Bei
meiner Arbeit mit Menschen bin ich zur Zeit oft Zeuge von Gefühlen
tiefer Lähmung und Hoffnungslosigkeit. Menschen sitzen zuhause weil sie
Kurzarbeit haben, weil sie Homeoffice machen oder weil die Arbeit, die
sie gemacht haben, nicht systemrelevant ist.
Manche haben nichts zu
tun. Vom Morgen bis zum Abend sind sie sich selbst überlassen. Das sind
Stunden in denen sie sich irgendwie zu beschäftigen versuchen.
Es
fühlt sich an, als würde ich auf etwas warten und es kommt nicht, sagt
Jemand. Es zieht mich runter, wenn ich zuhause sitze und nichts
Sinnvolles zu tun habe, sagt ein anderer. Dieses Nicht wissen was tun,
jeden Tag. Ich weiß gar nicht mehr wofür ich aufstehe. Aber schlafen
kann ich auch nicht mehr. Also stehe ich auf und mache mir einen Kaffee
und schon während ich ihn trinke frage ich mich, was mache ich jetzt?,
sagt wieder ein anderer.
Manche beginnen nachzudenken, über ihr
Leben. Sie haben jetzt Zeit, die sie sich so oft gewünscht haben. Jetzt
ist da so viel Zeit. Zeit zum Nachdenken über das eigene Leben, über
sich selbst, über die Beziehungen, die wir haben. Wir haben Zeit, weil
der Alltag nichts mehr fordert.
Manche Menschen kramen Erinnerungen
an vergangene Zeiten hervor, fragen sich wie sie gelebt haben und wie
sie jetzt weiter leben sollen, vor allem dann, wenn Elementares
ausgelöscht ist. Ein Mensch ist einsam, er lebt als Single, fragt sich,
ob er jemals wieder einen Partner findet. Er findet sich allein gelassen
und verlassen wie nie zuvor. Und nichts, das ihn ablenkt. Alles dicht
da draußen. Und drinnen auch Dichte. Es verdichtet sich, die Wände
rücken näher. Das Leben innen und Außen – eine Verlangsamung von Zeit.
Das sind schwere Stimmungen, das sind schwere Zustände.
Und die Wahrheit ist: manche von ihnen sind einfach nicht zu verändern.
Es geht ums Aushalten für viele von uns.
Aushalten
ist schwer. Das können wir nicht gut. Wir sind gewohnt schnelle
Lösungen zu suchen und wir waren gewohnt sie auch zu finden. Aber die
Umstände haben sich verändert, sie sind unüberwindbare Blockaden
geworden, für manche von uns. So wie bei der jungen Frau, die ihr
kleines Café eröffnet hat im vergangenen Herbst und es jetzt zum zweiten
Mal schließen muss. Sie kann nichts tun. Sie sitzt da und sieht zu wie
Augenblick für Augenblick ein Traum zu zerbrechen droht. Das ist
traurig. Das kann verzweifelt machen. Das ist kaum auszuhalten.
Aber es muss ausgehalten werden, denn es gibt jetzt keine Lösung.
Wie können wir aushalten?
Eine
Antwort darauf ist schwer. Meine Antwort darauf ist schwer umzusetzen.
Ich weiß das. Weil es eine radikale Umkehr ist, die uns damit begegnet.
Dieses
Aushalten, diese Blockierung, die Verlangsamung unseres Lebens ist eine
Möglichkeit die Welt einmal anders kennen zu lernen. Wir erlauben uns
einfach nur zu sein, ohne jede Herausforderung, ohne jeden Zeitbezug.
Wir hören auf uns in die Zukunft davonmachen zu wollen, denn sie ist
eine unbekannte Größe. Wir erkennen an, wir haben die Zeit nicht in der
Hand. Ob sie langsam oder schnell vergeht, wir können sie nicht zwingen,
anders zu sein, als sie eben jetzt ist. Wir können die Richtung nicht
umkehren und nicht nach vorne schieben.
