Samstag, 16. Oktober 2021

Aus der Praxis – Beziehungssucht, der unstillbare Hunger nach Liebe

                                                        Malerei: Angelika Wende


Manche Menschen sind emotional von Beziehungen abhängig, andere nicht.

Wenn ich von Abhängigkeit schreibe, meine ich: Sucht.

Neben Suchtmittel-Süchtigen gibt es süchtige Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Spielsucht, Arbeitssucht, Esssucht, Geltungssucht und eben auch Liebes - und Beziehungssucht.

 

Was ist Sucht?

Im weitesten Sinne meint Sucht jede zwanghafte Befriedigung von Bedürfnissen, die mit einem unerträglichen inneren Spannungszustand als zwingend erlebt wird. Die Befriedigung hebt diesen Zustand nur vorübergehend auf, um sich dann in gesteigertem Maße als eine Form unbezwingbarer Gier zu wiederholen. Sucht äußert sich als ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Dieses Verlangen führt dann zur Abhängigkeit.  

Abhängigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass eine für den Betroffenen unerträgliche innere Spannung die Bedürfnisbefriedigung erzwingt. Der Zwang, unter dem der Süchtige dabei steht, ist mit einem Mangel an Selbstkontrolle gleichzusetzen. 

Süchtiges Verhalten mit Krankheitswert liegt vor, wenn dieses zu einem eigendynamischen, zwanghaften Verhalten wird, das sich selbst organisiert hat und sich beständig zu verwirklichen sucht. Bei jeder Art von Suchtverhalten  handelt es sich um einen misslingenden Konfliktlösungs- oder Anpassungsversuch. Sigmund Freud interpretierte Suchtverhalten als triebhafte Beschäftigung mit sich selbst, die eine Illusion von Herrschaft über die Triebbefriedigung und befriedigende Erfahrungen ermöglicht. Diese Illusion schützt nach Freud den Süchtigen vor der Unaushaltbarkeit seiner Realität. Sucht ist so gesehen der Kompensationsversuch von inneren Konflikten und Traumatisierungen des Selbst.

 

Kennzeichen von Sucht sind:

  • Unwiderstehliches Verlangen, Zentrieren des Denken und Handeln auf das Suchtmittel, nur durch das Suchtmittel kann das innere Gleichgewicht hergestellt werden.
  • Wunsch oder Zwang, eine Substanz zu konsumieren oder etwas immer wieder zu tun.
  • Kontrollverlust.
  • Abstinenzunfähigkeit.  
  • Toleranzbildung.
  • Entzugserscheinungen. 
  • Schädlichkeit für den einzelnen und das Umfeld.

 

Das Verlangen Beziehungssüchtiger nach ihrem Suchtmittel  ist für sie unbezwingbar. Sie verlieren die Kontrolle über sich selbst. Ist der Partner nicht anwesend oder verfügbar leiden sie unter Abstinenz.  Sind sie nicht in Beziehung, haben sie Entzugserscheinungen. Der Partner wird zum Mittelpunkt und zum Dreh-und Angelpunkt der eigenen Welt. Sind sie ohne Beziehung fühlen sie sich innerlich leer und empfinden ihr Leben als sinnlos. So fungiert ihr  Suchtverhalten als energetische Barriere, die verhindert, dass Schmerz oder Ängste aus dem Unbewussten an die Oberfläche kommen.

 

"Unter Beziehungssucht versteht man die emotionale Bindung an einen anderen Menschen in einem Ausmaß, in dem die persönliche Freiheit und die menschliche Würde aufgegeben werden. Beziehungssüchtige sind nur in der Lage, (Pseudo-) Beziehungen einzugehen, in denen „zwei zu einem“ werden, und in ihnen als Person fungieren."

 (Anne Wilson Schaef, A.W., 1989). 

 

Für Beziehungssüchtige gibt es nur die Beziehung als Lebensmodell oder sogar als einzige Überlebensmöglichkeit. 

Aufgrund der inneren Überzeugung, dass nur Beziehung ihnen eine Identität verleiht, sind sie süchtig nach Paarsein. Sie brauchen den anderen um sich ganz fühlen zu können. Das ganze Sein kreist um den anderen und wird als bedingungslose Liebe zu ihm wahrgenommen.

Eine eigene Identität gelingt Beziehungssüchtigen nicht. Im Grunde wissen Beziehungssüchtige nicht, wer sie sind. Dieses Nichtempfinden für sich selbst kompensieren sie, indem sie sich auf den Partner fixieren. Sie neigen dazu sich in die Person verwandeln und sich wie die Person verhalten, die der andere gerne hätte. Der Partner wird idealisiert und überhöht. In ihren Gefühlen und Stimmungen sind sie vom Partner abhängig. Schenkt er ihnen Zuneigung und Aufmerksamkeit geht es ihnen gut, entzieht er sie, geht es ihnen schlecht. Beziehungssüchtige haben kaum Grenzen, sie verlieren sich im anderen und gleichzeitig überschreiten sie die Grenzen des anderen. Demütigungen und Kränkungen werden ertragen, um den Partner nicht zu verlieren. Auch wenn der Partner sie schlecht behandelt, bleiben sie in der Beziehung, die in Wahrheit nur eine Illusion ist. Sie bleiben, weil sie das Gefühl haben, nichts Besseres verdient zu haben und verstricken sich bis zur Selbstaufgabe. Dass sie leiden nehmen sie in Kauf.

 

In der Welt des emotional Abhängigen ist alles besser als ohne Beziehung sein. 

Betroffene fühlen sich nur sicher in der Nähe des Partners. Wendet er sich gefühlt auch nur für kurze Zeit ab wird das als Drama empfunden. Es kommt zu Eifersucht und Streit. Werden sie verlassen, stürzen sie in eine tiefe Leere. Es kommt zu Ängsten und Depressionen, denn das Alleinsein wird als qualvoller empfunden als jegliche Probleme in der Beziehung.

 

Wenn Beziehung für einen Menschen überleben bedeutet, sprechen wir von  Beziehungssucht. Beziehungssucht ist eine Sucht, die mit viel Leid verbunden ist. Betroffene jedoch verbinden Leid mit Liebe, sie glauben zu lieben, wenn sie leiden. Beziehungssucht ist eine äußerst schmerzhafte Sucht, die meist progressiv verläuft.

  

Was ist der Urgrund der Beziehungssucht?

So genau weiß man es nicht. Eindeutige Parameter warum Menschen beziehungssüchtig werden gibt es nicht.  Was man aber weiß: Jede Art von Suchtverhalten wird meist in der Kindheit angelegt und erlernt.

Hinsichtlich der Beziehungssucht gibt es zwei Haupttypen. Der erste Typus ist nach Beziehung süchtig. Diese Beziehung kann real sein oder nur in der Phantasie ausgelebt werdeb. Der Betroffene ist fixiert auf seine Vorstellung von Beziehung, wobei der Partner nicht von Bedeutung ist. Zum zweiten Typus gehören Menschen, die von der Beziehung zu einer bestimmten Person abhängig sind. Sie können auch ohne eine Beziehung leben, sobald sie jedoch in Beziehung sind, fixieren sie sich sofort auf den Partner. Beide Typen haben eins gemeinsam: Die Beziehung beherrscht das gesamte Denken, Fühlen und Handeln. Sie definieren ihre Identität über den anderen, von dem sie glauben, nicht ohne ihn leben zu können.

Zuneigungshunger und fehlendess Identitätsbewusstsein als Grundlage der Abhängigkeit

Vor allem scheint der Hunger nach Zuneigung, Liebe, Anerkennung und Halt sowie die Angst vor dem Alleinsein in dem fehlenden Gefühl für die eigene Identität begründet zu sein. Der Zugang zum Selbst ist diesen Menschen versperrt, oft weil sie als Kind ein falsches Selbst aufbauen mussten um emotional zu überleben, wodurch sie auch gelernt haben: ohne in Beziehung zu sein gehe ich zugrunde. Bin ich nicht verbunden, bin ich ausgestoßen und muss sterben. Gefühlt lösen sie sich auf wenn sie sich allein fühlen.

Die meisten Beziehungssüchtigen kommen aus dysfunktionalen Familien oder aus sogenannten broken homes (unvollständige Familie, Abwesenheit eines Elternteils als Folge von Scheidung, Tod, Getrenntleben oder sonstigen Umständen.)

Eine Ursache kann auch in einer lieblosen, von Missbrauch, Vernachlässigung geprägten traumatischen Kindheit liegen oder die Eltern haben ein Beziehungsmodell von gegenseitiger Abhängigkeit vorgelebt. Das ist der Fall, wenn Eltern zusammenbleiben, obwohl sie sich nicht lieben und nicht gut zueinander sind, so dass das Kind unbewusst lernt: Der Erhalt von Beziehung, egal wie toxisch sie sein mag, ist mit Überleben gleichgesetzt. 

 

Aus ihrer Ursprungsfamilie bringen fast alle Beziehungssüchtige keine klare Vorstellung oder eine ungesunde Vorstellung von Beziehung mit, wobei sie gleichzeitig keine oder nur eine geringe Fähigkeit zum Aufbau einer gesunden Beziehung besitzen, da sie dies ja nie gelernt haben. Beziehung ist für sie nicht einander freiwillig gut tun, sondern vielmehr assoziieren sie Beziehung mit emotionalem Überleben, Existenzberechtigung Lebenssinn und fatalerwiese mit Leiden. Vor allem aber mit dem Wunsch nach bedingungsloser „Liebe“ -  eine Liebe die alles gibt, alles in Kauf nimmt und alles erträgt. Die Selbstachtung dieser Menschen ist sehr niedrig und getragen von der unbewussten inneren Überzeugung: "Ich habe es nicht verdient, glücklich zu sein. Ich bin es nicht wert geliebt zu werden."

