Mittwoch, 11. November 2020

Wie können wir aushalten?

                                                                Foto: A. Wende
 

Bei meiner Arbeit mit Menschen bin ich zur Zeit oft Zeuge von Gefühlen tiefer Lähmung und Hoffnungslosigkeit. Menschen sitzen zuhause weil sie Kurzarbeit haben, weil sie Homeoffice machen oder weil die Arbeit, die sie gemacht haben, nicht systemrelevant ist.
Manche haben nichts zu tun. Vom Morgen bis zum Abend sind sie sich selbst überlassen. Das sind Stunden in denen sie sich irgendwie zu beschäftigen versuchen.
Es fühlt sich an, als würde ich auf etwas warten und es kommt nicht, sagt Jemand. Es zieht mich runter, wenn ich zuhause sitze und nichts Sinnvolles zu tun habe, sagt ein anderer. Dieses Nicht wissen was tun, jeden Tag. Ich weiß gar nicht mehr wofür ich aufstehe. Aber schlafen kann ich auch nicht mehr. Also stehe ich auf und mache mir einen Kaffee und schon während ich ihn trinke frage ich mich, was mache ich jetzt?, sagt wieder ein anderer.

Manche beginnen nachzudenken, über ihr Leben. Sie haben jetzt Zeit, die sie sich so oft gewünscht haben. Jetzt ist da so viel Zeit. Zeit zum Nachdenken über das eigene Leben, über sich selbst, über die Beziehungen, die wir haben. Wir haben Zeit, weil der Alltag nichts mehr fordert.
Manche Menschen kramen Erinnerungen an vergangene Zeiten hervor, fragen sich wie sie gelebt haben und wie sie jetzt weiter leben sollen, vor allem dann, wenn Elementares ausgelöscht ist. Ein Mensch ist einsam, er lebt als Single, fragt sich, ob er jemals wieder einen Partner findet. Er findet sich allein gelassen und verlassen wie nie zuvor. Und nichts, das ihn ablenkt. Alles dicht da draußen. Und drinnen auch Dichte. Es verdichtet sich, die Wände rücken näher. Das Leben innen und Außen – eine Verlangsamung von Zeit.

Das sind schwere Stimmungen, das sind schwere Zustände.
Und die Wahrheit ist: manche von ihnen sind einfach nicht zu verändern.
Es geht ums Aushalten für viele von uns.
Aushalten ist schwer. Das können wir nicht gut. Wir sind gewohnt schnelle Lösungen zu suchen und wir waren gewohnt sie auch zu finden. Aber die Umstände haben sich verändert, sie sind unüberwindbare Blockaden geworden, für manche von uns. So wie bei der jungen Frau, die ihr kleines Café eröffnet hat im vergangenen Herbst und es jetzt zum zweiten Mal schließen muss. Sie kann nichts tun. Sie sitzt da und sieht zu wie Augenblick für Augenblick ein Traum zu zerbrechen droht. Das ist traurig. Das kann verzweifelt machen. Das ist kaum auszuhalten.
Aber es muss ausgehalten werden, denn es gibt jetzt keine Lösung.
Wie können wir aushalten?
Eine Antwort darauf ist schwer. Meine Antwort darauf ist schwer umzusetzen. Ich weiß das. Weil es eine radikale Umkehr ist, die uns damit begegnet.

Dieses Aushalten, diese Blockierung, die Verlangsamung unseres Lebens ist eine Möglichkeit die Welt einmal anders kennen zu lernen. Wir erlauben uns einfach nur zu sein, ohne jede Herausforderung, ohne jeden Zeitbezug. Wir hören auf uns in die Zukunft davonmachen zu wollen, denn sie ist eine unbekannte Größe. Wir erkennen an, wir haben die Zeit nicht in der Hand. Ob sie langsam oder schnell vergeht, wir können sie nicht zwingen, anders zu sein, als sie eben jetzt ist. Wir können die Richtung nicht umkehren und nicht nach vorne schieben.

