Foto: A.Wende
Meine Klientin ist vollkommen entmutigt. Sie steckt in einer fundamentalen
Krise. Sie ist eine starke, autonome und selbstbewusste Frau, die niemals
aufgab, immer kämpfte und aus jeder Krise in ihrem bisherigen Leben gestärkt
hervorging. Sie ist das, was man einen resilienten Menschen nennt. Ihre
Resilienz hielt sie lange aufrecht, bis sie schließlich einen
Nervenzusammenbruch erlitt. Alles was schief gehen konnte, ging schief, ein
Verlust folgte dem anderen, egal was sie tat, nichts veränderte die Situation,
im Gegenteil sie spitzte sich immer mehr zu. Die Versuche, ihr Leben wieder in
den Griff zu bekommen, schlugen fehl. Alle Säulen auf dem sie ihr Leben gebaut
hatte brachen nacheinander zusammen. Nach der Trennung von ihrem Ehemann, der
sie über Jahre belogen und betrogen hat, wurde sie krank. Weil sie krank
wurde konnte sie im Job keine Leistung mehr bringen. Weil sie keine Leistung
mehr brachte musste sie ihre freiberufliche Tätigkeit einstellen. Weil sie kein
Geld mehr verdiente verlor sie ihre materielle Sicherheit und muss jetzt,
sollte sich nichts ändern, aus ihrer Wohnung ausziehen.
Wie sagt man? „Ein Unglück kommt
selten allein, oder Murphys Gesetz: „Alles, was schiefgehen kann, geht
schief!", übrigens laut Wikipedia - ein Aphorismus über menschliches
Versagen bzw. Fehlerquellen in komplexen Systemen. Leider ist es manchmal so, dass wir
versagen und es dann obendrauf noch Fehlerquellen gibt, die unser komplexes
System massiv stören, besonders wenn eine Krise der anderen folgt und nach und
nach alle Säulen, auf denen wir unser Leben aufgebaut haben, gleichzeitig
instabil werden oder gar zusammenbrechen. Warum ist das so? Weil sie in einem einander beeinflussenden und sich bedingenden
komplexen Zusammenhang stehen.
Durch den Verrat und die Trennung, den Schmerz über den Verlust, den Liebeskummer
und den damit verbundenen emotionalen Stress wurde meine Klientin krank. Durch
die Krankheit verlor sie ihre Kraft für den Job, in der Folge brach die materielle
Sicherheit weg, durch den Kummer zog sie sich monatelang in die Isolation
zurück und ihr soziales Netzwerk ging verloren. „Es ist als würde sich alles nach
und nach auflösen und ich selbst mit und ich kann nur noch tatenlos dabei
zuschauen“, sagt sie.
Körper und
Gesundheit, Soziales
Netzwerk, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit, Werte und
innere Haltung sind tragende Säulen unseres Lebens. Wackelt eine davon können
wir damit umgehen, wackeln mehrere oder brechen nahezu alle zusammen befinden
wir uns in einer tiefen existenziellen Krise. Nichts geht mehr.
Für meine Klientin wurde es zu viel. Sie ist kurz davor sich selbst
aufzugeben. Sie versinkt schließlich in einer
Depression. „Ich bin am Ende sagt sie, ich will nicht mehr leben, ich habe
kein Wozu und kein Worum mehr, alles was ich versucht habe ist gescheitert. Nichts
von allem, was mein Leben ausmachte, ist mehr übrig.“ Nachdem alle Versuche,
ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen gescheitert sind, fühlt sie sich wie
betäubt. Sie erwartet nichts Gutes mehr. Sie hat resigniert. Sie braucht Hilfe.
Ich verstehe sie gut. Ich kenne existenzielle Krisen. Ich bin Krisenexpertin. Ich kenne die Resignation, dieses: „Es reicht, ich gebe auf“.
Ich habe nicht aufgegeben. Und es ging weiter. Weil es weitergeht solange wir
leben.
Jedes Mal, wenn alles zusammenbrach, habe ich mich gefragt:
Was hält mich noch, wenn alles sich auflöst?
