Dienstag, 15. August 2023

Aus der Praxis: Perfektionismus

 



Wir leben in einer Zeit der Selbstoptimierung. Wohin man sieht, hört und liest, geht es darum besser zu werden, als wir sind. Die Regale der Buchhandlungen sind voll von Ratgebern, die uns "vorschreiben" wie wir zu sein haben um im Leben erfolgreich und glücklich zu sein. Life-Coaches vertönen allerorten: Du musst nur deine Gedanken kontrollieren und beherrschen und du schafftst alles was du willst, kannst alles sein, was du willst, kannst alles heilen und bist glücklich. Und zeitgleich sind immer mehr Menschen unglücklich. Sie drehen sich ständig um sich selbst. Beziehungen werden immer schwieriger und die soziale Kompetenz schwindet.
"Der Mensch wird am Du zum Ich", schrieb einst Martin Buber. Ganz im Gegensatz zu jener Zeitgeistlebenshaltung, die voll ist mit: „Ich, ich, ich."
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung", schreibt Buber weiter. Tatsache ist: Die vorherrschende Begegnung vieler Menschen ist die mit sich selbst, die anderen sind oft nur der Spiegel, der sie reflektieren soll und das im besten Licht, bitte.
 
Nichts gegen eine gute Beziehung mit uns selbst, ich bin absolut dafür. Sie ist wichtig um mit uns selbst und anderen gut zu sein, aber wer sich ständig nur um sich selbst dreht, tut sich nicht gut und anderen schon gar nicht. Er wird zum Mittelpunkt der Welt und nimmt, was um ihn herum ist, nicht mehr wahr. Seine Gedanken kreisen ständig intensiv um sich selbst. Er ist ständig bemüht besser, erfolgreicher, schöner, anerkannter, gesünder, erwachter, gewissenhafter, fehlerloser zu sein als der lahme Rest und als er es in Wahrheit ist. Er will alles sein nur bitte kein Mittelmaß, das empfindet er als persönliches Scheitern, denn dies entspricht er nicht seinem Idealbild von sich selbst. 
 
Willkommen in der anstrengenden Welt des Perfektionismus! 
 
PerfektionistInnen haben hohe Standards und streben ständig nach einem Ideal-Selbst. Ihre Gedanken kreisen unablässig darum, dieses zu erreichen. Und: sie wollen auch in den Augen anderer als perfekt gelten. Gelingt das nicht kritisiert und nörgelt der perfektionistische Mensch an sich herum, macht sich nieder und beklagt sich über alles, was nicht perfekt ist. Nichts ist gut genug, schon gar nicht er selbst. Er ist unzufrieden, weil ihm die optimale Selbstverbesserung trotz aller Bemühungen nicht gelingt. Fakt ist: Das Perfekte gibt es nicht. Nobody is perfect!
Das kann er aber nicht akzeptieren, also strengt er sich immer mehr an. Aber egal was er tut, nichts und niemand macht ihn zufrieden und nichts ist ihm genug, vor allem, er sich selbst nicht. Was immer sie auch erreichen mögen, selbst die Bewunderung und Anerkennung anderer, es wird PerfektionistInnen nie zufriedenstellen. Perfektionsversessene Menschen sind erfüllt von einem krankhaften Ehrgeiz. Sie möchten alle übertrumpfen, um die Erwartungen an sich selbst und die vermeintlichen Erwartungen anderer zu erfüllen. Hinter diesem Verhalten steckt das zwanghafte Bedürfnis etwas Besonderes zu sein. Bloß kein Durchschnitt, bloß kein Mittelmaß!, das ist eine der größten Ängste von PerfektionistInnen. Um diese Angst nicht fühlen zu müssen, treibt das Ziel immer besser zu sein, es immer besser zu machen, Tag für Tag aufs Neue an.
 
Woher kommt das?
Perfektionismus hat seine Wurzeln in der Angst, nicht gut genug zu sein, in der Angst, was andere über einen denken könnten, in der Angst, so wie man ist, nicht geliebt, wertgeschätzt oder akzeptiert zu werden, in der Angst vor Kritik, der Angst vor Minderwertigkeit und deren vermeintlichen negativen Konsequenzen. Urgrund dieser Ängste sind tief verinnerlichte hohe Erwartungshaltungen der frühen Bezugspersonen, dauerhaft erlebte elterliche Kritik und/oder der permanente Vergleich mit anderen, die besser sind als das eigene Kind. Neueste Untersuchungen gehen sogar davon aus, dass der Hang zum Perfektionismus in den Genen liegt. Zum Perfektionismus neigen Menschen mit neurotischen, narzisstischen oder zwanghaften Zügen. Diese Menschen genügen sich selbst nicht. Und sie sind nie genug um sich selbst zu akzeptieren wie sie nun mal sind. Perfektionismus hat psychische Folgen: Diese Menschen stehen ständig unter Druck, sie neigen zu Depressionen und zum Burn-Out. 
 
Wie kann diesen Menschen geholfen werden?
Vorrausgesetzt sie wollen es.
Zur Bewältigung eines dysfunktionalen Perfektionsstrebens braucht es eine Therapie. Hier wird erlernt, das Perfektionismusstreben aufzugeben und sich selbst anzunehmen wie man ist. PerfektionistInnen dürfen lernen, ihr tatsächliches Potenzial und ihre tatsächlichen Fähigkeiten zu erkennen und wertzuschätzen, anstatt alles perfekt machen zu wollen. Sie dürfen lernen, dass Fehler menschlich sind und nichts über den Eigenwert aussagen. Sie dürfen lernen, dass Mittelmaß nichts Bedrohliches und nichts Verwerfliches ist. Dazu gehört Demut. Die größte Herausforderung in diesem Prozess aber ist: die panische Angst loszulassen, so wie man ist, nichts wert zu sein.

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