Aber wir können sicher sein, das ist eine Zeit in der unsere Lebensumstände und wir selbst uns ändern werden, auch wenn wir das Gefühl haben, dass nichts geschieht und wir nur warten. Das ist das Einzige, dessen wir gewiss sein können: Es wird sich ändern. Der gegenwärtige Augenblick wird in einen nächsten übergehen. Gefühlt verlangsamt, nicht in der gewohnten Geschwindigkeit, aber es folgt immer Augenblick auf Augenblick.
Die Langsamkeit, die wir erfahren, die Blockade, vor der wir stehen, so mächtig und unüberwindbar sie uns erscheint, hat ihren eigenen Wert. Sie ist eine große Herausforderung. Wir lernen auszuhalten, wir lernen eine Sache durchstehen. Wir lernen, dass es Dinge gibt, die wir nicht in der Hand haben, wie sehr wir uns auch bemühen mögen und egal wie stark unsere Willenskraft ist. Wir lernen unsere Machtlosigkeit anzunehmen.

Wir lernen den Augenblick zu begreifen, wie nie zuvor. Wir lernen, wenn wir dazu bereit sind, jeden Moment radikal so zu nehmen wie er gerade ist. Wir lernen vielleicht auch, uns selbst jeden Moment so zu nehmen wie wir sind. Wir lernen vielleicht den Dingen ihren Gang zu lassen und sie nicht mehr beherrschen zu wollen und uns ganz dem Augenblick zu öffnen. Dann trinken wir unseren Kaffee am Morgen mit einer bewussten Haltung und können ihn als Geschenk annehmen.


4 Kommentare:

  1. Und es bleibt schließlich immer noch etwas in uns, das danach strebt, das Leben selbst, das in uns ist, zu aktualisieren.
    Ich liege seit etwa 7 Tagen mit Symptomen im Bett und immer wieder hatte ich das Gefühl, das etwas in meinem Körper für das Leben streitet. Als ob es ein autarkes System ist, das dafür streitet, das letzte Wort der Liebe(also dem Leben?) zuzuschlagen.

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  2. Jetzt zeigen sich die massiven "Kollateralschäden" der Leistungsgesellschaft! Weil Menschen es nicht gewohnt sind, zeitweise nicht für den Erwerb zu arbeiten, wissen sie nicht, was mit sich anfangen, wenn es mal soweit ist. Ein Elend!

    Dabei kann auch von zuhause aus dank Internet sehr viel getan werden: sich informieren, diskutieren, lernen / sich weiter bilden, virtuell die Welt bereisen, spielen, bloggen (u. Ähnliches), ehrenamtlich an gemeinnützigen und kulturellen Projekten mitarbeiten, sogar nach 2.Standbein suchen (wenn die Aussichten mit dem 1. düster sind), neue Hobbys finden und ihnen nachgehen - da geht auch online viel!

    Und man muss ja nicht mal drin bleiben, so doll ist der Lockdown gar nicht. Spaziergänge, Fahrrad-Touren, Natur im Wandel der Jahreszeiten betrachten, sporteln, einkaufen und zuhause neue Rezepte ausprobieren, das "gesünder leben" mal ernsthaft angehen, jetzt, wenn kein Job davon ablenkt.

    "Wir lernen den Augenblick zu begreifen, wie nie zuvor. Wir lernen, wenn wir dazu bereit sind, jeden Moment radikal so zu nehmen wie er gerade ist."

    Damit sind auch die vielen Möglichkeiten verbunden, "den Moment" mitzugestalten! Auch wenn wir vieles nicht "beherrschen", bleibt doch eine Menge übrig, was wir tun können, wenn das bloße Abhängen nicht befriedigt.

    Nicht zu vergessen:

    "Die Tatsache, dass Menschen ihre Arbeit verlieren, muss ihren Schrecken einbüßen. Solange das als das Schlimmste gilt, was uns passieren kann, werden wir den ökologischen Wandel nicht bewältigen können."

    - Richard David Precht -

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