O.T. AW |
"Es gibt kein größeres Verlangen, als das eines Verwundeten nach einer anderen Wunde", schreibt der Philosoph Georges Batailles. Wir alle sind verwundet auf irgendeine Weise und wir alle leben mit diesen Wunden. Sie beinflussen unser Leben mehr oder weniger. Je nachdem wie tief sie sind, je nachdem wie wir sie empfinden. Auch in trage Wunden in mir, alte und neue. Wunden sind ein Teil des Menschseins. Sie zu haben ist unschön glauben wir. Sie sind es, die uns angreifbar machen. Das ist wahr. Sie sind es aber auch, die uns öffnen, für die Wunden anderer. Und es ist nicht selten, dass wir aufgrund unserer eigenen Wunde auf ein Gegenüber treffen, dass eine ähnliche Wunde in sich trägt. Die Wunde sucht die Wunde, sagt Batailles und ich gebe ihm Recht. Es ist die Wunde, die uns empathisch macht, für uns selbst und für andere. Wunden, so sehr sie unsere Integrität auch ins Wanken bringen können, haben Sinn. Sie machen uns auch aus, machen uns zu dem Menschen, der wir sind.
Hildegard von Bingen sagte einmal: Unsere Wunden werden zu Perlen, wenn sie zur Quelle des Lebens werden. Das klingt schön. Das gefällt mir und ich weiß, dass sie Recht hat mit diesen schönen Worten. Ohne meine Wunden würde ich all das, was mir wichtig ist, all das, was ich tue und Tag für Tag lebe, nicht tun und nicht tun können. Meine Wunde ist die Quelle meiner Inspiration und das Geschenk durch das ich mich in Menschen einfühlen kann und ihnen beistehen kann. Ich lebe lange genug um meine Wunden zu kennen und zu verstehen. Ich habe sie mir immer wieder angeschaut und ich habe irgendwann erkannt, dass es nicht nötig ist alle Wunden zu heilen.
Es gibt Wunden, die niemals heilen.
Sie vernarben und bei der kleinsten Berührung brechen sie auf. Dann bricht etwas heraus, was alt ist und doch anders, denn das Alte hat sich verwandelt. Im Lauf der Zeit hat es eine andere Qualität bekommen. Weil ich meine Wunden angeschaut habe, weiß ich, dass ich die Verantwortung dafür übernommen habe. Ich verstehe mich besser aus dieser Verantwortungsnahme heraus.
Die tiefsten Wunden sind die, die wir als Kind erfahren haben, die prägen sich ein. Alle Verletzungen, für die wir offen sind, sind Folgen dieser Wunde. Sie ist der Urgrund, der uns empfindlich macht und berührbar im Guten wie im Unguten. Im Guten ist diese Wunde, wie Hildegard von Bingen sagt, die Perle, die, wenn wir sie formen, unser Leben zu dem macht, was es ist - wertvoll und kostbar.
Manchmal begegnen mir Menschen, die einer Auster gleich verschlossen sind. Sie verbergen ihre Perle im Dunkel der harten Schale, weil sie sie schützen wollen, vor neuen Wunden. Aber die Perle ist dennoch da. Und von da, wo sie ist, wirkt sie über die harte Schale hinaus und bringt Dinge hervor, die es ohne sie nicht geben würde. Sie ist wie die Sehnsucht, eine Kraft die dazu da ist Schöpferisches in die Welt zu tragen. Im Schöpfersichen ist der Mensch, was er sein könnte, im Schöpfersichen spürt er sich selbst und im Schöpferischen wirkt die Wunde in ihrer anderen, positiven Qualität über das Eigene hinaus hin zu anderen. Das ist für mich Heilung, nicht "es" wegmachen.
Jedes kramphafte Bemühen die Wunde endlich los zu werden, führt nur dazu, dass sie weiter aufreisst und mehr schmerzt. Jeder Versuch die Wunde wegzudenken oder uns von ihr abzuwenden, führt zu Irrwegen in unserer Entwicklung. Das Anerkennen aber führt zur Versöhnung mit unserer Wunde. Ob sie nun heilt oder nicht spielt keine Rolle, sondern allein das, was wir mit und aus ihr machen.
Manchmal begegnen mir Menschen, die sagen, heile meine Wunde.
Dann weiß ich, das ist ein Mensch, der sich nicht annehmen kann. Du bist auch diese Wunde, sage ich dann, ich versuche es zu vermitteln, aber bei manchen Menschen führt dieser Versuch zu immer weiteren Versuchen mir genau das auszureden. Wer einen Teil von sich ablehnt, lehnt sein Ganzsein ab, weil alle Teile uns ausmachen als Ganzes, als der Mensch, der wir eben nun mal sind. Unser Ganzsein ablehnen ist Selbstverurteilung. Wer sich selbst verurteilt hat es schwer mit sich selbst und schwer mit seinen Wunden. Das Leben ist schwer genug.
Ich habe irgendwann aufgegeben mich zu rechtfertigen für das, was ich auch bin. Und ich gebe es mehr und mehr auf zu glauben, dass irgendein anderer mir das gibt, was ich mir nur selbst geben kann: Verständnis für meine Wunden oder Heilung. Das vermittle ich meinen Klienten. Ich sage ihnen auch: Ja, manchmal machen deine Wunden dich noch immer traurig und manchmal lähmen sie dich, zwingen dich zum Rückzug von der Welt da draußen. Und das darf sein. Und ja, das ist traurig. Und auch das darf sein.
Es ist in Ordnung, denn in jedem starken Gefühl liegt eine Wahrheit. Und in jedem achtsamen und liebevollen Hinwenden zu diesem Gefühl liegt die Chance ganz mit uns zu sein, mit dem Menschen, der uns am Nächsten ist, den kennen zu lernen, auch im Schmerz, für mich ein Abenteuer ist. Abenteuer sind keine Spaziergänge, sie sind voller Herausforderungen, voller Gefahren und Risiken. Manchmal sind sie schmerzhaft, aber ist nicht das auch das Leben?
Wenn wir genug vom Abenteuer habe, kommen wir wieder nach Hause, vielleicht sogar mit neuen Wunden. Wir kommen nach Hause zu dem Menschen, der uns annimmt wie wir sind - wir selbst, auch mit unseren Wunden. Wunden sind nichts Ungutes. Für mich sind sie ein Antrieb immer weiter zu machen, solange bis ich die Perle in ihrer ganzen Schönheit geformt habe.
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