Samstag, 29. November 2025

Jetzt reiß dich doch mal zusammen!

                                                                   Malerei: A.W.


Wenn jemand in einer schweren emotionalen Situation ist, ist eine Phrase wie: „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, weder hilfreich für den Betroffenen, noch zeugt sie vom Versuch Verständnis zu zeigen. Vielmehr zeugt sie von einem Empathiedefizit und weckt den Eindruck, dass die Gefühle des anderen nicht ernst genommen werden.

Jeder Mensch hat seine eigenen Kämpfe und Herausforderungen. Wer vorschnell zu solchen Phrasen greift, neigt dazu den individuellen Kontext und die emotionale Befindlichkeit und Bedürfnisse anderer zu übersehen. Er geht von sich selbst und seinem begrenzten Denkrahmen aus, dem es nicht gelingt über das Eigene hinauszublicken.

Wer sich zusammenreißen soll, hat das in den meisten Fällen längst lange und oft genug getan. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das Zusammenreißen erschöpft, dann, wenn die Seele gewisse Situationen oder emotionale Belastungen, wenn sie lange genug anhalten, nicht mehr ertragen kann. Anstatt Unterstützung anzubieten, Betroffene aufzufordern, sich mal zusammenzureißen, tut nichts für sie, außer, dass es den emotionalen Druck erhöht.

Menschen, die über längere Zeiträume hinweg chronischem Stress oder großen Belastungen ausgesetzt sind, können sich irgendwann nicht mehr zusammenzureißen, sie sind seelisch am Limit. Chronische Belastungen können zu einer Erschöpfung der emotionalen Ressourcen führen, was das "Zusammenreißen" nahezu unmöglich macht. Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist aufgebraucht. Ein Zustand physischer und emotionaler Erschöpfung, der oft durch anhaltenden Stress verursacht wird, kann Menschen daran hindern, ihre Emotionen zu regulieren und Lösungen zu finden. Auch Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, haben oft Schwierigkeiten sich in belastenden Situationen zusammenzureißen.  Bestimmte psychische Erkrankungen, wie Angststörungen oder Depressionen, können die Fähigkeit zur emotionalen Regulation erheblich beeinträchtigen. Menschen mit Zwängen und Angstzuständen fällt es schwer sich selbst zu beruhigen, was das Zusammenreißen erschwert. Bei Depressionen kann es zu einem Gefühl der Antriebslosigkeit und tiefer Hoffnungslosigkeit kommen, was das Zusammenreißen unmöglich macht. Und das sind nur einige Beispiele.
In solchen Fällen ist professionelle Unterstützung notwendig, um die emotionale Stabilität wiederherzustellen.

All das sehen jene, die vom Zusammenreißen sprechen nicht.
Sie gehen von sich selbst aus. Sie argumentieren aus einem Ich heraus, das all das nie erfahren hat und unfähig oder derart ignorant und von Hochmut besselt ist, dass es ihm nicht gelingt über die eigene Erfahrung und das eigene begrenzte Bild von Welt hinauszudenken. Meist haben diese Menschen wenig Kontakt mit unterschiedlichen Lebensrealitäten oder es fehlt ihnen schlicht und einfach der Wille den anderen als das zu sehen, was er ist – ein eigener Mensch mit eigenen Gefühlen und keine Blaupause für das Verhalten, die Entscheidungen, die Strategien, Lösungsmöglichkeiten oder die Entwicklung eines Individuums.

Jetzt reiß dich doch mal zusammen!
Mit Phrasen wie diesen sollte man sich zurückhalten.

 

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen