Freitag, 9. Oktober 2015

Der rote Faden





ich hatte sie seit monaten nicht gesehen. wir hatten ab und zu miteinander telefoniert. meistens war ich es, die sie anrief. anna meldete sich fast nie. das war seit dreißig jahren so und das würde sich die nächsten dreißig jahre, falls wir die erleben würden, nicht ändern. wir waren beide zu alt, um so festgefahrenes noch zu ändern. wir waren freundinnen geblieben. anna, sagte ich, wenn wir irgendwo gemeinsam auftauchten, was genauso selten war wie unsere telefonate, ist meine älteste freundin. und anna regte sich jedes mal künstlich über das wort "älteste" auf. ich meinte damit auch eigentlich meine längste freundin, aber das hört sich noch komischer an als die älteste, zumal jeder wusste, wie es gemeint war. trotzdem bat sie mich jedes mal, es nicht zu sagen und jedes mal sagte ich es wieder. es war ein festgefahrenes wie alles andere, was sich in unserer freundschaft festgefahren hatte. sie hatte mich angerufen. dieses mal war sie es gewesen. etwas war also geschehen. anna war eine eigenbrödlerin, eine einsame wölfin, die ihr rudel nicht gefunden hatte. ich wünschte mir für sie, sie wäre aufgeschlossener, offener für das leben, für mich und meine freunde, denen ich sie gerne vorgestellt hätte. anna wollte das nicht. die meisten von ihnen hatten sie nie kennengelernt. anna war menschenscheu und anna litt unablenkbar. seit ich sie kannte, litt sie unter dem schweren, vielleicht weil sie selbst schwer war und weil sie zu denen gehörte, die nicht vergessen können. anna lebte mit der erinnerung wie mit einem treuen gefährten. sie und die erinnerung waren untrennbar miteinander verbunden, ein verinnerlichtes ganzes. vielleicht war das der grund, dass es da keinen platz gab für anderes. auch nicht für mich. nicht wirklich. ich wusste das, aber ich liebte sie und wer liebt versteht.

ihre stimme klang schwach. ich musste mich anstrengen, um sie zu verstehen. ich muss mit dir sprechen, sagte sie. kannst du kommen? wann kannst du kommen? ihre worte klangen nach dringlichkeit. ich sagte, ich komme gleich, wenn du willst. gut, sagte sie, ich mache uns frühstück. es war halb neun als ich losfuhr. das dunstige grau des oktobermorgens ergoss sich ins grau der autobahnspur, eine düstere melange, die mich mit einem schlag traurig machte. vielleicht war es auch das denken an anna, die begabte anna, die an sich selbst verzweifelte, immer wieder und irgendwann vielleicht endgültig. ich erinnerte mich an die anna, die sie als mädchen gewesen war, hell, strahlend, immer im mittelpunkt der aufmerksamkeit. anna liebte das leben und das leben liebte anna, bis es ihm einfiel sie zu quälen und anna immer zuversichtlich und voller kraft und alles hatte sie geschafft. aber das leben hörte nicht auf mit der quälerei und irgendwann schwand annas zuverischt und sie verlor ihre kraft. ich glaube irgendwann kam der punkt, da nahm sie es dem leben übel, dass es ihr kein glück bescherte. er hat mich fallen lassen, sagte sie immer öfter und meinte den gott, an den sie glaubte. sie tat mir leid. aber das wollte sie nicht. sie schob mein mitleid von sich, sagte, wer mit dem anderen mitleidet wird mit nach unten gezogen und ich solle es lassen, uns beiden zuliebe, sie wolle nicht ursächlich für mein leid sein, und dass geteiltes leid immer doppeltes leid war.

für mich war anna stark. sie bezog ihre stärke aus den dingen, die sie aus sich selbst heraus schuf. mit  den jahren hatte sie das meiste, was sie an dingen besaß verloren. aber innen war alles da. nur dass anna seitdem nicht mehr an sich glaubte. was sie tue, tue sie um zu überleben, da sei keine freude mehr, sagte sie, wenn ich sie fragte, wie man etwas tun konnte, das keinen sinn hatte. um zu überleben tun manche menschen noch viel sinnloseres, sagte anna dann, und dass wir alle etwas brauchen, das uns von innen hält, unserem leben einen sinn verleiht, das keinen sinn habe, ausser dem sinn, den wir ihm geben, jeder den seinen. mich hielten meine kinder. sie waren in einem schwierigen alter. mein sinn waren meine kinder und was mich interessierte war, dass es ihnen gut ging. manchmal dachte ich, dass nur die menschen sich über den sinn gedanken machen, die keinen gefunden haben oder ihn verloren haben. ich hoffte, mir die sinnfrage niemals stellen zu müssen.

