Samstag, 28. September 2019

Das Märchen der Moderne

Malerei. Angelika Wende

Es war einmal ..., so beginnen Märchen.
Das Wunderbare an den Märchen ist, dass wir – ob als Kind oder als Erwachsener – Geborgenheit in ihnen finden und das seltsamerweise, obwohl jedes Märchen immer auch etwas Grausames und zutiefst Dunkles in sich trägt. Märchen beherrschen die Kunst, die Polaritäten und Gegensätze unserer menschlichen Existenz zusammenzufügen, sie eins werden zu lassen, untrennbar miteinander verbunden und einander bedingend.

Intuitiv verstehen wir im Märchen die elementaren Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Wir fürchten uns nicht, weil uns alles selbstverständlich erscheint und weil wir wissen, dass jeder Märchenheld, jede Figur, egal ob Hexe, Magier, böse oder gute Fee, ihre ureigene Funktion erfüllt. Im Märchen begreifen wir das Ganze. Wir lauschen fasziniert, und unserer Innerstes weiß: Ja so ist es, bis dass der Tod sie scheidet oder ... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Märchen sind tröstlich, denn am Ende siegt die Kraft der Liebe und das schenkt uns Zuversicht.
Der moderne Mensch liest keine Märchen mehr, er findet kaum mehr Geborgenheit, weder in den alten Mythen, noch in sich selbst. Er leidet still an seiner unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. In seiner Welt herrscht das Verbot der Leidenschaft und des platonischen Eros. Damit verträgt sich das Leistungsprinzip einer vom Habenwollen beherrschten Gesellschaft nicht. Der Zugang zur Liebe ist ihm versperrt. Liebe ist zum Sprachwort verkommen. Eros ist zur bloßen Erotik, zum Konsumgut, zur selbstbezogenen Genussoption verkommen, zu einer seelenlosen Begierde, die Geborgenheit per se ausschließt.

Längst ist der Mensch selbst zum Konsumgut geworden. Via Internet zu betrachten und auswählbar. Endlose Optionen, endlose Möglichkeiten potentieller Partner, endlose Möglichkeiten potentieller flüchtiger Begegnungen, ohne Tiefe und Berührung. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, die Freiheit ist grenzenlos. Die innere Leere ist grenzenloser als alles andere.
Der moderne Mensch ist erschöpft und leer von der Sattheit seiner Welt, müde und depressiv von der Leistungsgesellschaft, die ihm gnadenlose Selbstausbeutung abfordert, innerlich verlassen auf der Suche nach dem, was ihn von innen hält, überfordert von einer Freiheit mit der er nichts anzufangen weiß.

Diese Gesellschaft schafft alles ab, was nicht in Suchmaschinen gefunden und nicht sofort konsumiert werden kann. Wie also seelische Schönheit, die von den Sinnesobjekten zu den geistigen Idealen und Ideen führt und schlussendlich zu Agape, der allumfassenden göttlichen Liebe, die mit der Liebe zu uns selbst als Geschöpf des Schöpfers beginnt, überhaupt noch im Ansatz begreifen?
Wie Geborgenheit finden in der Leere einer seelenlosen äußeren Fülle?

Der Weg zur Erkenntnis ist schmerzvoll.
Das ist die Weisheit, die in allen Märchen verborgen liegt.
Der Weg zum zufriedenen Konsumenten ist leicht, denn jede Form von Negativität wird im positivistischen Zeitgeistdenken ausgeblendet. Das ist das Märchen der Moderne.

Montag, 23. September 2019

Über die Liebe

Foto: A.Wende

Was wir lieben ist die Liebe.
Dieses warme verbundene tiefe Gefühl, die Einheit mit einem anderen, der unser Herz berührt und wir das seine, hebt auf wundersame Weise das Gefühl des Getrenntseins auf. Der Kugelmensch, den Göttervater Zeus im Zorn über dessen Übermut gespalten hat, hat seine andere Hälfte gefunden. Er fühlt sich ganz. So ist es gut, so soll es bleiben.
Aber oft bleibt es so nicht.