 

Beziehungssüchtige sind häufig sensible, empathische Menschen, die intuitiv die Mängel und Schwächen des Gegenübers spüren und sie auffüllen wollen. Sie neigen dazu andere retten zu wollen. Daher her finden wir viele Beziehungssüchtige in Co-abhänggkeit zu anderen Süchtigen oder Menschen mit Persönlichkeitststörungen wie z.B. dem Narzissmus. 

Zwanghaft suchen diese Menschen nach einer Existenzberechtigung, die sie in sich selbst nicht fühlen. Und sie suchen nach dem, was sie als Kind nicht erfahren haben: Bindung, Verbundenheit, Halt, Sicherheit und Liebe. Nur davon bekommen sie nie genug. Für Beziehungssüchtige ist es nie genug Liebe. Ihr Zuneigungshunger ist unstillbar. Die Dosis muss immer erhöht werden.

 

 „Liebe“ muss intensiv sein, egal wie und egal was es kostet. 

Je intensiver, rauschafter und schmerzhafter es ist, desto mehr glauben sie, dass es Liebe ist. Auch wenn sie rational begreifen, dass das, was weh tut, keine Liebe ist, sind sie nicht fähig sich aus der toxischen Verstrickung zu lösen. Denn dann ist da nichts mehr und das Nichts fürchten sie mehr als jede Seelenqual. Aber dieses Nichts ist nichts anderes als der Verlust von Bindung, welcher das Gefühl von Selbstverlust zur Folge hat.

 

Beziehungssüchtige klammern sich wie jeder Suchtkranke an ihr Suchtmittel.  

Beziehungssucht ist wie alle Süchte ein fortschreitender, zum Siechtum führender Prozess, gelingt es nicht, ihn zu stoppen. Um seiner Sucht zu frönen gibt sich der Süchtige immer weiter auf. 

Genau wie bei substanzgebundenen Süchten gewinnt das Suchtmittel die Kontrolle über den Menschen und sein Leben. Er löst sich mehr und mehr auf und verändert sein Wesen. Mit fortschreitender Sucht treten immer bestimmte Verhaltensmuster und Wesensveränderungen ein. Der Partner wird z.B. immer mehr kontrolliert. Es kommt zu Machtausübung, Schuldzuweisungen und extremer Eifersucht. Es kommt zu Selbstbezogenheit, Unehrlichkeit, eingeschränktem Denkvermögen und tunnelartigem Denken. Aggression, Wut und Drohungen sind nicht selten, sobald der Partner sich gefühlt entzieht oder sie gar verlassen will. Des Weiteren kommt es zu Selbstvernachlässigung, Vernachlässigung von Verantwortung usw. Das zerstörerische Verhalten wird ständig wiederholt. Um den Erhalt der Beziehung wird bis zur Selbstaufgabe gekämpft. Der Süchtige ist nicht mehr in der Lage angemessen zu reagieren oder seinen Alltag auf gesunde Weise zu bewältigen. Er verliert schließlich die Kontrolle über sich selbst und sein Leben.

Beziehungssucht ist wie alle Süchte zerstörerisch.

 

Wie gelingt es Beziehungssucht überwinden?

Der erste Schritt, um Beziehungssucht zu überwinden, ist die Krankheitseinsicht des Betroffenen. Das bedeutet zu erkennen und sich selbst ehrlich einzugestehen, dass man süchtig ist. Das passiert aber in den meisten Fällen erst dann, wenn seelische Störungen wie Angstzustände, Panikattacken, Depressionen oder körperliche Erkrankungen den Betroffenen signalisieren, dass es so nicht weitergeht. 

Ist der erste Schritt getan gibt es Wege um aus der Beziehungssucht heraus zu finden. Eine Therapie ist unumgänglich um die selbstschädigenden, unheilsamen Verhaltensmuster zu identifizieren und sie durchbrechen zu lernen.  

 Beziehungssüchtige müssen lernen sich selbst zu fühlen um eine eigene Identität aufzubauen.

In der Thera­pie geht es u.a. darum die slbstschädigenden inneren Überzeugungen und die dysfunktionalen Muster die zur emotionalen Abhängigkeit führen zu erkennen und sie langsam aufzulösen. Der Beziehungssüchtige lernt nach und nach sich selbst als Individuum mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen wahrzunehmen, diese auszudrücken und für sich selbst zu stehen um das Leben alleine meistern zu können. Dazu gehört das Selbstbewusstsein, die Selbstwertschätzung, den Eigenwert und das Gefühl des Ganzseins in sich selbst zu stärken um eine gesunde Beziehung zu sich selbst aufzubauen. Schließlich gilt es zu verinnerlichen, dass er es wert ist, wirklich und wahrhaftig geliebt zu werden.

 

Wenn du dich in diesem Text erkannt hast und Hilfe suchst, schreib mir eine Mail unter:

aw@wende-praxis.de

 

 

 

 

 

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