Mittwoch, 19. Januar 2011

Wirklichkeiten ...



Real Irreal Surreal

Eine subjektive Reflexion



Der Schweizer Schriftsteller Etienne Barilier gab in den Neunzigern ein Buch heraus mit dem Titel „Die künstliche Geliebte“. Der Protagonist, ein junger Mann, sehnt sich nach der einen wahren Liebe in Gestalt der idealen Geliebten, die die Welt mit all ihren Erscheinungen durch und mit seinen Augen sieht, die das Gleiche wie er fühlt und denkt. Nachdem er diese Sehnsucht in der Realität mit keiner Frau stillen kann erschafft er sich eine künstliche Geliebte nach seinem Ebenbild. Mit der Zeit jedoch entwickelt die künstliche Frau ein Eigenleben. Sie beginnt ihre eigene Wirklichkeit wahrzunehmen und zu erschaffen. Der junge Mann zerbricht an der Erkenntnis, dass nicht einmal das von ihm selbst erschaffene Wesen ein identischer Teil seines „in der Welt seins“ ist. Die Geschichte endet in abgrundtiefer Verzweiflung und schließlich in Zerstörung.

„Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit ist die gefährlichste aller Selbsttäuschungen. Es gibt sie nicht, diese eine Wirklichkeit, es gibt vielmehr zahllose Wirklichkeiten, die sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis von Kommunikation und nicht der Widerschein ewiger objektiver Wahrheiten sind“, schreibt der Philosoph und Psychoanalytiker Paul Watzlawick in seinem Werk „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“. Er kommt zu dem Schluss, das der Glaube, dass die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeute eine gefährliche Wahnidee sei, eine Anmaßung, ja gar die „think crime“ der menschlichen Existenz.

Ist es möglich, ist dieses "Gedankenverbrechen" der Urgrund für das Leiden in der Welt?
Ist es unsere subjektive Sicht, die uns leiden macht, die Unfähigkeit der Akzeptanz der Dinge, wie sie sind. Aber was, wenn die Dinge nicht sind, was sie sind, es niemals sein können, wenn es dieses objektiv Seiende nicht gibt, wenn das Seiende eine nichtfassbare Größe ist, wenn jedes Ding nur der Widerschein dessen ist, was sich in uns spiegelt und wir uns wiederum in ihm? Dann gibt es nur subjektive Annahmen und keine Wirklichkeit. Dann gibt es kein Richtig und kein Falsch, dann gibt es das Individuum in seinem Hineingeworfensein in die Welt, den Schmerz des Getrenntseins und die ewige Suche nach Wahrheit. Eine Suche, die mit der Frage beginnen könnte: Was ist Realität? Was ist real und damit in unseren Augen wahr? Ist Wirklichkeit, wie Watzlawick behauptet, etwas individuell Konstruiertes oder ist sie eine messbare, bestimmbare, überprüfbare, beweisbare, allgemeingültig existierende verbindliche Größe? Ist Wahrheit, wie Heidegger sagt, niemals an sich, von selbst vorhanden und als solche entzifferbar, sondern erstritten?

War die Vorstellung von Wirklichkeit früher so konzipiert, dass man, ob ihrer Härte, dagegen stieß so ist sie heute mehr und mehr ein fließendes, zerfließendes Gebilde, das sich in Frage stellt sobald wir Fragen stellen, schon weil wir selbst in Frage gestellt werden, sobald wir realisieren. Die reale Welt und das reale Ich, von dem wir längst wissen, dass auch dieses aus vielen Ichs besteht, erweist sich als subjektiv interpretatives Substrat aus dem wogenden Meer der Möglichkeiten, welches der Mensch selbst herausfischt.

Die Dinge sind abhängig vom Auge des Betrachters.
Niemals nehmen wir an den Erscheinungen, zu deren Bildung unsere Sinne angeregt werden, Wirklichkeit wahr. Sobald zu den Erscheinungen der Gedanke oder das Gefühl tritt kommt eine neue Tönung hinzu. Die Sinne können uns die Wirklichkeit nicht geben, sondern umgekehrt ist sie etwas, das wir den Sinnen geben. Wirklichkeit ist eine Beziehung des Geistes zum Geheimnis des Seins. Doch ist durch die reine Sichtbarkeit des Inhalts der Wirklichkeitsakzent noch nicht gegeben, sondern die sich einstellenden Affekte, die durch die sichtbare Qualität der Dinge ausgelöst werden schaffen unsere Realität.
Schon Kant postulierte, dass alles, was wir über unsere Sinne empfangen, durch unser Nervensystem gefiltert wird. Dort wird es neu zusammengesetzt und liefert uns ein Bild, das wir Realität nennen. Der Mensch modelliert sich seine Welt danach, was seine Sinne und sein Bewusstsein ihm an Begreifen erlauben. Was er nicht fühlen, schmecken, hören, riechen und sehen kann, nimmt er nicht wahr. Es kommt in seiner Welt nicht vor. Selbst das Abstrakte muss als Zeichen begriffen werden, um es in die eigene Welt zu integrieren. Unsere individuelle Welt ist niemals die Welt, wie sie an sich ist.

Alles Schimäre, weiter nichts, eine bloße Vorstellung von objektiver Realität, eine Fiktion, die von unserem in Begriffen und Kategorien denkenden Verstand herrührt? 

