Real Irreal Surreal
WIRKLICHKEITEN DES REALISMUS
Ich begrüße Sie herzlich zur Großen
Retrospektive des zeitgenössischen Realismus.
Zwanzig Jahre nach der
Wiedervereinigung Deutschlands und der Gründung des Künstlersonderbundes in
Deutschland veranschaulicht diese Ausstellung mit fast 100 Künstlern und über
200 Werken der Malerei, Grafik und Bildhauerei hier in den Räumen der
Uferhallen in Berlin-Wedding die Bedeutung der gegenständlichen Kunst der
Gegenwart. Sie führt jene Künstlerinnen und Künstler zusammen, deren Werke
erkennbar die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenständlichkeit und
dem Realismus ihrer Zeit widerspiegeln.
Es ist mir eine Ehre heute hier zu sein. Ich danke dem Künstlersonderbund
für sein Vertrauen und auch dem Mitglied dieses Bundes, dem Maler Herrn Dietmar
Groß, der mich empfohlen hat.
Ich werde nicht mit dem kunsthistorischen Auge auf diese
Werke blicken, ich werde nicht auf jedes Einzelne eingehen können, dazu sind es
zu viele, was ich im Folgenden zu sagen habe ist das Ergebnis meiner
individuellen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Realismus.
Der Schweizer Schriftsteller Etienne Barillier gab in den
Neunzigern ein Buch heraus mit dem Titel „Die künstliche Geliebte“. Der
Protagonist, ein junger Mann, sehnt sich nach der einen wahren Liebe in Gestalt
der idealen Geliebten, die die Welt mit all ihren Erscheinungen durch und mit
seinen Augen sieht, die das Gleiche wie er fühlt und denkt. Nachdem er diese
Sehnsucht in der Realität mit keiner Frau stillen kann erschafft er sich eine künstliche
Geliebte nach seinem Ebenbild. Mit der Zeit jedoch entwickelt die künstliche
Frau ein Eigenleben. Sie beginnt ihre eigene Wirklichkeit wahrzunehmen und zu
erschaffen. Der junge Mann zerbricht an der Erkenntnis, dass nicht einmal das
von ihm selbst erschaffene Wesen ein identischer Teil seines „in der Welt seins“
ist. Die Geschichte endet in abgrundtiefer Verzweiflung und schließlich in Zerstörung.
„Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit ist die gefährlichste
aller Selbsttäuschungen. Es gibt sie nicht, diese eine Wirklichkeit, es gibt
vielmehr zahllose Wirklichkeiten, die sehr widersprüchlich sein können, die
alle das Ergebnis von Kommunikation und nicht der Widerschein ewiger objektiver
Wahrheiten sind“, schreibt der Philosoph und Psychoanalytiker Paul Watzlawick
in seinem Werk „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“. Er kommt zu dem Schluss,
das der Glaube, dass die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit
schlechthin bedeute eine gefährliche Wahnidee sei, eine Anmaßung, ja gar die „think
crime“ der menschlichen Existenz.
Ist es möglich, ist dieses Gedankenverbrechen der Urgrund für
das Leiden in der Welt? Ist es unsere subjektive Sicht, die uns leiden macht,
die Unfähigkeit der Akzeptanz der Dinge, wie sie sind. Aber was, wenn die Dinge
nicht sind, was sie sind, es niemals sein können, wenn es dieses objektiv
Seiende nicht gibt, wenn das Seiende eine nichtfassbare Größe ist, wenn jedes
Ding nur der Widerschein dessen ist, was sich in uns spiegelt und wir uns
wiederum in ihm? Dann gibt es nur subjektive Annahmen und keine Wirklichkeit.
Dann gibt es kein Richtig und kein Falsch, dann gibt es das Individuum in
seinem Hineingeworfensein in die Welt, den Schmerz des Getrenntseins und die
ewige Suche nach Wahrheit.
