Dienstag, 14. Juni 2022

Aus der Praxis: Verstrickung

 

                                                            Zeichnung: A.Wende


Immer wieder erlebe ich in der Praxis Menschen die in abhängig verstrickten Beziehungen gefangen sind. Sie leiden unvorstellbar. Sie wollen die Verstrickung lösen, aber sie schaffen es nicht, obwohl sie seelisch und körperlich am Ende sind. Das Loslassen scheint unmöglich. "Es fühlt sich an wie sterben", sagte neulich ein Klient zu mir. 
Verstrickungen zu lösen ist eine immense Herausforderung für den Klienten und den Helfer. Es ist ein langer Prozess, der die unbedingte Bereitschaft zur inneren Befreiung, Selbstreflektion, Geduld und Zeit erfordert. Vor allem aber bedeutet dieser Prozess: Erwachsen zu werden und ein stabiles Ich zu formieren, dass sich seiner Autonomie, seiner Eigenverantwortung und seines Selbstwertes bewusst wird. 
 
Was bedeutet es, wenn wir emotional verstrickt sind?
Wenn wir uns in eine emotionale Abhängigkeit verstricken, geben wir die Verantwortung für das eigene Befinden an den Partner ab und zugleich übernehmen wir die Verantwortung für den anderen. Wer emotional verstrickt ist, lebt sich selbst durch den anderen. Wer verstrickt ist, ist nicht bei sich selbst.
Typisch für Verstrickungen sind Gedanken und Gefühle wie: „Erst durch Dich bin ich komplett. Ich brauche Dich. Ohne Dich kann ich nicht leben. Wenn Du mich verlässt, gehe ich zugrunde.“
Wer verstrickt ist lebt in der ständigen Angst, den anderen zu verlieren. Diese Verlustangst führt dazu, dass diese Menschen die persönlichen Grenzen des anderen, als auch die eigenen ständig überschreiten. Sie klammern, fordern, erwarten, manipulieren und spionieren um den anderen unter Kontrolle zu behalten. Sie tun alles um dem anderen zu gefallen und erwarten ständige Aufmerksamkeit und Liebesbeweise vom anderen. Sie brauchen das Gefühl gebraucht zu werden und zugleich brauchen sie den anderen um einen Lebenssinn zu haben, den sie in sich selbst nicht finden.
Menschen in abhängig verstrickte Beziehungen sind emotional und in Gedanken ständig beim anderen und nicht bei sich selbst. Der andere, sein Leben oder sein inneres Drama haben mehr Einfluss auf ihre Gefühle und ihre Gemütslage, als es für sie gesund ist. Jeder Versuch des anderen etwas für sich selbst zu tun, wird als Bedrohung für die Beziehung empfunden und mit Anklagen, Kritik, Drohungen, Bitten, Weinen, Streit und Schuldgefühlen belegt.
 
Verstrickungen sind unheilsame Machtspiele.
Wenn wir verstrickt sind geben wir einem anderen Menschen Macht über uns selbst und üben zugleich Macht über den anderen aus. Die Grenzen zwischen Ich und Du lösen sich auf. Das eigene Ich kommt kaum noch vor. Das unbewusste Ziel jeder Verstrickung ist die symbiotische Verschmelzung zu einem gemeinsamen ICH, die der Bedürftigkeit des inneren Kindes entspringt.
Dieses bedürftige Kind hat kein gesundes Selbstwertempfinden, kein Selbstbewusstsein und kein Selbstvertrauen erlernt. Wer dies nicht besitzt, kann nicht bei sich selbst sein und nicht bei sich selbst bleiben. Er braucht die emotionale Zufuhr von außen, die ihm spiegelt: „Du existierst. Du bist wertvoll und liebenswert.“ Fatalerweise gibt er damit die Verantwortung für sein eigenes Sein an den Partner ab. 
 
Verstrickung ist die unbewusste Strategie des Inneren Kindes, um das verlorene oder nie erlebte Paradies der Kindheit von Annahme, Zuneigung, Liebe, Geborgenheit, Sicherheit, Halt, Schutz zu erreichen. Je weniger ein Mensch dies erfahren hat, um so mehr braucht er für seine innere Stabilität die Aufmerksamkeit und Liebe des anderen. Der Partner ist zuständig für das eigene Selbstwertgefühl. In der Verstrickung zeigt sich: Ich brauche von dir, was ich mir selbst nicht geben kann. Und das um jeden Preis.
Eine Verstrickung ist für den Verstrickten immer eine schwere seelische Belastung und für die Beziehung unheilsam und auf Dauer zerstörerisch. Sie wird zum emotionalen Gefängnis. Verstrickte leiden oft Höllenqualen, weil sie sich ihres Zustandes bewusst sind, aber nicht aus ihrem Gefängnis herausfinden.
 
Wenn wir verstrickt sind fehlt uns das Kohärenzgefühl, was bedeutet, dass wir mit uns selbst im Einklang stehen und uns unseres Selbstwertes und unserer Selbstwirksamkeit bewusst sind.
Nur wenn ich ganz bei mir bin, bin ich eins mit mir. Ich kenne mich hinreichend gut. Ich spüre mich. Ich weiß um meine Gefühle, Bedürfnisse und Fähigkeiten. Ich bin klar und mit mir selbst im Einklang. Ich bin mir der Grenze bewusst, die zwischen mir und anderen verläuft und an der die Ansprüche der anderen an mich enden und die meinen an andere. Dann bin ich es, der diese Grenze definiert. Ich lasse sie nicht überschreiten und überschreite die Grenzen der anderen nicht. Ich bin nicht verstrickt in das Drama anderer. Dazu muss ich es spüren, dieses Ich, das ich bin.
 
Wie kann ich Nähe zulassen und dennoch bei mir bleiben?
Indem ich nachspüre:
Wo genau verläuft die Grenze zwischen ich und du?
Was ist das meine und was ist das deine?
Wo stehe ich und wo stehst du?
Das zu wissen, ist die Grundvoraussetzung um bei uns selbst anzukommen und bei uns selbst zu bleiben.
Also: Wo stehe ich – und wo stehst du?
Und weiter:
Wer bin ich und wer bist du?
Spüre ich mich selbst, auch in der Gegenwart eines Du?
Und: In welchem Moment beginne ich mich zu verlieren?
Was will ich? Und was willst du?
Und wenn wir beide etwas wollen, beinhaltet das dann auch mich selbst und mein Wollen?
Je besser wir uns selbst kennen, umso leichter fällt es uns, zu unterscheiden. Nur wenn ich weiß, wo ich stehe und mich aus diesem Wissen heraus entscheide und auf das Wesentliche konzentriere, bleibe ich bei mir selbst.
Das zu lernen ist für Menschen, die sich verstricken, wesentlich. 
 
 
Wenn Du Unterstützung möchtest, bist Du herzlich willkommen.
In einem unverbindlichen, 20 minütigen Erstgespräch können wir uns kennenlernen und ein Gefühl füreinander bekommen.
 
Melde dich gerne unter
aw@wende-praxis.de

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