Das Fernbleiben der Liebe, das Verlieren der Liebe, das Ende der Liebe, empfinden wir als schmerzhaften Mangel.
Was geschieht wenn da keiner ist, auf den wir unsere Liebe übertragen können? Was geschieht, wenn niemand da ist, auf den wir unsere schöne Liebe richten können?
Dann bleibt vielleicht die schmerzvolle Sehnsucht danach. Dann bleiben vielleicht die Erinnerungen an unsere schöne Liebe, verbunden mit dem letzten Menschen, dem wir sie geschenkt haben und mit dem wir sie auf irgendeine Weise im Laufe des Zusammenlebens zerstört oder verloren haben.
Und wir trauern um diesen Verlust. Vielleicht lange, vielleicht so tief, dass wir den Glauben an die Liebe verlieren.
Wir leben ungeliebt dahin.

Aber sind wir deshalb lieblos, im Sinne von „ohne Liebe“?
Und ist das Ausbleiben der Liebe schlimm?
Nein, weil in der Liebe auch ein universelles Element liegt.
Fernab der romantischen Liebe ist da Liebe.
Auch ohne das Geliebt werden tragen wir sie in uns. Wie sonst könnten wir sie auf den Geliebten übertragen? Vielleicht spüren wir sie nicht, wenn das Objekt der Übertragung fehlt oder wir spüren sie zu wenig. Wir machen sie fest am Anderen und übersehen sie in uns selbst. So als bräuchten wir unbedingt den anderen um Liebe zu fühlen.

Aber ist das wahr?
Liebe ist viel mehr als die konkrete Liebesbeziehung. Es macht daher Sinn sich in Zeiten des Getrenntseins als halbe Kugel zu fragen, worauf sich denn unsere Liebe eigentlich richtet, wenn dieser andere fehlt, der uns ganz machen soll.
Pablo Picasso sagte einmal: „Ich habe immer Freundschaft oder Liebe als Verbindung zwischen den Menschen gespürt. Ich selbst denke nur an die Liebe und im Grunde habe ich immer nur eines getan: lieben. Und wenn es niemanden mehr auf der Welt geben sollte, dann werde ich eben eine Pflanze oder einen Türgriff lieben, egal was.“
Ich möchte dem nichts weiter hinzufügen, denn damit ist für mich alles gesagt.

Sonntag, 22. September 2019

Hilfe in traurigen Zeiten



Malerei: Angelika Wende

Trauer und Traurigkeit sind zwar unschöne, aber evolutionsbiologisch und emotional sinnvolle seelische Reaktionen, dennoch gehören sie zu den grundlegenden Emotionen des Menschen. Trauer ist eine natürliche Reaktionen auf einen Verlust. Wir trauern wenn ein geliebter Mensch von uns geht, wir sind traurig, wenn eine Beziehung zerbricht, wenn wir von anderen enttäuscht, verletzt, zurückgewiesen oder abgelehnt werden. Wir sind traurig wenn ein Projekt scheitert oder wenn ein Traum zerbricht. Wir sind traurig wenn wir unseren Job verlieren oder wenn wir aufgrund einer Krankheit eine wichtige Fähigkeit verlieren.
Wir sind traurig, wenn wir eine Illusion loslassen müssen.

Traurigkeit aufgrund solcher Erlebnisse und Erfahrungen ist normal, sie ist ein Zeichen dafür, dass wir seelisch gesund sind. Traurigkeit ist nichts was wir überspielen oder unterdrücken sollten, denn sie ist ein wichtiger Teil des Verarbeitungsprozesses. Sie ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Akzeptanz dessen was ist und die Voraussetzung für einen Neubeginn.

Trauer ist so individuell wie jeder Mensch selbst. Trauer darf nicht bewertet werden. Trauer ist jedoch kein passiver Zustand, der von alleine wieder vergeht. Trauer ist ein aktiver Prozess der inneren Auseinandersetzung, dessen Ziel die Akzeptanz ist. Darum sprechen wir auch von Trauerarbeit. Gelingt diese nicht wird der Mensch verbittert. Verbitterung führt zu Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit, Interessenverlust,  Schlafstörungen, innerer Lähmung und schneller Ermüdbarkeit. Ein vermindertes Selbstwertgefühl, Gefühle von Schuld oder Wertlosigkeit, destruktive Gedanken und pessimistische Zukunftsperspektiven beherrschen das Denken. Der Mensch isoliert sich und wendet sich von der eigenen Lebendigkeit und somit vom Leben selbst ab. Er resigniert und im Zweifel verzweifelt er. Dann bekommt die Trauer Krankheitswert. Sie führt zu Depressionen, Angsterkrankungen. Im schlimmsten Falle kann unbewältigte Trauer zum Suizid führen.