Eine Suche, die mit der Frage beginnen könnte: Was ist
Realität? Was ist real und damit in unseren Augen wahr? Ist Wirklichkeit, wie
Watzlawick behauptet, etwas individuell Konstruiertes? Oder ist sie eine
messbare, bestimmbare, überprüfbare, beweisbare, allgemeingültig existierende
verbindliche Größe? Ist Wahrheit, wie Heidegger sagt, niemals an sich, von
selbst vorhanden und als solche entzifferbar, sondern erstritten? Die Kunst als
Formbehauptung, insbesondere der Realismus, ist wie die Philosophie
Wahrheitsbehauptung, eine Realitätsform von Wahrheiten, die nicht präexistieren.
In beiden Fällen werden Wahrheiten konstruiert, welche die Ordnung der
Tatsachen korrumpieren.
War die
Vorstellung von Wirklichkeit früher so konzipiert, dass man, ob ihrer Härte,
dagegen stieß so ist sie heute mehr und mehr ein fließendes, zerfließendes
Gebilde, das sich in Frage stellt sobald wir Fragen stellen, schon weil wir
selbst in Frage gestellt werden, sobald wir realisieren. Die reale Welt und das
reale Ich, von dem wir längst wissen, dass auch dieses aus vielen Ichs besteht,
erweist sich als subjektiv interpretatives Substrat aus dem wogenden Meer der Möglichkeiten,
welches der Mensch selbst herausfischt.
Die Dinge sind abhängig vom Auge des Betrachters.
Niemals nehmen wir an den Erscheinungen, zu deren
Bildung unsere Sinne angeregt werden, Wirklichkeit wahr. Sobald zu den
Erscheinungen der Gedanke oder das Gefühl tritt kommt eine neue Tönung hinzu.
Die Sinne können uns die Wirklichkeit nicht geben, sondern umgekehrt ist sie
etwas, das wir den Sinnen geben.
Wirklichkeit ist eine Beziehung des Geistes zum
Geheimnis des Seins.
Dies ist der tiefste Grund, weshalb der Realismus mit
der Wirklichkeit als solcher nichts zu schaffen hat: weil sie Sache der Sinne
ist, weil sie etwas Abstraktes ist und unter der Oberfläche der Dinge liegt.
Der Realismus fügt die Qualitäten der Wirklichkeit zu neuen Gebilden zusammen.
Er nimmt sie als Vorlage, als Motiv für ein Hervorbringen jener inneren Zustände
und Impulse, Gefühle und Assoziationen, die sich an die Erscheinungen der Dinge
knüpfen und verarbeitet sie, über ihre bloße Erscheinung hinaus, zu einem neuen
Bild von Realität. Realismus, vom Lateinischen „realis“, bedeutet so viel wie „die
Sache betreffend“. Von Frankreich ausgehend setzte er sich im 19. Jahrhundert
in der Malerei durch. Den Malern war die historisierende, idealisierende
Darstellung in der Romantik ein Dorn im Auge, sie wollten das Alltägliche, das
sich an den Sinnen orientierende Fassbare, darstellen.
Der Realismus ist immer ein optisches Spiel mit der
Wahrnehmung, er bringt den Reiz der Erscheinung als auslösenden Moment für
Kunst zum Erwachen und macht diesen zu einer Realität, die wir als Betrachter
gleich unserer eigenen Realität erleben dürfen. Doch ist durch die reine
Sichtbarkeit des Inhalts der Wirklichkeitsakzent noch nicht gegeben, sondern
erst die Kunstmittel des Realismus rufen ihn hervor, oder vielmehr nicht ihn in
seiner objektiven Bedeutung, sondern die sich einstellenden Affekte, die durch
die sichtbare Qualität der Dinge ausgelöst werden.
Schon Kant postulierte, dass alles, was wir über unsere
Sinne empfangen, durch unser Nervensystem gefiltert wird. Dort wird es neu
zusammengesetzt und liefert uns ein Bild, das wir Realität nennen. Der Mensch
modelliert sich seine Welt danach, was seine Sinne und sein Bewusstsein ihm an
Begreifen erlauben. Was er nicht fühlen, schmecken, hören, riechen und sehen
kann, nimmt er nicht wahr. Es kommt in seiner Welt nicht vor. Selbst das Abstrakte
muss als Zeichen begriffen werden, um es in die eigene Welt zu integrieren.
Unsere individuelle Welt ist niemals die Welt, wie sie an sich ist.