Aber wir können sicher
sein, das ist eine Zeit in der unsere Lebensumstände und wir selbst uns
ändern werden, auch wenn wir das Gefühl haben, dass nichts geschieht und
wir nur warten. Das ist das Einzige, dessen wir gewiss sein können: Es
wird sich ändern. Der gegenwärtige Augenblick wird in einen nächsten
übergehen. Gefühlt verlangsamt, nicht in der gewohnten Geschwindigkeit,
aber es folgt immer Augenblick auf Augenblick.
Die Langsamkeit, die
wir erfahren, die Blockade, vor der wir stehen, so mächtig und
unüberwindbar sie uns erscheint, hat ihren eigenen Wert. Sie ist eine
große Herausforderung. Wir lernen auszuhalten, wir lernen eine Sache
durchstehen. Wir lernen, dass es Dinge gibt, die wir nicht in der Hand
haben, wie sehr wir uns auch bemühen mögen und egal wie stark unsere
Willenskraft ist. Wir lernen unsere Machtlosigkeit anzunehmen.
Wir
lernen den Augenblick zu begreifen, wie nie zuvor. Wir lernen, wenn wir
dazu bereit sind, jeden Moment radikal so zu nehmen wie er gerade ist.
Wir lernen vielleicht auch, uns selbst jeden Moment so zu nehmen wie wir
sind. Wir lernen vielleicht den Dingen ihren Gang zu lassen und sie
nicht mehr beherrschen zu wollen und uns ganz dem Augenblick zu öffnen.
Dann trinken wir unseren Kaffee am Morgen mit einer bewussten Haltung
und können ihn als Geschenk annehmen.
Mittwoch, 11. November 2020
Wie können wir aushalten?
Foto: A. Wende
Und es bleibt schließlich immer noch etwas in uns, das danach strebt, das Leben selbst, das in uns ist, zu aktualisieren.
AntwortenLöschenIch liege seit etwa 7 Tagen mit Symptomen im Bett und immer wieder hatte ich das Gefühl, das etwas in meinem Körper für das Leben streitet. Als ob es ein autarkes System ist, das dafür streitet, das letzte Wort der Liebe(also dem Leben?) zuzuschlagen.
Möge diese Liebe sie heilen.
LöschenJetzt zeigen sich die massiven "Kollateralschäden" der Leistungsgesellschaft! Weil Menschen es nicht gewohnt sind, zeitweise nicht für den Erwerb zu arbeiten, wissen sie nicht, was mit sich anfangen, wenn es mal soweit ist. Ein Elend!
AntwortenLöschenDabei kann auch von zuhause aus dank Internet sehr viel getan werden: sich informieren, diskutieren, lernen / sich weiter bilden, virtuell die Welt bereisen, spielen, bloggen (u. Ähnliches), ehrenamtlich an gemeinnützigen und kulturellen Projekten mitarbeiten, sogar nach 2.Standbein suchen (wenn die Aussichten mit dem 1. düster sind), neue Hobbys finden und ihnen nachgehen - da geht auch online viel!
Und man muss ja nicht mal drin bleiben, so doll ist der Lockdown gar nicht. Spaziergänge, Fahrrad-Touren, Natur im Wandel der Jahreszeiten betrachten, sporteln, einkaufen und zuhause neue Rezepte ausprobieren, das "gesünder leben" mal ernsthaft angehen, jetzt, wenn kein Job davon ablenkt.
"Wir lernen den Augenblick zu begreifen, wie nie zuvor. Wir lernen, wenn wir dazu bereit sind, jeden Moment radikal so zu nehmen wie er gerade ist."
Damit sind auch die vielen Möglichkeiten verbunden, "den Moment" mitzugestalten! Auch wenn wir vieles nicht "beherrschen", bleibt doch eine Menge übrig, was wir tun können, wenn das bloße Abhängen nicht befriedigt.
Nicht zu vergessen:
"Die Tatsache, dass Menschen ihre Arbeit verlieren, muss ihren Schrecken einbüßen. Solange das als das Schlimmste gilt, was uns passieren kann, werden wir den ökologischen Wandel nicht bewältigen können."
- Richard David Precht -
Liebe Claudia,
AntwortenLöschendanke für Deine Worte.