Aber um diese Trauer geht es mir heute nicht.
Es geht mir um die Traurigkeit, die uns alle hin und wieder überfällt, wenn wir etwas was uns wertvolle und wichtig ist verlieren.

Was können wir in Zeiten der Traurigkeit für uns tun?

1.    Zunächst einmal ist es wichtig uns einzugestehen, dass wir traurig sind. Es ist richtig und wichtig zu trauern und unsere Emotionen da sein zu lassen. Unterdrücken wir  sie kommen irgendwann wieder hoch und der Verarbeitungsprozess verlängert sich.

2.    Traurigkeit kann schnell zu Einsamkeit führen. Sich eine Zeitlang zurückzuziehen ist heilsam, aber sich dauerhaft zu isolieren, auch wenn uns danach ist, ist nicht hilfreich. Deshalb sollten wir uns mit den Menschen austauschen mit denen wir uns gut fühlen und die uns das Gefühl geben, dass sie es gut mit uns meinen. 

3.    Wer solche Menschen in seinem Leben nicht hat, muss wohl oder übel selbst für sich sorgen und das bedeutet auch: aktiv werden. Das braucht aber die Bereitschaft es auch zu tun. Was, wenn man so richtig traurig ist zugegebenermaßen keine leichte Übung ist. Aber eben hilfreich und das sollten wir uns bewusst machen. Das gelingt wenn wir uns immer wieder bewusst die Frage stellen: Was ist jetzt hilfreich für mich, damit ich mich besser fühle?

4.    Also wenn uns die Decke auf den Kopf fällt und die Wände der Wohnung immer näher auf uns zu rücken, nichts wir raus an die frische Luft. Jeden Tag wenigstens ein zwanzigminütiger Spaziergang kann Wunder wirken. Im Wald, im Park oder in einem Stadtteil, den wir noch nicht kennen und bewusst erforschen.

5.    Sport machen ist immer gut. Wenn wir uns bewegen wird das Glückshormon Serotonin ausgeschüttet.  

6.    Kunst. 
     Mich hat die Kunst immer über Trauerphasen getragen. Und dabei ist es egal ob wir sie selbst machen, ins Museum gehen oder eine Ausstellung besuchen. Auch Filme oder Biografien über Künstler, die ja meistens alles andere als ein leichtes Leben hatten, können uns Kraft und neuen Mut schenken. 

7.    Natürlich Musik. 
     Egal in welcher Stimmung wir sind, mit Musik können wir viel erreichen. Sie hat therapeutischen Wert. Besonders heilsam ist Barockmusik.
Klassische Musik beruhigt das Herz und besänftigt die Seele. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Kantaten Johann Sebastian Bachs Blutdruck und Herzfrequenz in ähnlicher Weise senken wie Medikamente.

8.    Schreiben. 
     Schreib es dir von der Seele! 
     Es hilft ungemein, das weiß ich aus eigener Erfahrung und aus den Berichten meiner Klienten. Schreiben hat eine erwiesenermaßen therapeutische Wirkung. 
     Schreiben ist nicht gleich schreiben. Für manche ist ein Tagebuch die richtige Form, andere schreiben lieber Biografisches, wieder andere Gedichte oder Briefe, die sie nicht abschicken. Schreiben heilt. Es hilft Unausgesprochenes loszuwerden und Verdrängtes nach oben zu holen. In Krisen ist ein Tagebuch unser bester Freund. Schreiben, nutzen wir es als tägliches Ritual gibt uns Orientierung, Halt und das Gefühl, aktiv etwas tun zu können.

Wer regelmäßig schreibt ist sehr bei sich selbst. Er bekommt ein Gefühl für sich selbst, das ihn auch in schweren Zeiten trägt.

"Das geschriebene Wort erweist sich als vorzügliches Medium dafür, in der Formulierung Form für sich und das Leben zu finden. Die Buchstaben, das Papier, das beschriftet wird, auch der Bildschirm, auf dem die Buchstaben zu Wörtern werden, wird zum Spiegel, in den das Selbst blickt, und das Spiegelbild wirkt zurück auf das Selbst. So der Philosoph Wilhelm Schmid in seinen Buch "Mit sich selbst befreundet sein". 
Er hat Recht.

