Sonntag, 16. September 2012
Familienkonstrukt
anna wusste wie es ausgehen würde. sie wusste es aus erfahrung. erfahrungen, die sie immer wieder gemacht hatte, erfahrungen, die so alt waren wie anna. das war keine familie, das beziehungskonstrukt in dem sie aufgewachsen war. das nannte sich familie, schien es nach aussen zu sein, was erst einmal nichts bedeutete. ein nennen bedeutet nichts, will etwas bedeuten.
bedeutungslose bedeutung, dachte anna. sie taten nicht viel gutes, ihr nicht und dem bruder nicht. das ungut getane wuchs innen wie eine kletterpflanze in anna und dem bruder. erblühte in jedem anders. giftige familienmitgift. der bruder kühl, sich selbst und anderen gegenüber. gefühltes zugeschüttet mit alkohol, dann als er älter wurde. der alkohol, der für momente warm machte, innen. empathie schon lange vor dem saufen ersoffen.
das hätte sie ihnen gern gesagt, dem sohn und seinem vater und vieles andere mehr, was sie nicht sagte, um den sohn und den vater nicht zu belasten mit den alten unguten geschichten die jetzt neue ungute gefühle machten, in anna. sie waren erwachsen. erwachsene menschen treffen eigene entscheidungen. also schwieg anna, sagte nicht- lasst es, ihr werdet enttäuschung erleben.
bewahren geht nicht, dachte anna, die immer hatte bewahren wollen, den sohn, den sie liebte. vergeblich,vergeblich wie der wunsch eine perfekte mutter zu sein. perfektes gab es nicht. auch ihr mütterliches war unperfekt, hatte fehler gemacht, die folgen hatten und leid nach sich zogen. vorbei und alles gut gegangen. alles war besser jetzt.
dann der anruf vom vater des sohnes, wir fahren da hin. hin zum bruder, der auch eine familie hatte. in der hoffnung familie zu finden, dachte anna. eine reise in die vergangenheit um sie an die gegenwart zu knüpfen. familienbande knüpfen. mehr sein als zwei und drei. mehr sein als jetztfamilie. ursprungssuche und verbindung von menschen wünschen.
anna weinte innerlich. sie wusste was sein würde, wusste sie würde nichts ändern mit einem - lasst es. schluckte es runter. unten im bauch verknotete es sich.
der sohn und sein vater fuhren den langen weg von der großen stadt in das kaff in dem anna aufgewachsen war. das kaff, klein wie der geist in den köpfen seiner bewohner. erstickt am kleinen. geistlos, herzlos. arschlöcher, dachte anna, wütend auf den vater und die mutter, die sie nicht gewollt hatten und niemals wollen würden. sie nicht und den bruder nicht.
leblose familie. anna litt darunter. eine familie, die nie füreinander da gewesen war, ausser zum verletzten, einander. verletzungen vom aussen ins innen. der bruder auch verletzt. verletzungen haben folgen. in jedem andere. man sollte sie ruhen lassen, die leblosen, dachte anna, während sich ihr sohn und sein vater hoffnungsvoll auf den weg machten.
dem bruder war die welt ein haben müssen. der bruder klagte über stress, den das geld verdienen machte, war fett geworden mit der zeit. fette schutzschicht, die inneres nicht schützte, nicht wärmer machte. gier macht leer, dachte anna, gier ist unersättlich, sieht satt aus aussen, zum platzen satt, hungert nach fülle, innen.
der vater hatte einen wohnwagen gemietet für die reise, weil der bruder keinen platz hatte im kleinen haus im kleinen kaff.
in der einfahrt sollten sie ihn abstellen, beim bruder, der wusste, dass sie kamen zum familienbesuch. der ihnen keine zeit schenkte beim ankommen, kein essen bereitete nach der langen fahrt. ein schluck, den der ihnen anbot, zum verschlucken daran. der bruder, der party feierte mit anderen, sie nicht einlud ihn zu begleiten, sie stehen ließ - draussen vor der tür. duschen geht nicht, wir sind nicht da, tür verschossen, bis morgen dann. am morgen ein flüchtiges begegnen, ein gehen und wieder die verschlossene tür.
anna wollte schreien, als der vater des sohnes sie anrief, die leise enttäuschung seiner müden stimme überschreien mit einem schrei, der so alt war wie anna selbst.
dann der sohn am telefon, mama, mach dir nichts draus, wir haben uns.
und anna lächelte.
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