Freitag, 9. Dezember 2011

DIESE MÖGLICHKEIT

da stand sie die liebe, ganz groß stand sie vor ihr.

sie stand da, schon lange. ein jahr schon stand sie da. an manchen tagen des jahres hatte sie sich berühren lassen von der liebe, die da stand und immer noch da stand. sie hatte sie weggejagt, immer wieder in diesem jahr. so wie sie jede liebe weggejagt hatte in den jahren davor, aber sie war jedes mal wieder gekommen.

nicht, dass sie sie nicht gewollt hätte. immer wenn sie abwesend war, wünschte sie sich nichts sehnlicher als dass sie kommen möge. die sehnsucht brannte in der abwesenheit der liebe, ein brennendes nicht verbrennendes, das sie unter kontrolle hatte.

die kontrolle nicht verlieren. überlebenswichtig. hineinfallen in die sehnsucht, nicht in die liebe, die liebe war unberechenbar. am ende tat sie immer weh. egal was sie versprach, am anfang.

sie misstraute der liebe. manchmal fragte sie sich, ob es schon immer so gewesen war. in diesem fragen lag die erinnerung an ihre kindheit. sich erinnernd fragte sie sich, ob sie sich getäuscht haben konnte, ob es so gewesen war, dass sich niemandes augen liebend auf sie gelegt hatten oder ob sie es übersehen hatte. es war möglich.

sie dachte an den vater, der sie geliebt hatte, wenn die mutter nicht da war, der sie von sich gestoßen hatte, wenn die mutter da war. grundlos in der erinnerung, die keine gründe fand in der gegenwart. sie dachte an den großvater, der sie geliebt hatte wie ein großvater ein kind nicht lieben darf. sie fühlte den schmerz, den der gedanke auslöste wenn sie ihn dachte und schob in fort, weil er schmerzte.

sie wusste, dass die erinnerung dazu neigte seltsame blüten zu treiben, auch fleischfressende pflanzen, die sich ins innerste fraßen, alles wegfraßen, was lieben wollte und vertrauen. sie erinnerte sich nicht oft.

sie dachte an das eine mal, wo sie die liebe zu sich gelassen hatte, ganz nah, ganz eng, ganz tief in ihr innerstes. das eine mal, als sie verschmolzen war mit der liebe, die sie hatte leben lassen, ohne die sehnsucht und das brennen, in einer langen wärme. sie dachte an das kind, das sie geboren hatte, vor dieser liebe, aus einer anderen liebe heraus, der sie vertaut hatte und die sie verlassen hatte. das kind, das diese tiefe liebe nicht gewollt hatte für sie, nicht hatte wollen können aus angst die mutter zu verlieren. sie weinte um das kind, das sie verloren hatte wegen der tiefen liebe, das kind, das gelitten hatte für diese liebe, die so tief war, dass sie sie nicht hatte gehen lassen können. sie fühlte den schmerz, die ohnmacht und den zorn des kindes. sie fühlte die schuld gegenüber dem kind, das gegangen war, wegen der liebe.

sie tat weh die liebe, das war, was sie fühlte. sie zerstört die liebe, das war, was sie gelernt hatte von der liebe. sie hatte bezahlt für die liebe. sie erlaubte sich die liebe nicht mehr, dachte, dass sie die liebe nicht verdient hatte, wegen der schuld, die sie trug.

aber die liebe stand immer noch vor ihr, ganz groß und sie spürte das große, das sich zu dem anderen großen legte, das der liebe misstraute.

sie sah die liebe an, die vor ihr stand, noch immer, dachte, sie steht da, bis du sie zu dir lässt, ganz nah, ganz eng, ganz tief in dein innerstes. dachte, dass sie so lange da stehen würde, bis sie sie zu sich ließ, ganz nah. dann würde sie sie verlassen, wieder.

diese möglichkeit würde sie ihr nicht mehr geben.