Samstag, 18. Juni 2016

Authentisch sein – Risiken und Nebenwirkungen

 
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Authentizität ist ein Modewort unserer Zeit. Authentisch sein wollen viele und genauso viele nehmen es für sich in Anspruch, aber vor allem, viele fordern von Anderen, dass sich es doch bitteschön sein sollen.  Ich bin authentisch, das klingt nach menschlicher Größe, nach Souveränität und Reife. 

Aber was bedeutet es wirklich, authentisch sein?
Authentizität ist nicht etwa eine Erfindung der Moderne, sondern eine alte Tugend, die sich der Philosoph Jacques Rousseau (1712–1778 ), seinerzeit von den Menschen im sozialen Umgang miteinander wünschte. In seinen Schriften finden sich jene Bedenken gegen das Spielen einer Rolle und das Tragen einer Maske, die heute noch gelten. „Ich mache mir selbst und anderen nichts vor, ich stehe zu mir, ich bin wer ich bin und ich lebe danach.“ So etwa die Essenz des Denkens des Vertreters der Echtheit und Aufrichtigkeit Jean-Jacques Rousseau, in Kurzform. 

Was Rousseau jedoch vergaß ist, dass dem Menschen neben einer „Zeige- und Offenbarungstendenz“ auch die entgegengesetzten Tendenzen der „Scham und der Verhüllung des Intimsten“ eigen sind.

Rousseaus Ethos der absoluten Echtheit gegenüber steht das im Menschen angelegte Distanzverhalten, welches darauf ausgerichtet ist, den Mitmenschen nicht immer und überall mit den eigenen Befindlichkeiten, Gefühlen und intimsten Gedanken zu begegnen, sie so zu befremden, zu schockieren oder gar zu beleidigen. Man stelle sich einmal vor, wir zeigten uns immer und überall genauso so, wie wir im tiefsten Innersten sind. Also schonungslos echt, im Fühlen, Denken und Handeln übereinstimmend, denn das genau ist es, was Authentizität ausmacht, möglicherweise gäbe es dann noch mehr Hass, Neid, Mord und Totschlag.

Anders gefragt: Ist es wirklich sinnvoll immer „echt" und "wahrhaftig" zu sein? Wollen wir denn überhaupt mit den „echten“ Befindlichkeiten unserer Mitmenschen behelligt werden? Wollen wir denn, dass jeder alles von uns weiß? Haben wir nicht vielmehr ein genuines Interesse daran unser Innerstes zu schützen?

So manch Einer begreift sich selbst nur allzu gern als authentisch, ohne allerdings genau zu wissen, wovon er da redet. Dass die Existenz in der Vielfalt der sozialen Rollen, die wir tagtäglich performen, den Menschen unecht macht und von sich selbst entfremdet, darüber sind sich alle klugen Geister einig. Aber wir sind nun einmal an verschiedenen Orten, im unterschiedlichen Kontext, in unterschiedlichen sozialen und zwischenmenschlichen Kontakten, verschieden Handelnde und sogar verschieden Fühlende und Denkende. Ich kann nicht professionell sein, wenn ich anderen zu viel oder gar alles von meinem Eigenen präsentiere. Das wäre zwar ziemlich radikal, möglicherweise aber sogar grenzverletzend und irgendwie auch narzisstisch, aber vor allem bisweilen, je nach Gefühlslage, sogar verstörend für das Gegenüber.

Authentisch sein, immer und überall, jedem gegenüber? Was hätte das für Folgen für den Einzelnen und das Kollektiv? 

Man darf nicht vergessen, das hinter Rousseaus Plädoyer für Authentizität ein ausgeprägtes Interesse an Sicherheit, an einer zuverlässigen Verknüpfung von innerem und äußerem Sein gegenüber den Mitmenschen, steckt. Ich zitiere: „Wie angenehm lebte es sich unter uns, wenn die äußere Haltung stets das Abbild der Herzensneigung wäre?“ ( Rousseau).  Nur, was dann, wenn die Neigung des Herzens keine gute ist? Wo führt sie dann im Zweifel hin? 

Drop off the mask and let see! In manchen Fällen besser nicht!

Rousseau wandte sich gegen die kultivierte Form der Täuschung und gegen Maskenträger. Das Tragen der Maske, das Spielen einer Rolle bedeutete für ihn den Urgrund des Leidens dessen, der sich der Scheinheiligkeit der gesellschaftlichen Regeln unterwarf. Weiter glaubte Rousseau, jegliches Rollenspiel führe zur Fremdbestimmung und somit in der Folge zur Entfremdung von sich selbst und vom Mitmenschen. „Man wagt nicht mehr als das zu erscheinen, was man ist. Was er ist, ist nichts, was er scheint ist alles.“ (Rousseau) 

Insofern hatte Rousseau Recht, die Lust zu Gefallen und die Angst sich selbst zu sein und das auch zu zeigen, verhindert naturgemäß Authentizität. Wie weit diese jedoch gehen soll um nicht kontraproduktiv zu wirken, wie weit der Mensch sich bedecken muss, um nicht völlig transparent zu werden und damit antastbar und verwundbar, darüber machte er sich weniger Gedanken. 

In der Moderne ist Authentizität eine Besonderheit, eine charakterliche Größe, welche den Menschen über seine „unechten“ Zeitgenossen erhebt. „Dieser Mensch ist absolut authentisch“, wird als Kompliment empfunden. Ein Kompliment, dessen Bedeutung der Mehrzahl in seiner absoluten Tragweite fremd bleibt.

Was, wenn sich jemand plötzlich outed und sein intimstes Leben Preis gibt, und damit auch denen gegenüber, die das nicht als eine Offenbarung des Herzenswunsches absoluter Ehrlichkeit achten, sondern mangels eigener Herzensbildung über ihn herfallen weil das, was er auch ist, ihnen missfällt oder gar gegen ihre bigotte Moral verstößt? Was, wenn ich meinen Schatten anderen, die nur darauf warten mich anzugreifen, zum Drauftreten anbiete? Dann bin ich zwar authentisch, aber wem nützt das und vor allem, wem schadet es? Mir selbst. Die Anderen sind die Anderen und nicht mein Seelenheil und manche Andere sind geradezu gierig auf die Schattenaspekte ihrer Mitmenschen, damit sie das eigene Ungelebte und Verdrängte schamlos und unreflektiert darauf projizieren können.

Hand aufs Herz, Ihr Lieben, in welcher Welt leben wir denn? In einen Welt der Herzensbildung? 

Nein, wir leben zunehmend in einer Welt der einsamen Wölfe, von denen immer mehr für sich selbst reißen, was es zu reißen gibt, in einer Welt, deren Existenzkampf den Einzelnen überfordert und zwar jung und alt gleichermaßen.

Herzensbildung und Schöngeistigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit wurden uns nicht gelehrt und unsere Kinder lernen auch nur, wie sie funktionieren müssen um Leistung zu bringen und zum dumpfen Konsumenten zu werden, anstatt zu einem mündigen Menschen, der für sich selbst steht und für sich einsteht. Wer authentisch ist muss sich warm anziehen um im kalten Klima des Zeitgeistes zu überleben. Er ist ein Sonderling. Er hat es schwer, denn er hat die Verpflichtung übernommen, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein gegen alle Widerstände und Angriffe.

Die alles entscheidende Frage bezüglich Authentizität aber lautet für mich: Weiß ich wirklich wer ich wirklich bin, mit allem was mich ausmacht, dem Hell und dem Dunkel, kenne ich meine Schatten so genau, dass ich sagen kann wie sie aussehen und bin ich dazu fähig radikal und schonungslos ehrlich mir selbst gegenüber zu sein und das auch vor anderen genauso ehrlich auszudrücken? Kenne ich mich tatsächlich in meinem ganzen Sein? Wenn ja wäre das authentisch. Aber es wäre vermessen, das von mir selbst sagen zu wollen. Und wenn ich es doch wäre und es dann radikal lebe, ist es dann nicht auch authentisch mich da zu schützen, wo ich anderen einen Angriffspunkt bieten würde oder ihnen geradewegs ins gewetzte Messer liefe?
Darüber sollten so manche Zeitgenossen, die das Hohe Lied auf die Authentizität singen und sie von Anderen fordern, bevor sie sich um ihre eigene Wahrhaftigkeit Gedanken gemacht haben, einmal nachdenken.


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