Und schließlich geht es genau darum – uns in unserer Trauer selbst beruhigen und helfen zu können um eine neue Form für unser Leben nach dem Verlust  zu finden.
In jedem Falle ist es wichtig unserer Trauer Raum zu geben. Sie auszudrücken, denn was sich nicht ausdrückt, drückt sich ein. Jede Form des Ausdrucks, den wir für unsere Traurigkeit finden ist hilfreich. Trauer braucht Aufmerksamkeit, nur so kann Heilung geschehen.

Samstag, 21. September 2019

Das eigene Böse

 
Malerei: Angelika Wende

Um Angst, Schuld, Scham und andere schwere Emotionen in den Griff zu bekommen ist es wichtig, dass wir bereit sind, die Inhalte unseres Unbewussten anzuschauen. Dieses "uns nicht Bewusste" ist die Sammelstelle für alle verdrängten Erfahrungen und Erlebnisse. Wenn etwas davon an die Oberfläche drängt, schauen wir nicht mehr weg, sondern betrachten es. Gerade jene inneren Kräfte nämlich, die uns selbst am Verborgensten sind haben die größte Macht über uns. Wir kommen nicht umhin uns damit zu befassen, denn tun wir das nicht, wird es uns nicht loslassen. Es ist wie eine Fessel von innen, die Lebendigkeit abschnürt. Daher sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass Verdrängen keine Er - Lösung ist, es nicht sein kann, sondern vielmehr verstärkt es unsere Probleme.   

Nichts wird durch Wegsehen unwirksam, weder etwas, das wir in der äußeren Welt beobachten, noch eine Wunde in unserer Seele. Machen wir uns das so bewusst wie möglich, und wir werden den Mut zum inneren Hinsehen finden. 
Nach Roberto Assagioli, dem Begründer der Psychosynthese, können wir nur das integrieren, was wir lieben. Es ist deshalb naheliegend, dass wir unsere Vorstellungen über uns selbst ändern müssen. Vielleicht sind wir gar nicht der gute Mensch, der wir zu sein glauben, vielleicht gibt es da etwas Ungutes, vielleicht sogar etwas Böses in uns das wir nicht sehen wollen, vielleicht gibt es da etwas was wir ein halbes Leben lang abgespalten und tief verdrängt haben, immer in der Hoffnung, es möge da bleiben wo es ist - im Keller unseres Unterbewussten. Etwas zutiefst unliebsames Ungutes.

Wir wollten unsere Ruhe haben vor dem Unguten, wir wollen nicht belästigt werden von dem bedrohlichen Gefühl, das hochkommen könnte, wenn wir uns dem stellen, was da auch in uns lebt.  
Wir haben Schuld-und Schamgefühle verdrängt, die aufblitzten, wenn wir dem Unguten doch einmal einen kleinen Schritt entgegengegangen sind. Weg denken, nicht mehr hindenken, wegfühlen, weil es so weh tut, weil es nicht sein kann, das auch zu sein, ein Mensch, der einen anderen tief verletzt hat zum Beispiel. Das ist Selbstschutz. Es ist verständlich und es ist menschlich.
Aber irgendwann geschieht etwas und wir können nicht mehr länger wegschauen. Jemand hält uns unser eigenes Böses vor Augen. Er klagt uns an und vielleicht richtet er uns sogar. Wir stehen da, erschüttert und sprachlos, wir fallen. Am Liebsten würden wir im Erdboden versinken, überwältigt von der Schuld und der Scham, die da schon immer waren und jetzt ganz groß über uns kommen. Wir möchten im Erdboden versinken. Nein, das sind nicht wir, das können wir nicht aushalten, das wir das sein sollen und lieben können wir das schon gar nicht. Wir können es vielmehr hassen.

Was fangen wir jetzt damit an, wo wir Hinsehen müssen, wo das Versteckspiel ein Ende hat und es keinen Ausweg mehr gibt, kein Loch in dem wir uns verkriechen können bis die Erschütterung des Gewahrseins über diesen bösen Teil in uns nachlässt?
Wir haben unser Gesicht verloren. Wir verstecken uns vielleicht eine Weile. Wir nehmen erst einmal Abstand und beschließen uns zeitweise von der Welt isolieren. 