In der Tat sind sogar Ursache und Wirkung, Raum und Zeit Konzeptualisierungen, Gefühlskonstrukte, die zu Gedanken und Handlungen werden und keine Gebilde die es „da draußen“ gibt. Der Mensch ist nicht fähig über die von ihm selbst erarbeitete Version einer Realität hinauszublicken und zu sehen was wirklich ist. Wir können sie nicht erfassen, die Wesenheit der Dinge, die vor der Reproduktion durch unseren Wahrnehmungsfilter und unseren Verstand existiert. Das ursprüngliche Gebilde, das Kant als Ding bezeichnete, bleibt uns auf ewig unerkannt. Es war Schopenhauer, der zustimmte, dass wir das „Ding an sich“ nie erkennen können, aber erweiternd hinzufügte, dass eine entscheidende Quelle über die Informationen wahrgenommen werden, der menschliche Körper ist. Der Körper als materielles Objekt existiert in Zeit und Raum. Der Körper besitzt ein tiefes inneres Wissen, ein Wissen, das nicht auf einem verstandesmäßigen Begriffssystem und auch nicht auf dem Wahrnehmungssystem basiert – sondern allein von den Gefühlen herrührt. Schopenhauer war seiner Zeit voraus mit der Annahme, dass es zwei Arten von Wissen gibt, ein gefühlsmäßiges, instinktives und ein verstandesmäßiges, begriffliches Wissen. Er wusste, dass dieses gefühlte Wissen weitaus elementarer ist als das begriffliche. Lange vor Sigmund Freud wusste er um die Existenz der unbewussten Kräfte in der psychischen Struktur, um das verdrängte Unterbewusste, das nicht ins Bewusstsein einbricht. Und er war der Ansicht, dass im Bereich künstlerischen Produzierens die unbewussten Antriebe primärer sind als die bewussten: "...Obgleich sie nicht in Begriffe gefasst werden können, vermitteln sie sich direkt und ohne Worte, sie kommunizieren sich auf dem Wege der Kunst.“ 
Der Gewinn: Das Abenteuer Wirklichkeit.

In diesem Raum gibt es keine unmögliche Objektivität, sondern eine reine Produktion von Subjektivität. Dies entspricht auf der psychologischen Ebene einem Prozess der Subjektivierung, der Selbstfindung, in dem das Subjekt Kontrolle über sich zu erlangen versucht. Es ist so Subjekt der Selbstkonzeption, der Freiheit und der emanzipatorischen Selbsterhebung. Jedoch erfährt es sich in diesen affektiven Turbulenzen selbst in Konfliktspannung. Denn als Subjekt der Selbsterfindung und Selbsterhebung beginnt es sich inmitten des Chaos eines historischen, politischen und kulturellen Zusammenhangs aufzurichten. Es beginnt zu rebellieren gegen das, was aus ihm ein Produkt fremder Willens- und Wahrheitsbegriffe macht.

Die Selbstaufrichtung des Subjekts ist ein Widerstand gegen die Herrschaft der allgemeingültigen Realitätsdefinitionen. Es wehrt sich gegen die Dingwerdung oder Verdinglichung seines Seins durch die Bewegungen, die Sinn- und Wertstiftungen der Geschichte, mit dem Ziel sich von dieser Geschichte lösen ohne den allgemeinen Geschichtsraum, dem es angehört, verlassen zu können, aber um der eigenen inneren Wahrheit Ausdruck zu verleihen, ihr zu folgen und sich als Mensch zu individuieren. Was Foucault Subjektivierung nennt zielt auf dieses Werden, das sich Selbstwerden, das Subjektwerden, die Autokonstitution des Individuellen – die Authentizität der Persona. Die innere Wahrheit als Maßstab.

Sein und Schein im Dialog um das Seiende zu hinterfragen. Was scheint wie es ist und was ist nicht wie es scheint? Was ist wirklich?

Wir „hören“ was wir glauben und „sehen“ wozu wir Resonanz haben. Was ist Leben, was ist es anderes als das Wahrnehmen der Dinge, welche vom Außen ins Innere sich drängen, um durch den Filter Körper, Geist, Seele Ausdruck im eigenen Sein in der Welt zu finden? Was ist Leben anderes als ein Meer von Möglichkeiten aus dem wir das für uns Stimmige herausfischen - um was zu gewinnen?Halt? Woran sich halten, wenn wir nicht wissen was wahr ist und was nicht? An uns selbst auf dem Weg einer authentischen Selbstverwirklichung? Eine Möglichkeit ...

Ich frage mich ob es etwas was Zeichen gibt und wenn es sie gibt, wie kann ich mir sicher sein, dass ich sie richtig deute? Ist es möglich, dass ich aufgrund der Zeichen konstruiere und aus mir selbst heraus eine Realität erschaffe, die nicht wahr ist. Was ist Wahrheit? Gibt es sie außerhalb des wissenschaftlich Beweisbaren? Ist sie, was die Gefühlswelt angeht nicht überprüfbar, niemals? Was, wenn jede einzelne individuelle Wahrheit wahr ist – was dann? Was kann ich glauben? Was ist real?

Aber vielleicht ist das gar nicht die Frage. Die Frage ist möglicherweise: was ist wirklich von Bedeutung?

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