Mein Klient fühlt sich verlassen. Er hat keine Beziehung, keine Freunde und ist kinderlos. Bisher hatte er damit kein Problem, er hatte seine Arbeit, die ihn ausgefüllt hat. Jetzt ist er in Rente gegangen und seither plagt ihn das Gefühl der Verlassenheit. Er verbringt die meiste Zeit mit sich allein. In letzter Zeit überfällt ihn eine große Todesangst, die ihn schwer belastet und lähmt.
Das Gefühl der Verlassenheit hat viele Ursachen und ist mit unseren emotionalen und psychologischen Erfahrungen verbunden.
Trennungen, der Verlust eines geliebten Menschen oder das Fehlen von sozialen Kontakten, können starke Gefühle der Einsamkeit und Verlassenheit hervorrufen. Physische oder emotionale Isolation, sei es durch Umzüge, Veränderungen im sozialen Umfeld oder persönliche Umstände, können dazu führen, dass wir uns verlassen fühlen. Manchmal kann das Gefühl der Verlassenheit auch aus inneren Konflikten oder einem Mangel an Selbstwertgefühl resultieren. Menschen, die sich selbst als wertlos, anders oder unzulänglich empfinden, glauben, dass andere sie nicht brauchen oder schätzen. Besonders frühe Erfahrungen von Verlust, Missbrauch und Traumata können tiefe emotionale Narben hinterlassen und das Gefühl der Verlassenheit bewirken. Manchmal kann das Gefühl der Verlassenheit auch aus tiefergehenden existenziellen Überlegungen resultieren, etwa der Frage nach dem Sinn des Lebens, der eigenen Identität oder des Gewahrseins des Sterbens und des Todes.
Es gibt eine Verbindung zwischen Verlassenheit und Todesangst
Das Gefühl der Verlassenheit kann dazu führen, dass wir verstärkt über das Leben, den Tod und den Sinn unseres Daseins nachdenken. Diese Gedanken können Ängste auslösen, besonders wenn wir allein sind und keinen Halt in anderen haben. Der Tod ist für viele Menschen ein angstbesetztes Thema, das die meisten Menschen verdrängen. Wenn wir uns verlassen fühlen, kann sich die Angst vor dem letzten großen Unbekannten verstärken. Wir begreifen, dass wir am Ende allein sind. Verlassen, niemand auf den wir zählen können, niemand, der uns zur Seite steht. Dieses Erkennen führt zu Angst vor dem Verlust von Kontrolle und Sicherheit. Wenn wir in der Vergangenheit traumatische Erlebnisse hatten, die mit Verlust oder Verlassenheit verbunden sind, können diese Erinnerungen in schwierigen Zeiten wieder hochkommen und die Angst verstärken. Wir stehen der Erfahrung der existenziellen Isolation gegenüber, wie mein Klient.
Er fühlt sich in einem derart bedrohlichen Ausmaß allein und verlassen, dass er Todesängste entwickelt. Der Tod als letzte Verlassenheit – verlassen vom Leben. Niemand, der ihn auf seiner letzten Reise begleiten wird, niemand, der ihm die Hände hält, niemand, der ihn vermisst und betrauert. Diese Gedanken überfallen ihn mit ganzer Wucht. Er fühlt sich machtlos ihnen gegenüber und die tiefe Einsamkeit, die ihn befallen hat, verstärkt das Gefühl. Er fühlt sich abgetrennt von den Menschen und der Welt und kann an nichts anderes mehr denken als an seine Auslöschung. „Es ist unheimlich, so als löse sich alles um mich herum auf und ich mich mit“, sagt er.
Je mehr er daran denkt, desto größer wird die Angst und er wird immer handlungsunfähiger. Seine Wahrnehmung richtet sich nur noch auf das Dunkel und verdunkelt sein Leben. Nichts macht ihm mehr Freude, an nichts hat er mehr Interesse, die Angst blockiert jedes helle Gefühl, wird zum Herrscher seiner Tage. Er lebt in der Isolation und sieht keinen existenziellen Sinn mehr. „Die Welt hat mir nichts mehr zu bieten“, sagt er.
Die Angst, die Ohnmacht und die Isolation, die Einsamkeit,
die Leere und die Hilflosigkeit, geboren aus der Annahme – die Welt habe ihm
nichts mehr zu bieten - verstärken sein Dilemma. Es ist seine emotionale Antwort auf die existenzielle
Verlassenheit, die uns alle irgendwann erfassen kann. Sie basiert auf dem
Wissen unserer Endlichkeit. Wir stehen radikal uns selbst gegenüber. Wir begreifen,
dass wir auf dem den letzten unserer Wege allein sind. Aber bis dahin müssen wir es nicht sein.
„Die Welt hat mir nichts mehr zu bieten“.
Hier ist ein möglicher Ansatz, indem wir diesen Satz umformulieren:
„Was habe ich der Welt noch zu bieten?“
„Wenn man in seine eigenen leeren Räume hineinfällt, wird die Welt plötzlich unvertraut.“
Yrwin D. Yalom