Auf uns selbst reduziert, fragen wir uns: Wer sind wir jetzt noch? Wer ist dieser Mensch, den wir für etwas gehalten haben, was er nicht ist? 
Wir fassen Mut uns selbst genau zu betrachten. 
Vielleicht werden wir weinen, vielleicht werden wir uns selbst verurteilen, vielleicht werden wir denken, wir werden nie mehr der Mensch sein für den wir uns gehalten haben und vielleicht bricht sogar ein Lebenskonstrukt mitsamt all seiner Wahrheiten zusammen. 
Eins ist sicher: Ein Teil der alten Identität ist dahin.
Das kann uns in eine Krise stürzen. Eine Krise die uns in die tiefe Nacht der Seele führt, die uns dermaßen durchrüttelt, das uns Hören und Sehen vergeht. Ein "Stirb" und kein "Werde" befürchten wir vielleicht. Und die Angst ist groß.
Aber so ist es nicht. Es ist ein "Stirb" und es ist zugleich ein "Werde." 
Es ist ein neues Werden. Ein Werden, das zu einem Sein führt, das ganzer ist als das, was zuvor war – hin zu dem ganzen Menschen, der wir sind, mit seinem Licht und seinen Schatten. Und das sind dann wirklich wir selbst. 

Wir haben den Mut gefasst uns selbst genau zu betrachten. Wir beißen in den sauren Apfel und bringen den Mut auf in Kauf zu nehmen, dass unsere Illusionen über uns selbst aufgedeckt und somit desillusioniert werden.
Wir können nicht mehr ausweichen. Wir müssen unsere angenehmen Selbsttäuschungen aufgeben und uns langsam und vorsichtig an die zunächst bittere, später aber als befreiend erfahrbare Wahrheit über uns selbst, herantasten und uns an sie gewöhnen. Das verlangt unbedingte Bereitschaft, Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein.
Es geht darum anzunehmen was wir auch sind. Ohne den Versuch zu unternehmen uns zu rechtfertigen, ohne Entschuldigungsgründe zu bemühen, denen wir selbst nicht glauben würden, weil manches unentschuldbar ist. 
Aber alles ist verstehbar, verstehbar aus der eigenen unvollkommen Menschlichkeit heraus. Wir sind Menschen und weil wir Menschen sind, sind wir fehlbar. Menschsein schließt alles ein und nichts aus. Da ist hell und dunkel, und damit auch gut und böse. 
Können wir das lieben, wie Assagioli sagt? Ist es möglich das eigene Böse zu lieben? Ich glaube nicht, dass es möglich ist. Aber ich glaube es ist möglich es zu akzeptieren, auch wenn es schmerzt. Wir dürfen es akzeptieren. Das ist genug.
 



Sonntag, 15. September 2019

Gedankensplitter


 

Es ist schwer die Tür zur wahrheit zu öffnen, denn dahinter liegt hinter allen Projektionen unsere eigene Wahrheit, jene, die wir nicht glauben aushalten zu können, aber wir können es, wenn wir damit einverstanden sind Menschen zu sein, die fehlbar sind und uns zugestehen, dass wir nicht nur verletzt wurden, sondern auch selbst immer wieder verletzen.

Mittwoch, 11. September 2019

Ich will gerettet werden

Foto: Angelika Wende

Die Stunde geht dem Ende zu. Noch immer sitzt sie vor mir, nicht zugänglich, stur. Sie hat viel geweint in den vergangenen vierzig Minuten. Ein hilfloses, verzweifeltes Weinen. Und immer wieder: Ich will, dass mich jemand rettet. Ich schaffe das allein dieses Mal nicht.

Sie habe es immer geschafft, sage ich. Ich weiß, sie schaffen es auch dieses Mal. Ich kenne sie lange genug um zu wissen, sie ist stark. Sie hat viele Schicksalsschläge gemeistert.

Aber dieses Mal ist es anders, sagt sie.
Ich bin nicht mehr jung. Ich habe nicht mehr die Kraft neu anzufangen.
Und ich will es auch nicht mehr, setzt sie trotzig dahinter.

Ja, sie wollen nicht, antworte ich.
Sie grinst wie ein Kind, dem man endlich Recht gibt.
Ich muss lächeln.