Alles Schimäre, weiter nichts, eine bloße Vorstellung von
objektiver Realität, eine Fiktion, die von unserem in Begriffen und Kategorien
denkenden Verstand herrührt? In der Tat sind sogar Ursache und Wirkung, Raum
und Zeit Konzeptualisierungen, Gefühlskonstrukte, die zu Gedanken und
Handlungen werden und keine Gebilde die es „da draußen“ gibt. Der Mensch ist
nicht fähig über die von ihm selbst erarbeitete Version einer Realität
hinauszublicken und zu sehen was wirklich ist. Wir können sie nicht erfassen,
die Wesenheit der Dinge, die vor der Reproduktion durch unseren
Wahrnehmungsfilter und unseren Verstand existiert. Das ursprüngliche Gebilde,
das Kant als Ding bezeichnete, bleibt uns auf ewig unerkannt.
Es war
Schopenhauer, der zustimmte, dass wir das „Ding an sich“ nie erkennen können,
aber erweiternd hinzufügte, dass eine entscheidende Quelle über die Informationen
wahrgenommen werden, der menschliche Körper ist. Der Körper als materielles
Objekt existiert in Zeit und Raum. Der Körper besitzt ein tiefes inneres
Wissen, ein Wissen, das nicht auf einem verstandesmäßigen Begriffssystem und
auch nicht auf dem Wahrnehmungssystem basiert – sondern allein von den Gefühlen
herrührt. Schopenhauer war seiner Zeit voraus mit der Annahme, dass es zwei
Arten von Wissen gibt, ein gefühlsmäßiges, instinktives und ein verstandesmäßiges,
begriffliches Wissen. Er wusste, dass dieses gefühlte Wissen weitaus
elementarer ist als das begriffliche. Lange vor Sigmund Freud wusste er um die
Existenz der unbewussten Kräfte in der psychischen Struktur, um das verdrängte
Unterbewusste, das nicht ins Bewusstsein einbricht. Und er war der Ansicht,
dass gerade im Bereich künstlerischen Produzierens die unbewussten Antriebe
primärer sind als die bewussten: „...Obgleich sie nicht in Begriffe gefasst
werden können, vermitteln sie sich direkt und ohne Worte, sie kommunizieren
sich auf dem Wege der Kunst.“
Auf die Ebene der geistigen Gesinnung des Realismus
transportiert,
bedeutet das, dass das Kunstwerk wahr ist, und zwar nicht gegenüber der äußeren,
dinglichen Welt, sondern gegenüber der inneren, geistigen Wirklichkeit.
Diese Gesinnung wehrt sich gegen die allgemeingültigen,
etablierten Wahrheitssysteme, sie tastet das Unantastbare an und fordert Raum für
das Mögliche. Der Realismus, der sein Bild von Welt über die Gegenständlichkeit
zum Ausdruck bringt ist ein viel weiteres Prinzip, als dass es von der äußeren
Nachahmung der Wirklichkeitsnähe gedeckt werden könnte. Vielmehr ist er als
eine Form des Oberbegriffs „Konzepte“ zu begreifen. Er entspricht einem
malerischen Konzept um Realität zu hinterfragen, um Dinge ans Licht zu bringen,
die parallel zur vertrauten sichtbaren Wirklichkeit existieren, oder darüber
hinaus. Zugleich bildet er so einen Konzeptrahmen in dem der Künstler sehr
bewusst Gegenständlichkeit betreiben muss. Das macht den entscheidenden
Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus aus.
Das Kunstlexikon vermittelt lapidar, Realismus sei
wirklichkeitsnahe Darstellung. Seinem Wesen nach ist er das nicht, denn der Maßstab
des Naturalismus ist die äußere Richtigkeit, der Maßstab des Realismus hingegen
ist die innere Wahrheit. Innere Wahrheit beschränkt sich nicht auf ein „es ist
wie es ist“, sie weitet aus zu einem: „Es ist wie ich es empfinde.“ Und sei
dieses Empfinden auch nur eine Möglichkeit, nicht überprüfbar, nicht beweisbar –
eine Möglichkeit eben, nichts weiter und doch so viel. Auf diese Weise befreit
sich der Realismus aus der Tyrannei der angeblichen Realität.