Was bleibt von mir und meinem Leben übrig, wenn alles, was mir wertvoll und wichtig
war, zerbricht und es sich anfühlt, wie im freien Fall und du nur noch auf den
Aufschlag wartest? Was übrig blieb war meine innere Haltung und meine Werte. Auch
wenn sie erschüttert wurden, diese Säule kippte hin und her, aber sie fiel
nicht um, sie hielt. Und sie hat mich gerettet. Sich der eigenen Werte bewusst zu
sein, nach ihnen zu leben, sie nicht zu verraten auch wenn sich jemand ganz
viel Mühe gibt sie zu erschüttern, und ihnen zu folgen, verhilft uns nicht nur
zu einem Grundselbstvertrauen, sondern gibt uns Kraft – die Kraft des Glaubens
an uns selbst und das Leben, auch wenn es uns gerade die Fragmente einer alten
Identität um die Ohren fliegen lässt.
In Krisen spielen Werte eine entscheidende
Rolle.
Wenn im Außen alles wegbricht, wenn
es keinen äußeren Halt und keinen sichtbaren Weg mehr gibt, sind sie es an
denen wir uns festhalten können. Es geht um unsere innere Haltung und es geht
um unsere Einstellung zu den Dingen und die hat wiederum mit unseren Werten zu
tun. Das Wissen um unsere Werte hilft uns durch die Krise zu gehen und nicht in
Apathie und Resignation zu versinken. Was nicht heißt es ist ein Spaziergang,
nein, es ist ein Ritt durch die Hölle, aber what the fuck!, es ist unser Ritt
und damit unsere Herausforderung, die es anzunehmen und zu bestehen gilt oder
eben nicht – wir haben immer die Wahl. Wir haben die Wahl uns nicht
unterkriegen zu lassen, auch wenn es schwer ist und wir allein, ohne den Rest
der vertrauten Welt, dastehen. Wer aufgibt hat schon verloren.
„Aufgeben ist keine Option“ ist auch
einer meiner Werte. Ich bin dankbar, dass ich bisher niemals aufgegeben habe, denn
in jeder Krise bin ich gewachsen und habe mehr zu mir selbst gefunden.
Ich habe mich jedes Mal gefragt, was
darf ich aus dieser Krise lernen?
Was will sie mir zeigen?
Stoppt mich die Krise, weil ich auf
dem Holzweg bin?
Entspricht mir das Leben, das ich
lebe, noch und bin ich nur zu feige oder zu bequem um etwas zu ändern?
Was will das Leben jetzt von mir?
Was passt nicht mehr, was ich mit
Macht festhalten will?
Wessen bin ich mir nicht bewusst und
was verdränge ich?
Dann: Innehalten. In die Stille gehen. Klar werden. Gewahr werden.
Den Wert der Krise
erfassen.
Und dann die Frage: Was ist jetzt der nächste sinnvolle Schritt?
In jeder Krise steckt auch ein Wert
– er ist die Chance, die sie in sich trägt und genau das habe ich versucht zu erkennen.
Unsere innere Haltung hilft uns dabei aus der Opferrolle auszusteigen und trotzdem
weiter zu gehen. Das ist der Wert: Eigenverantwortung.
Niemand von uns wird immer gewinnen. Manchmal lässt Gott oder das
Universum oder das eigene Unbewusste, je nachdem woran wir glauben, uns in einen
Abgrund fallen, um uns von uns selbst zu befreien. Hierin liegt der Wert
des Vertrauens – das Vertrauen in das, woran wir im tiefsten Herzen glauben. Das
vertrauensvolle Herz trägt durch die Krise und wieder heraus. Vertrauen - auf die ordnende Kraft im Chaos. „Du musst mit dir selbst am Ende sein, um in
Gott den Anfang zu sehen“, habe ich kürzlich irgendwo gelesen. Für diejenigen,
die nicht an Gott glauben mag das keinen Sinn machen. Für mich macht es Sinn, weil
mich mein Glaube trägt. Für die, die nicht an Gott glauben,
kann man es so formulieren: „Du muss mit dir selbst am Ende sein um in deinem
wahren Wesen den Anfang zu sehen.“ Dazu sind existenzielle Krisen manchmal
unausweichlich – um uns dahin zu führen,
was unser Leben wirklich ausmacht, was uns wirklich erfüllt, wer
wir in Wahrheit sind, wenn alles andere zusammenbricht.
Wir sind größer als wir glauben,
wenn wir es denn glauben.
Und manchmal braucht es jemanden,
der uns das fühlen lässt und den können wir uns suchen, wenn wir es alleine
nicht schaffen.
"Ich nenne die Fähigkeit, andere Hüllen des
Bewusstseins zu betreten, Liebe. Die Liebe sagt, Ich bin alles. Die Weisheit
sagt, Ich bin nichts. Zwischen diesen beiden fließt mein Leben."
Nisargadatta Maharaj