Sie fragt, warum ich sie auslache.
Ich lache sie nicht aus, sage ich. Es berührt mich wie trotzig sie sein können.

Ich will nur ihn, sagt sie. Ich will nicht ohne ihn sein. Mein Leben ist leer ohne ihn. Ja, ich weiß, dass er mich immer wieder verletzt. Ich weiß, dass er mich betrogen hat.
Aber da ist all das andere. Ich fühle mich zum ersten Mal im Leben verstanden, angenommen. Er lässt mich sein wie ich bin. Es ist egal, was ich mache, er verzeiht mir alles. 

Aber sie können ihm nicht verzeihen, sage ich.

Nein, das kann ich nicht.

Warum können sie es nicht?

Sie sieht mich an, das ist es ja, ich weiß es nicht. Ich versuche es ja, aber etwas in mir kann es nicht. 

Sie wollen nicht, sage ich.

Sie schweigt eine Weile.

Ja, das ist so, ich will nicht.

Liebe verzeiht, sage ich.

Dann liebe ich ihn eben nicht genug, antwortet sie.

Aber sie wollen ihn auch nicht loslassen.

Ich kann nicht, sagt sie.

Sie wollen nicht, antworte ich.

Ja, ich will nicht.
Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will.
Außer, dass ich gerettet werden will.
Einmal im Leben will ich, dass jetzt jemand kommt und mich rettet.

Ich schaue sie an. Sie berührt mein Herz.
Wie ein Kind sitzt sie vor mir. Ein Kind, das seinen Teddybären verloren hat und völlig verzweifelt ist. Aber jeden anderen Teddy, den man ihm anbietet, will es nicht.
Ich sage ihr was ich vor meinem inneren Auge sehe.

Sie haben Recht, ich will nur ihn. Alle anderen interessieren mich nicht. Nichts anderes interessiert mich. Ich kann ohne ihn nicht leben.
Ich bin störrisch heute, ich weiß, grinst sie mich an.

Ja, sage ich, heute sind sie störrisch.
Und das ist okay.
Gut, sie wollen gerettet werden?

Ja, ich will gerettet werden. Ich will nicht mehr alles alleine machen müssen.
Ich bin müde vom Kämpfen. Ich will nicht mehr kämpfen.

Aber sie kämpfen wie verrückt.

Wieso?

Nun, sie wollen mit aller Macht etwas, was sie nicht bekommen können. Das ist Kämpfen.

Was will ich denn?

Einen Retter.

Ja, aber den gibt es für mich nicht.

Und warum nicht, was denken Sie?

Ich weiß es nicht. 

Nun, weil sie nicht irgendeinen Retter wollen. Den gäbe es vielleicht. 
Etwas in ihnen selbst zum Beispiel, das sie retten könnte.
Aber das wollen sie nicht zulassen.

Stimmt, weil ich will, dass ER mich rettet. Er hat mich verletzt. 
Er soll es wieder heil machen, es ungeschehen machen.

Das ist das Problem, sage ich.

Ja, antwortet sie, das ist mein Problem. 

Und wie könnten sie es lösen?

Sie sieht mich lange an.
Ich könnte diesen sinnlosen kindischen Gedanken aufgeben.

Ja, das könnten sie, wenn sie es wollen.


















Montag, 9. September 2019

Verletzt

Zeichnung. Angelika Wende

Wir wollen nicht verletzt werden.
Wir wollen uns nicht als Verletzte sehen.
Und wir wollen nicht als Verletzte gesehen werden.
Das ist Schwäche.
Das ist Scheitern.
Das ist schambesetzt.
Das ist schwer aushaltbar.
Das schmerzt.
Das ist das, was wir um jeden Preis vermeiden wollen.


Aber keiner von uns ist unverletzt.
Und keiner von uns wird dieses Leben unverletzt verlassen.
Verletzung geschieht.
Wie Freude geschieht, wie Glück geschieht, wie Liebe geschieht.
Wie alles geschieht.

Hören wir also auf das Verletzliche zu verbergen, es zu ignorieren, es abzuspalten oder es zu bekämpfen.
Tauchen wir auf aus dem Sumpf von Verdrängung und Scham.
Stellen wir uns unserem Verletztsein und unserer Verletzlichkeit.
Aber aus ihr heraus lässt es sich so schwer handeln.
Ja, zuerst einmal.
Weil sie angeschaut werden will.
Gefühlt werden will.

Unsere Verletzlichkeit fordert uns heraus.
Sie fordert und heraus, sie anzunehmen als Teil unseres Menschseins.
Sie fordert uns heraus mit ihr angemessen umzugehen.
Eine Form zu finden aus der heraus wir neu beginnen.
Mit unserem verletzten Herzen weiter zu gehen.
Trotz der Trittunsicherheit des Bodens unter uns, der wackelt. Mit der Angst wir könnten nie mehr heilen.
Weitergehen.
Mit dem Mut uns neu einlassen auf das Leben, jeden Tag neu.
Kleine Schritte.

Unsere Verletzlichkeit lehrt uns uns selbst zu tragen, ob der Bodenlosigkeit, die sich auftut, wenn uns keiner und nichts mehr mehr trägt.
Stabil zu werden in der Instabilität.
Stark zu sein in der Schwäche.
Es mag dauern.
Tiefe Verletzungen heilen langsam.
Manche nie.
Sie bleiben als Teil unseres Menschseins.
Werden Erinnerung.
Weniger schmerzhaft mit der Zeit.
Das ist okay.
Wir gehen weiter.
Jeden Tag.
Kleine Schritte.


Es ist für den Menschen nicht natürlich, anderen Menschen Schmerz zuzufügen. Das ist einfach nicht Teil unseres Wesens. Es heisst, dass nur verletzte Menschen andere verletzen, und das stimmt. Deshalb ist das Erlösendste und Friedvollste, was wir zu einem Menschen sagen können, der uns Schaden zufügen will: Bitte sag mir, was verletzt dich so sehr, dass du das Bedürfnis verspürst, mich zu verletzen, um es zu heilen?

Neale Donald Walsch

Freitag, 6. September 2019

Was du fühlst darf sein!



Wir neigen dazu unser Gefühle zu verbergen, weil wir glauben, sie dürfen nicht sein, weil wir glauben, wenn wir sie ausdrücken, kratzen wir an dem Bild, das andere von uns haben.
Aber dabei geht es gar nicht um das Bild der anderen.
Es geht um unsere Angst.
Die Angst, dass wir in der Gunst der anderen sinken könnten oder dass sie uns nicht mehr mögen könnten, wenn sie wüssten, was wir wirklich denken und fühlen.
Wir fürchten uns vor Zurückweisung, vor Ablehnung, vor Sympathie-und Liebesverlust.
Wir fürchten uns davor vielleicht alleine dazustehen, wenn wir ehrlich sagen würden, was wir fühlen.
Das ist die große Angst, die hinter der Furcht steckt.
Sie ist so groß, dass wir schweigen, wo wir sprechen möchten.
Sie ist so groß, dass wir uns verbiegen, wo wir Rückgrat zeigen möchten.
Sie ist so groß, dass wir lächeln, wo wir weinen möchten.
Sie ist so groß, dass wir gute Mine zum bösen Spiel machen, wo wir wütend sein möchten.
Sie ist so groß, dass wir schweigen wo wir enttäuscht, traurig oder ängstlich sind.
Sie ist so groß, dass wie unsere Emotionen runter schlucken.

Runterschlucken, was unverdaulich ist kann ernste Probleme verursachen, denn was wir vor anderen Menschen verbergen, gestehen wir uns auch selbst nicht ein.
Und alles, was wir vor uns selbst verbergen, alles was wir uns selbst nicht eingestehen, beherrscht uns, ohne dass wir uns darüber bewusst sind.

Unausgesprochene Gefühle gären im Inneren.
Sie werden zu einem dicken Kloß im Hals oder im Bauch, zu einem großen Druck auf der Brust oder auf dem Herzen.
Das ist ungut. Das ist nicht hilfreich für uns selbst.

Hilfreich ist sich bewusst zu machen ...
Ich bin nicht mehr davon abhängig lieb sein zu müssen um lieb gehabt zu werden.
Ich bin nicht mehr das gute Kind, das ich schon als Kind sein wollte, nur um Mama oder Papa nicht ärgerlich zu machen, aus Angst davor, dass sie mich nicht mehr lieb haben.
Ich bin erwachsen und darf fühlen, was ich fühle.