Er folgt nicht der Nomenklatur derer, die eine objektive
Realität verfechten, er lässt ein Max Plank´sches: “Wirklich ist, was sich
messen lässt“ links liegen, er ergibt sich den Möglichkeiten in ihm selbst und
realisiert. In der Weise, dass aus Subjektivität Projektivität wird.
Der
Gewinn: Das Abenteuer Wirklichkeit.
Wenn auch das Medium der Realisten die sichtbare
Wirklichkeit ist, die quasi als Metaebene fungiert, so ist jeder Realismus
anders als die Realität. Die subjektiv-projektive Beziehung zwischen Objekt und
Betrachter beinhaltet die Möglichkeiten der Illusion, des Irrealen und des
Surrealen. Bis hin zu Sinnestäuschungen ist alles erlaubt. In diesem Raum gibt
es keine unmögliche Objektivität, sondern eine reine Produktion von Subjektivität.
Dies entspricht auf der psychologischen Ebene einem Prozess der
Subjektivierung, der Selbstfindung, in dem das Subjekt Kontrolle über sich zu
erlangen versucht. Es ist so Subjekt der Selbstkonzeption, der Freiheit und der
emanzipatorischen Selbsterhebung. Jedoch erfährt es sich in diesen affektiven
Turbulenzen selbst in Konfliktspannung. Denn als Subjekt der Selbsterfindung
und Selbsterhebung beginnt es sich inmitten des Chaos eines historischen,
politischen und kulturellen Zusammenhangs aufzurichten. Es beginnt zu
rebellieren gegen das, was aus ihm ein Produkt fremder Willens- und
Wahrheitsbegriffe macht. Die Selbstaufrichtung des Subjekts ist ein Widerstand
gegen die Herrschaft der allgemeingültigen Realitätsdefinitionen. Es wehrt sich
gegen die Dingwerdung oder Verdinglichung seines Seins durch die Bewegungen,
die Sinn- und Wertstiftungen der Geschichte, mit dem Ziel sich von dieser
Geschichte lösen ohne den allgemeinen Geschichtsraum, dem es angehört,
verlassen zu können, aber um der eigenen inneren Wahrheit Ausdruck zu
verleihen, ihr zu folgen und sich als Mensch zu individuieren. Was Foucault
Subjektivierung nennt zielt auf dieses Werden, das sich Selbstwerden, das
Subjektwerden, die Autokonstitution des Individuellen – die Authentizität der
Persona.
Die
innere Wahrheit als Maßstab prägt das malerische Schaffen der Realisten, die
sich in der Schau „Gegenstand Realismus“ zusammengefunden haben.
Verbindet
ihre Arbeiten auch Ähnlichkeit was Technik und Stilmittel anbelangt, der Gestus
altmeisterlicher Malweise, die extreme Liebe zum Detail, der Hang zur
Perfektion und eine fast schon exzessiv anmutende Präzision mit der sie
realistische und zugleich illusionistische Bilder schaffen, so begegnen sich
hier doch sehr verschiedene malerische Positionen gegenständlicher Malerei, die
ihren persönlichen Stil und ihre eigenen Themen entwickeln.
Die
Szenerien der Werke eröffnen dem Betrachter auf ihre jeweils ureigene Weise
eine Welt des Phantastischen, Rätselhaften, Eigentümlichen und Fremden, eine
Wirklichkeit deren Subtext auf der Klaviatur von Hintergründigkeit,
Doppeldeutigkeit, und Widersprüchlichem spielt. Das sind Kompositionen die uns
in Kopfwelten blicken lassen, welche den Schauplatz des Gegenständlichen mit
dem Irrealen und dem Surrealen verbinden. Ein Trennung dieser Ebenen – ein unmögliches
und sicher auch nicht beabsichtigtes Unterfangen. Das eine fließt in das andere
um Neues zu erschaffen. Andersartigkeit, Sein und Schein im Dialog um das
Seiende zu hinterfragen. Was scheint wie es ist und was ist nicht wie es
scheint? Was ist wirklich?
Die
Dramaturgie einer Flut emotionaler Aufladung zieht sich wie ein roter Faden
durch die Schau. Diese Bilder führen uns in eine Welt voll mystischer
Dimension, in ein Areal von Träumen. Sie irritieren und verunsichern, bisweilen
lösen sie Angst aus. Diese Realisten konzeptionieren Zusammenspiele von Dingen
in deren Kontext der sensible Betrachter Erschütterungen im Individuum und im
Kollektiv spürt. Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges vermischt sich. Was
anklingt ist das Gewahrsein: nie wird die Gegenwart ohne die Verzerrungen und Überlagerungen
früherer Erfahrungen erlebt, nie ist sie ohne Zukunftserwartung.
Die leise
Ahnung, dass der sich selbst überholende Fortschritt keine Verbesserung
verspricht wabert in den Sujets. Geschichten suchen sich Raum, wachsen über den
Bildrahmen hinaus, schaffen sich eine intensive Präsenz und stoßen uns auf uns
selbst zurück. Real, Irreal, Surreal? Die Bilder sprechen und wir „hören“ was
wir glauben und „sehen“ wozu wir Resonanz haben.
Getragen
von magischer Poesie und metaphysischer Energie schwingt hier eine suggestive
Wirklichkeit im Raum, deren Streben es ist die Existenz einer anderen Welt
aufzuzeigen, einer Welt, die wir so noch nicht gesehen haben, eine Realität,
die wir so nicht sehen, an die wir nicht glauben wollen oder können, eine
Wirklichkeit zu der wir den Kontakt verloren haben oder ihn niemals hatten,
oder haben werden. Hier wirkt, um es mit den Worten Goyas zu sagen: „Magische
Wirklichkeit, in der alles möglich ist.“ Auch Befreiung, Freiheit und Vision.
Nicht erst seit Couberts Manifest „Pavillon du Realisme“ ist
der Realismus der malerische Königsweg in der Bildenden Kunst um die Fragwürdigkeit
einer absoluten Wirklichkeit ans Licht zu bringen - der Realismus ist so alt
wie die Kunst selbst. Der Realismus hat schon mit Caravaggio, der sich in
seinem Werk gegen die religiös-sakrale Herrschaft wandte und so bereits im Barock
das Fühlen in die Malerei brachte, mit der Absicht etwas im Betrachter zu
bewirken, den Drang sich aus den Bindungen der Erscheinungswelt zu befreien.
Karel Van Mander erfasste um 1603 den Kern von Caravaggios Werk: „Er glaubt,
dass Kunstwerke nichts als Bagatellen und Kindereien sind, wenn sie nicht nach
dem Leben geschaffen sind.“
Aber was ist Leben? Was ist es anderes als das Wahrnehmen
der Dinge, welche vom Außen ins Innere sich drängen, um durch den Filter Körper,
Geist, Seele Ausdruck im eigenen Sein in der Welt zu finden?
Was ist Leben anderes als ein Meer von Möglichkeiten aus dem
wir das für uns Stimmige herausfischen. Um was zu gewinnen?
Halt? Woran sich halten, wenn wir nicht wissen was wahr ist
und was nicht? An uns selbst auf dem Weg einer authentischen
Selbstverwirklichung? Eine Möglichkeit ...
Ich frage mich ob es etwas was Zeichen gibt und wenn es sie
gibt, wie kann ich mir sicher sein, dass ich sie richtig deute? Ist es möglich,
dass ich aufgrund der Zeichen konstruiere und aus mir selbst heraus eine Realität
erschaffe, die nicht wahr ist. Was ist Wahrheit? Gibt es sie außerhalb des
wissenschaftlich Beweisbaren? Ist sie, was die Gefühlswelt angeht nicht überprüfbar,
niemals? Was, wenn jede einzelne individuelle Wahrheit wahr ist – was dann? Was
kann ich glauben? Was ist real?
Aber vielleicht ist das gar nicht die Frage. Die Frage ist möglicherweise:
was ist wirklich von Bedeutung?
© Angelika Wende 2010
Katalogtext und Rede zur Ausstellung Postitionen des Realismus in den Uferhallen Berlin