsumgut, zur selbstbezogenen Genussoption verkommen, zu einer seelenlosen Begierde, die Geborgenheit per se ausschließt.
Längst ist der Mensch selbst zum Konsumgut geworden. Via Internet zu betrachten und auswählbar. Endlose Optionen, endlose Möglichkeiten potentieller Partner, endlose Möglichkeiten potentieller flüchtiger Begegnungen, ohne Tiefe und Berührung. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, die Freiheit ist grenzenlos. Die innere Leere ist grenzenloser als alles andere.
Der moderne Mensch ist erschöpft und leer von der Sattheit seiner Welt, müde und depressiv von der Leistungsgesellschaft, die ihm gnadenlose Selbstausbeutung abfordert, innerlich verlassen auf der Suche nach dem, was ihn von innen hält, überfordert von einer Freiheit mit der er nichts anzufangen weiß.
Diese Gesellschaft schafft alles ab, was nicht in Suchmaschinen gefunden und nicht sofort konsumiert werden kann. Wie also seelische Schönheit, die von den Sinnesobjekten zu den geistigen Idealen und Ideen führt und schlussendlich zu Agape, der allumfassenden göttlichen Liebe, die mit der Liebe zu uns selbst als Geschöpf des Schöpfers beginnt, überhaupt noch im Ansatz begreifen?
Wie Geborgenheit finden in der Leere einer seelenlosen äußeren Fülle?
Der Weg zur Erkenntnis ist schmerzvoll.
Das ist die Weisheit, die in allen Märchen verborgen liegt.
Der Weg zum zufriedenen Konsumenten ist leicht, denn jede Form von Negativität wird im positivistischen Zeitgeistdenken ausgeblendet. Das ist das Märchen der Moderne.