Ich darf aussprechen was ich fühle.
Ich muss keine Rolle spielen um anderen zu gefallen.
Ich darf echt sein.

Echt sein bedeutet für mich: Ich habe all die Gefühle, die sie in mir zeigen, ich erlaube ihnen zu sein und ich erlaube mir sie auszudrücken.
Ich bin gelassen und ich bin nicht gelassen.
Ich bin klug und ich bin unklug.
Ich bin traurig und ich bin fröhlich.
Ich bin klar und ich bin unklar.
Ich bin ruhig und ich bin unruhig.
Ich bin glücklich und ich bin unglücklich.
Ich bin wütend und ich bin sanft.
Ich bin lebensbejahend und ich bin melancholisch.
Ich bin sicher und ich bin unsicher.
Ich bin stark und ich bin schwach.
Ich bin Kind und ich bin erwachsen.
Ich bin gut mutig und ich bin ängstlich.
Ich bin ich mit allem was ich fühle.
Ich bin Licht und ich bin Schatten.
Ich bin ein ganzes Universum an Gedanken und Gefühlen.
In bin in Bewegung ... Emotion.

Ich bin nicht wie die anderen mich sehen oder haben wollen.
Ich bin ich, wie ich mich sehe, erlebe, erfahre und ausdrücke.
Das bedeutet es sich als ganzen Menschen zu begreifen – menschlich, mit allem was ich bin und nicht bin.
Mit allem was ich fühle.
Was ich fühle, was du fühlst, darf sein!

Namaste

Mittwoch, 4. September 2019

Es ist schwierig - na und?



Foto: www


Es ist schwierig!
Ja, es ist schwierig!
Aber bitte, was ist denn deine Erwartung, nachdem du dein Päckchen über Jahrzehnte, seit du ein Kind bist vielleicht, mit dir herumschleppst und es immer wieder vor dir selbst auspackst und/oder es anderen zum betrachten öffnest und es dir wieder und wieder reinziehst, was da an Schwierigem drin ist?
Wie soll das denn leicht sein?

Steckt hinter diesem"Es ist schwierig!", nicht die infantile Anahme, das Leben müsste leicht sein und Traumata könnten sich ohne Schwierigkeiten auflösen?
Das tun sie nicht.
Das tun sie schon gar nicht, wenn du gar nichts oder nur halbherzig etwas dafür tust.
Das tun sie vielleicht auch nicht, wenn du ganz viel dafür tust.
Vielleicht heilen sie auch gar nicht.
Ja, weil es eben schwierig ist.

Es ist schwierig!
Das könntest du akzeptieren und diese Äußerung reflektieren.

Was schwierig ist, ist nicht leicht.
Aber wie willst du das Leichte erfahren, wenn du das Schwierige nicht erfährst?

Du hast das Schwierige genau darum um das Leichte zu erkennen.
Du hast es auch um es leichter machen zu dürfen.
Leicht im Schwierigen.
Dazu kannst du dich entscheiden.

Du kannst bereit sein, das Schwierige als Aufgabe zu erkennen und anzunehmen.
Dann hört deine Klage auf.
Dann hört deine Vorstellung von "wie es zu sein hat" auf. 
Dann kommt mal Ruhe in deinen Kopf.
Dann bist du in der Akzeptanz dessen was ist, ob schwierig oder leicht.
Vielleicht genügt das ja erst mal.
Es ist schwierig. Und Punkt.

Je mehr du versuchst das Schwierige als schwierig zu empfinden, zu bedeuten, zu betonen, zu vertönen, zu beklagen, desto weniger wird es dir gelingen, das Leichte zu erfahren.

Du willst es hinter dich bringen, das Schwierige.
Einen Rat vielleicht, eine Übung vielleicht, ein super Therapeut vielleicht, ein Wunder vielleicht.
Vielleicht gelingt es dir, vielleicht gelingt es dir nicht.
Wie wär es, wenn du dem Schwierigen den Raum gibst, um es zu erfahren, um es zu leben?
Warum gegen die Wirklichkeit ankämpfen?
Auf diese Weise kannst du nichts gewinnen.
Ja, es ist schwierig.
Ja, das ist okay.
Ja, das darf sein.


 "I can tell you about my experience with shit: shit makes the flowers grow so lovely."
Stuart Albert