mit diesen gedanken parkte ich den wagen vor annas haus. ich klingelte, sie öffnete. sie sah schön aus wie immer, traurig schön. sie nahm mich in die arme und hielt mich eine weile. dann bat sie mich in die kleine wohnung im hinterhaus, die auch ihr atelier war, seit sie allein lebte, ohne paul, mit dem sie einige jahre gelebt hatte und mit dem es nicht gut gegangen war. komm, setz dich, sagte sie. ich setzte mich, sah mich um, sah was ihr geblieben war von ihrem leben und dachte dieser raum ist nicht anna, er ist zu klein für sie, zu klein für ihre großen gedanken. ich fühlte einen stehenden schmerz in der brust. sie machte sich am herd zu schaffen, briet rühreier und speck. dein lieblingsfrühstück, ich habe es nicht vergessen, lächelte sie mir zu. wir saßen uns gegenüber, in der mitte ein strauß rosen. mit einer zärtlichen geste schob sie die vase zur seite. anna liebte rosen. einmal hatte sie zu mir gesagt, rosen sind wie das leben, du bekommst die blüte nicht ohne die dornen. wir aßen rührei und tranken kaffee. es war als hätten wir uns erst gestern gesehen. ein vertrautes, wohlmeinend, bekanntes, inniges. liebe, dachte ich, das ist liebe. 

anna, was ist los?, fragte ich sie. mit tränen in den augen sah sie mich an: theresa, ich weiß nicht mehr weiter, ich habe den faden verloren, den roten faden. wie meinst du das, fragte ich sie. ich meine das, was mein leben durchzieht, das was mich ausmacht, was mich zusammenhält, ich spüre es nicht mehr. ich mache alles wie früher, aber es fühlt sich nicht mehr so an, wie es sich angefühlt hat. es fühlt sich an, als habe es mit mir nichts mehr zu tun, wie etwas fremdes, das ich mir zu eigen mache und dabei genau weiß, es ist nicht meins. kennst du die mythologie vom ariadne faden? ich schüttelte den kopf. ich war nicht belesen wie anna, die viel las, bücher ihre freunde nannte und ihre retter, die ihr geholfen hatten zu überleben seit kindertagen.

ariadne, die tochter des königs minos übergibt theseus, als er den minotaurus in seinem labyrinth aufsuchen und töten soll, einen faden. er soll ihm dabei helfen, den ausweg aus dem labyrinth zu finden, ohne sich dabei zu verirren und elendig umzukommen. er hält ihn fest in der hand, der faden gibt ihm die sicherheit, dass er wieder herausfindet. sie stockte einen moment, theresa, ich habe den faden verloren, er ist abgerissen irgendwo auf dem weg durch das labyrinth, verstehst du? ich verstehe, nickte ich. und jetzt hast du angst. 
ja, ich habe angst. ich habe angst in diesem labyrinth umzukommen. 
was ist passiert?, fragte ich sie. ich weiß es nicht, erwiderte sie. wenn du den faden verlierst, bist du verloren. du traust dich keinen schritt mehr zu gehen, du gehst auch nicht weiter, weil du angst hast, nicht mehr zurück zu finden und zugleich fürchtest du dich vor dem weitergehen, vor dem unbekannten, das vor dir liegt. dieses rießige schwarze unbekannte und du denkst, im zweifel kannst du dich nur weiter verirren und umkommen. du hast angst vor dem unbekannten, antwortete ich. 

ich dachte eine weile nach. anna, vielleicht sollst du auch nicht mehr zurück. du hast immer da hinten gelebt, du hast dich immer an deinem faden festgehalten, dich an ihn gebunden und jetzt gibt es diese anbindung nicht mehr. der anfang und das stück zwischen anfang und jetzt, das ist das alte. es ist vorbei, anna. und das macht sinn. 
welchen sinn? sie starrte mich an.
du hast deinen faden vielleicht ar nicht verloren, möglicherweise hast du ihn losgelassen und das macht dir angst. dein herz hat sich längst vom alten verabschiedet, aber dein kopf will das noch nicht begreifen. das herz ist klüger als der verstand. dein kopf ist überfordert mit dem vakuum, das da jetzt ist. er will den ausgang wissen, aber das herz muss ihn nicht kennen, es schlägt, ohne ziel, moment für moment.  sie sah mich an. ja, ein vakuum, so könnte man es nennen. ich nahm ihre schmale hand und legte sie in die meine: anna, was meinst du, wozu ist es gut, dein vakuum? sie überlegte einen moment, dann lächelte sie schwach: um es zu füllen? ja, anna, um es zu füllen, moment für moment.





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen