Freitag, 31. Mai 2024

Sinnfindung durch fruchtbare Wechselwirkung

 

                                                                Foto: Pixybay

 
Als Psychologen von der Colorado State Universität rund 8000 Probanden zum Sinn des Lebens befragten, ermittelten sie zwei Werte: wie sehr jemand nach dem Lebenssinn suchte und wie sehr diese Person mit ihrem Leben zufrieden und glücklich war. Das Resultat: Je höher der Sinnsuche-Wert, desto weniger zufrieden und glücklich waren die Menschen.
Nicht wirklich überraschend, aber doch nachdenkenswert.
 
Je ratloser wir sind, was den Sinn unseres Lebens betrifft, umso mehr suchen wir danach. Wir empfinden ein existenzielles Vakuum, ein Leben, das gefühlt ins Leere läuft, existenzielle Frustration.
Das würde für mich bedeuten, mich auf den Weg zu machen und Sinn zu suchen.
Aber machen sich alle, die ihren Lebenssinn nicht kennen, auf die Suche?
Oder ist es nicht vielmehr so, dass je ratloser Menschen ob des Sinns ihrer Existenz sind, sie umso mehr nach Ablenkungen suchen? Sie verlieren sich in Konsum, Spaß, Prestige, Sex, Anerkennung, Macht, beruflichem Erfolg, in Süchten usw. Je mehr sie das tun, desto ratloser und frustrierter werden sie, denn all das führt nicht dazu einen Sinn zu finden, geschweige denn einen Sinn zu empfinden. Hedonistische Ablenkungen sind genau das, was nicht zu tiefem Sinnempfinden führt. 
 
Sicher macht es Sinn, dass wir es uns gut gehen lassen und das Leben mit all den schönen Dingen genießen. Das ist das eine. Aber was ist das andere?
Manche haben genug Ablenkungen und es geht ihnen trotzdem nicht gut. Manche leben ihre Gaben, Fähigkeiten und Talente, verwirklichen all das und es geht ihnen trotzdem nicht gut.
Der existenzielle Sinn fehlt.
Aber wie ihn finden, wo, womit und worin?
Das muss, wer sucht, letztlich jeder für sich selbst herausfinden, suchen eben. Es gibt unendlich viele Ansätze zur Sinnfindung. Ich beziehe mich in diesem Text auf zwei davon.
 
Ikegai
Ikigai heißt auf japanisch: Lebenssinn oder anders ausgedrückt: das Gefühl ein Warum zu haben, wofür es sich lohnt, am Morgen aufzustehen.
Nach dem Motto: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie." Dieses Nietzsche-Zitat war übrigens der Leitsatz Viktor Frankls, des Begründers der Logotherapie.
 
Zum Ikegai
Können, Freude am Tun dessen, was wir können und Sinnstiftung durch das, was wir tun und dann noch damit unseren Lebensunterhalt bestreiten können – so wird Sinn im Ikegai zusammengefasst. Wir sind in unserem Ikegai, wenn unser Beruf oder unsere Selbstständigkeit diese vier Merkmale aufweisen.
Ein Erfüllungsmodell, das erst einmal gut klingt und ich kann es, was meine Tätigkeiten angeht, bestätigen.
Aber reicht das aus um einen tiefen existentiellen Sinn zu empfinden?
Meine Antwort lautet: Nein. Zumindest nicht für jeden und nicht für mich. Es ist nur Teil des Ganzen. Sinn empfinden bedeutet mehr. Wesentlich um existenziellen Sinn zu spüren, ist zum Beispiel ein Aspekt, den wir Resonanz nennen. Resonanz von lat. resonare: widerhallen.
 
Resonanz
In der Physik bezeichnet Resonanz ein Phänomen, bei dem ein schwingungsfähiges System durch periodische Einwirkung von außen zu besonders starken Schwingungen angeregt wird.
Resonanz auf uns Menschen bezogen bedeutet eine intensive Beziehung zwischen uns selbst und unserer Umwelt, die durch gemeinsame Schwingungen und Rhythmen entsteht.
Gekonnt beschrieben ist Resonanz in Rilkes Gedicht „Liebeslied“: 
 
„Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.“
 
Das klassisches Beispiel für ein Resonanzphänomen: eine schwingende Saite.
Resonanz beschreibt in der Psychologie die Rückkopplung von gezeigten Emotionen oder Verhaltensweisen. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt das Resonanz-Phänomen ausführlich und beeindruckend in seinen Büchern. Nach Rosa ist Resonanz ein Beziehungsmodus, in dem gegenseitige Schwingungen erzeugt werden, zum einen im äußeren Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, zum anderen im eigenen Inneren zwischen Körper und Psyche. Er spricht von einem Resonanzraum für Resonanzerlebnisse und ordnet die Bezugspunkte auf drei Achsen der Weltbeziehung, die ich hier kurz zusammenfasse.
 
1. Die Horizontale Resonanzachse
Begegnungen und Beziehungen zu anderen Menschen. Familienbeziehungen, Liebes- und Freundschaftsbeziehungen und ergebnisoffene Beziehungen im gesellschaftlich/politischen Raum.
 
1. Die Diagonale Resonanzachse
Beziehungen zu Dingen und Tätigkeiten, etwa zur Arbeit, zur Ausbildung, zu einem Hobby, einer Leidenschaft und bei Künstlern - die Beziehung zu ihrem Handwerkszeug oder dem Material mit dem sie arbeiten.
 
2. Die Vertikale Resonanzachse
Kulturelle Beziehungsräume, Natur, Kunst, Geschichte, Religion und Spiritualität.
In all diesen Achsen gehen wir eine Beziehung zur Welt ein, wir machen also Resonanzerfahrungen. Machen wir diese, fühlen wir Verbundenheit auf verschiedenen Ebenen – mit Welt, mit anderen, mit uns selbst. Wir berühren und wir werden berührt und das beeinflusst wechselseitig. Resonanz ist ein wechselseitiges Sich-Einschwingen, ein sich Einstimmen aufeinander und auf uns selbst.
Ein sinnvolles, gelingendes Leben, so Rosa, hängt von der Qualität unserer Weltbeziehung ab – und eben nicht von der Anhäufung all dessen, was Erich Fromm das „Haben“ nennt. 
 
"Das Leben gelingt, wenn wir es lieben. "Es", das sind dabei die Menschen, Räume, Aufgaben, Ideen (...), die uns begegnen. Wenn wir sie lieben, entsteht so etwas wie ein vibrierender Draht", schreibt Rosa. Fruchtbare Wechselwirkung also. 
 
Wenn wir keine oder nur wenig resonante Erfahrungen oder nur auf einer der Achsen, fühlen wir wenig Verbundenheit. Wir fühlen Trennung. Uns fehlt der Draht, der vibriert, die Schwingung mit dem Ganzen, das Gefühl von Lebendigkeit und damit fehlt tiefes Sinnempfinden. Ein Gefühl von Entfremdung stellt sich ein. Entfremdung von Welt und Entfremdung vom Selbst.
Das erklärt auch, warum Menschen, die sich getrennt von Welt, von anderen und/oder von sich selbst fühlen, ihr Leben oft als sinnlos und leer empfinden.
Wenig Resonanz empfinden bedeutet mitunter auch sich einsam fühlen. Keiner, dem wir uns tief verbinden fühlen, keine Seele, die mitschwingt, kein Feedback, keine Antwort auf uns. Auch das schafft das Gefühl Sinnlosigkeit in einem Leben. Ich kann mein Ikegai leben, ich kann mich selbst verwirklichen so viel ich will – ist da keine Resonanz zum anderen hin, fehlt Entscheidendes um einen existentiellen Sinn zu spüren.
 
Leider leben wir in einer Zeit der Überindividualisierung. In einer Zeit der zunehmenden Vereinzelung des Individuums. In einer Zeit in der soziale Medien Resonanz künstlich herstellen. Wir sind alle miteinander verbunden auf Facebook, Twitter, Instagramm usw., aber lebendige Resonanzerfahrungen fehlen vielen Menschen mehr und mehr. Es liegt an uns das zu wandeln.
„Resonanz ist das Versprechen der Moderne – Entfremdung ist ihre Realität“, schreibt Rosa.
Ich gebe ihm Recht. 
 
 
Buchtipp: „Resonanz“ von Hartmut Rosa

Mittwoch, 29. Mai 2024

Aus der Praxis: Verrats-Trauma

 

                                                          Malerei: Angelika Wende

 
Die Bindungstheorie besagt, dass wir Menschen von Natur aus das Bedürfnis haben, tiefe und bedeutungsvolle Verbindungen aufzubauen. Bindungen sind notwendig für unser Überleben. Das tief verwurzelte Bedürfnis nach Bindung ist von zentraler Bedeutung für den Aufbau einer langfristigen vertrauensvollen Beziehung mit einem intimen Partner.
Die emotionale Bindung in der Partnerschaft ist ein Halt inmitten der Unwägbarkeiten des Lebens. Die Basis einer Partnerschaft ist Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage für tiefe Verbundenheit. Ohne Vertrauen kann nichts wachsen und gedeihen. Der gegenseitige Vertrauensaufbau stärkt die Beziehung. Je tiefer das Vertrauen, desto gehaltener fühlen wir uns, wir fühlen uns sicher und geborgen mit dem anderen., wir können uns fallen lassen. Ohne Vertrauen ist es nicht möglich, unser Innerstes, unsere Träume und Wünsche, unsere Verletzbarkeit und unsere Ängste mit einem Menschen zu teilen, der versteht und uns in unserem Sosein achtet und annimmt.
 
Untreue zerreißt das Band dieser Bindung.
Sie erschüttert das Fundament der gefühlten Sicherheit und führt zu tiefer Verzweiflung, die den Verratenen mit einem schmerzhaften Gefühl der Trennung und traumatischer Verletzlichkeit zurücklässt.
Wer einen Verrat erlebt, dem wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Betrogene Menschen bleiben in einem Gefühl der Fassungslosigkeit, der Ohnmacht, der Wut, des Schmerzes, der Scham, der Schuldgefühle (weil man es nicht bemerkt hat), der Selbstverurteilung und der Trauer zurück und manche bleiben darin stecken. 
 
Untreue-Verrat ist ein zutiefst traumatisches Erlebnis.
In der Praxis erzählte mir eine von ihrem Ehmann seit Jahren betrogene Frau, dass sie mit ihrer Freundin über den Betrug gesprochen habe. Diese meinte, sie soll sich nicht so anstellen, Männer seien eben nicht treu. Es gäbe Schlimmeres.
Meine Klientin war fassungslos. Für sie ist durch den Betrug nicht nur ihre Beziehung, sondern ihre ganze Welt zusammengebrochen, sie fühlt sich verraten, gedemütigt und beschmutzt.Sie hat vollkommen die Orientierung verloren. Ihr Leben erscheint ihr sinnlos, die Jahre ihrer Ehe wie eine einzige Lüge, eine Illusion, die sie sich gemacht hat.
 
Trauma ist nicht das, was passiert, sondern wie ein Mensch auf das, was passiert, reagiert.
Verrat ist eine schwere seelische Verletzung. Ein solches Erlebnis kann traumatisierend wirken, wenn die psychischen Kapazitäten der Betroffenen zur Bewältigung der Situation nicht ausreichen und sie massiv überfordert sind.
Trauma ist eine psychische Ausnahmesituation auf die jede Psyche anders antwortet.
Das Trauma Verrat stellt nicht nur einzelnes traumatisches Erlebnis dar, es ist hochkomplex und vielschichtig. Diese Komplexität entsteht, weil das Trauma nicht endet, wenn der Verrat endet oder man die Trennung vollzogen hat.
Es kann eine Flut emotionaler Reaktionen auslösen, die sich erst im Laufe der Zeit zeigen.
Die Entdeckung des Verrats löst zunächst einen Schock aus, diesem folgt ein breites Spektrum an überwältigenden Emotionen und Reaktionen, die beginnen ein Eigenleben zu führen, wenn der Verrat vom betrogenen Partner oder gemeinsam als Paar nicht verarbeitet werden kann. 
 
Es hat erheblichen Einfluss auf die Verarbeitung des Traumas wie der untreue Partner auf den Schmerz des Verratenen reagiert.
Tut er dessen Gefühle ab oder bagatellisiert er den Betrug z.B. mit Worten wie: „Es war nur Sex, es hatte nichts mit dir zu tun oder: Ich bin ein Schwein, ich mache das nie mehr, verzeih mir bitte“, ist das, wie die Praxis zeigt, nicht hilfreich.
Im Gegenteil, der andere wird in seiner Verletzung nicht ernst genommen. Auch wortreiche Reue, nach dem Motto: „Ich tue es nie wieder“, ist keine Hilfe und meist auch nur wieder ein Verrat. Wer betrogen hat und nur verbal Reue bekundet, dann Vergebung erhält, betrügt meist weiter, er hat Abbitte geleistet, er ist entlastet, ihm wurde verziehen und damit wurde ihm die Erlaubnis gegeben: „Ist okay, mit mir ist es möglich.“
Echte Reue bedeutet, etwas tun, es wieder gut machen wollen.
Wer betrogen hat und es wahrhaft bereut, macht sich an die Arbeit an sich selbst um herauszufinden, warum er das getan hat, was mit ihm selbst nicht in Ordnung ist, warum er das Vertrauen und die Loyalität dem anderen gegenüber bricht und in Kauf nimmt den Partner, die Partnerin tief zu verletzen.
Betrug, sagt man, ist ein Zeichen, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt. Das ist u.a. ein Grund, den Menschen nennen, wenn sie fremd gehen und den anderen betrügen. Wenn etwas in der Beziehung nicht stimmt, heißt das: Darüber reden, kommunizieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen oder sich trennen, wenn es keine Lösung gibt.
 
Wer betrügt, sucht keine Lösung, er flüchtet aus der Beziehung.
Er wendet sich ab und andern zu, anstatt ehrlich zu sagen, was ihn stört, unglücklich macht oder emotional belastet. Er gibt dem Partner keine Chance und denkt nur an sich selbst.
Wie sich der Genesungsprozess nach einem Verrat entwickelt, hängt sehr davon ab wie der Verrat vom Verräter empfunden und erklärt wird, und ob er die Bereitschaft hat, an sich selbst zu arbeiten, anstatt den anderen schuldig oder mitschuldig an seinem Verrat zu sprechen, also das Opfer zum Täter, bzw. zum Mittäter zu machen.
 
Traumata durch Verrat sind komplex und haben vielschichtige Folgen.
Jeder Betrug weist andere Merkmale auf, die ein Verrats-Trauma prägen. So kann sich ein Verrat auf frühere traumatische Erlebnisse aufsetzen und deren Auswirkungen verstärken, bzw. retraumatisierend wirken. Das Wissen um die Untreue zerstört nicht nur die Beziehungsgrundlage, es verschärft oder belebt bereits bestehende Traumata wieder. Darüber hinaus spielen die Dynamik innerhalb der Beziehung sowie die Lebensumstände und die emotionalen Belastungen des, der Betrogenen zum Zeitpunkt des Verrats eine entscheidende Rolle bei den nachfolgenden emotionalen Reaktionen.
Verrat ist schmerzhaft und wirkt verstörend auf den ganzen Organismus.
Alles, was wir erleben, wirkt sich auf unseren physischen Körper aus. Dazu gehört auch alles, was emotional in unserer Beziehung passiert. Der physische Aspekt eines Verrats-Traumas wirkt sich auch auf den Körper aus. Wenn Menschen ein Trauma erleben, geht Ihr Körper mit ihnen durch das Trauma. Es sitzt in jeder Zelle.
 
Sex ist die intimste Erfahrung zwischen zwei Menschen.
Es ist der Akt, indem wir uns dem anderen vertrauensvoll hingeben und sehr verletzlich sind. Die sexuelle Verratskomponente kann für Betroffene eine der tiefgreifendsten sein. Sex wird von vielen Frauen als etwas Heiliges empfunden. Der sexuelle Verrat-Anteil ist damit gegeben, dass dieser heilige Bereich massiv verletzt wird. Intime Schutzräume, emotionale und körperliche Grenzen werden ignoriert, überschritten, durchbrochen, verletzt. Der Vertrauensverlust greift tief in die Quelle der Sexualität in der Beziehung ein. Der Partner hat die sexuelle Vertrautheit und heilige Intimität gegen Sex außerhalb der Beziehung eingetauscht. Viele Frauen fühlen sich dadurch entwertet, missacht und zutiefst gedemütigt. Ihr Selbstwertgefühl zerbröselt. Ihre Werte sind ins Wanken gebracht oder zerstört.
Die Reaktionen darauf sind so unterschiedlich wie wir Menschen. Manche Frauen geraten in einen hypersexuellen Zustand, wollen plötzlich mehr Sex oder experimentieren sexuell. Andere fühlen sich innerlich leer und gefühlstaub. Sie haben kein Verlangen mehr nach Sex oder sie empfinden Ekel, wenn sie an Sex mit dem Partner denken, der sie betrogen hat. Wieder andere fühlen Scham. Sie fühlen sich beschämt und beschmutzt und ekeln sich vor dem eigenen Körper. Auch psychosomatische Reaktionen sind keine Seltenheit.
Meine Klientin entwickelte nach dem Verrat eine Reizblase und Herzrythmusstörungen.
Was ein Verrats-Trauma so schmerzhaft macht, ist zudem, dass die betrogene Person die Beziehung zum Täter oft nicht einfach abbrechen kann. Entweder weil sie noch Liebe empfindet, sich rächen will, ihn durch ständige Vorhaltungen betrafen will oder einen Widergutmachungswunsch hegt - in der Hoffnung, der Verräter heilt die Wunde, die er geschlagen hat. 
 
Nicht jede Untreue ist gleich.
Komplexe Traumata entstehen durch äußere Bedingungen, durch eine Kombination verschiedener Faktoren, wie etwa langfristige Geheimhaltung und Täuschung oder wiederholten Betrug mit immer anderen Sexualpartnern. Jede Art von Untreue hat Einfluss auf den psychischen Schaden, den die betrogene Person erfährt. Besonders verheerend ist ein Verrat, wenn der betrogene Mensch, bereits mit anderen Stressoren oder psychischen Problemen zu kämpfen hat. Er wird nun auch noch mit der traumatischen Belastung einer verheerenden Realität konfrontiert.
Die Tiefe und Komplexität eines Verrats-Traumata zu verstehen ist sowohl für den betrogenen als auch für den untreuen Partner von entscheidender Bedeutung, wenn sie den Weg der Genesung gehen, ob gemeinsam oder allein.
Der durch Untreue verursachte emotionale Schmerz entsteht durch den Bruch einer tiefen emotionalen Bindung, ein Bruch, der existentielle Bedrohung und Urängste auslöst, die entstehen, wenn die wesentliche Bindung zum Partner bedroht oder zerstört ist. Dabei geht es nicht nur um den Verrat selbst, sondern auch um die tiefgreifende Auswirkung auf die Beziehungsrealität, die zuvor ein sicherer Boden im Leben war und jetzt eingebrochen ist. Die Folge dieses Bruchs ist nicht nur Vertrauensverlust, die Folgen können das Selbstwertgefühl, die Selbstwahrnehmung, das Selbstempfinden, das Selbstbewusstsein, die Indentität, die emotionale und körperliche Gesundheit und die gesamte Vergangenheit der Beziehung erschüttern und in Frage stellen.
Mit diesem Trauma klarzukommen schaffen nur wenige. Es ist gut, sich professionelle Unterstützung zu holen, um nicht im Schatten des Traumas stecken zu bleiben. 
 
 
Wenn Du Unterstützung wünscht, ich bin da.
Kontakt: aw@wende-praxis.de
Malerei: A.Wende

Sonntag, 26. Mai 2024

Vorsicht vor denen, die behaupten, sie hätten die Wahrheit gefunden.

 

                                                                         Free Pick

 
„Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben“, schreibt André Gide. „Die Wahrheit ist etwas, das gesagt wird, nicht etwas, das gewusst wird“, schreibt Susan Sonntag. Und der chinesische Philosoph Zhuangzi konstatiert: „Niemand ist weiter von der Wahrheit entfernt als derjenige, der alle Antworten weiß.“
 
Wohltuend weise, finde ich, diese Gedanken kluger Menschen. 
So ganz im Gegensatz zu Aussagen und Behauptungen der selbsternannten Allwissenden, Erwachten und Erleuchteten, die meinen, sie hätten die Wahrheit gefunden und wüssten wo es lang geht mit der Menschheit und dem Lauf der Welt. Und wer ihnen keinen Glauben schenkt, schläft, gehört zur dunklen Seite der Macht oder rennt gar ins Verderben. Das Internet ist voll von Wissenden, Propheten, Kassandras und HeilerInnen, die anderen ihre Wahrheiten erfolgreich als das Absolute verkaufen und damit Geld machen.
Da kommt mir Paul Watzlawik in den Sinn: "Wie ich bereits sagte, ist der Glaube, dass die eigene Sicht auf die Realität die einzige Realität ist, die gefährlichste aller Wahnvorstellungen. Noch gefährlicher wird es, wenn es mit dem missionarischen Eifer einhergeht, den Rest der Welt aufzuklären, ob der Rest der Welt aufgeklärt werden möchte oder nicht. Sich zu weigern, eine bestimmte Definition der Realität voll und ganz anzunehmen, sich zu trauen, die Welt anders zu sehen, kann zu einem „Denkverbrechen“ im wahrhaft orwellschen Sinne werden, je näher wir dem Jahr 1984 kommen."
Worauf basiert der Erfolg jener, die meinen, sie besäßen die absolute Wahrheit und was hilft ihnen, diese geschickt und manipulativ an den Mann und die Frau zu bringen?
Es ist das grundlegenden Bedürfnis der Menschen nach Wahrheit. Ein Bedürfnis, das darauf ausgerichtet ist Sicherheitsempfinden herzustellen in einer Welt in der erfahrungsgemäß nichts sicher ist und die immer mehr verunsichert.
 
Was ist eigentlich Wahrheit?
Wahrheit wird im Wörterbuch als „das Wahrsein, die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird, Richtigkeit, wirklicher, wahrer Sachverhalt, Tatbestand definiert.
Bei Aristoteles lesen wir: „Wahrheit ist Übereinstimmung zwischen Realität und Intellekt.“ Und Kant postuliert: „Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstande.“
Höchst kompliziert, das mit der Wahrheit. Und je weiter ich nach Defintionen suchen würde, desto komplizierter würde es werden, das mit dem Wahrheitsbegriff.
Es gibt Wahrheit im Sinne von Tatsachen-Wahrheiten, z.B. dass es Tag und Nacht gibt, dass wir atmen müssen um nicht zu ersticken, dass wir alle sterben müssen. Wir wissen, dass es so ist, und wer etwas anderes behauptet, sagt definitiv die Unwahrheit. Es gibt Gesetze der Wissenschaft, beweisbare Wahrheiten der Physik, Realitäten, die bestimmen, was wahr ist und was nicht. Würden wir all das anzweifeln, würde uns das Chaos überrollen. 
 Es gibt die Wahrheiten von religiösen, spirituellen, esoterischen und weltanschaulichen Überzeugungen. Auch in der Philosophie ist die Wahrheit ein großes Thema. Es gibt Wahrheiten, die nach unserer Erfahrung wahr sind und wir halten für wahr, was wir in der wirklichen Welt sehen. Ein Baum ist ein Baum, ein Tisch ist ein Tisch usw. 
 
Aber gibt es die wahre Realität oder nur das, was wir selbst als Realität wahrnehmen und annehmen, also subjektives Wahrheitsempfinden? Es gibt eine Vielfalt des Wahrheitsbegriffs und es gibt eine Vielfalt von Wahrheitsansprüchen, aber existiert so etwas wie absolute, universelle Wahrheit?
Die Suche danach begleitet uns Menschen seit der Antike. Allen voran Platon, der Wahrheitssucher, der in den Gesprächen mit seinem Lehrer Sokrates im Kern die Unterscheidung von bloßer Meinung und eigentlicher Wahrheit herausfinden wollte. Sokrates Ziel war, den Menschen zur eigenen Einsicht führen. Er glaubte, nur eine Erkenntnis, die von innen, also aus dem inneren Gefühl des Menschen kommt, ist wirklich eine Einsicht. Da kommt mir ein Gedicht von Christian Morgenstern in den Sinn:“ Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“, steht dort in einer Zeile.
… Hin zur eigenen Wahrheit, könnte man hinzufügen.
Und auch die ist dann möglicherwiese nur eine relative Wahrheit. Das Relative impliziert das Unvollkommene und den Vergleich. In der Philosophie ist der Relativismus jene Position, die besagt, dass die Wahrheit jeder Behauptung variabel ist und immer abhängig von den Umständen und den Personen.
 
Wenn es also so etwas wie die absolute Wahrheit nicht gibt, existiert letztlich nichts Richtiges und nichts Falsches über irgendetwas in dieser Welt.
„Ich bin mir in nichts sicher“, schrieb Carl Gustav Jung am Ende seines Lebens. „Ich weiß, dass ich nichts weiß,“ sagt der weise Sokrates zu Platon.
Vorsicht also vor denen, die behaupten, sie hätten die Wahrheit gefunden. Dann eher so: „Großer Zweifel, große Erleuchtung."
- Tokuda Rinsai
 
Übrigens, was meine Wahrheitssuche angeht, bin ich bei Peter Sloterdijk: „Wer einen Weg zu sich selbst sucht, träumt von einem Zustand, in dem er sich selbst ertrüge. Daher ist keine Suche nach dem wahren Selbst eine theoretische; die Suche entspringt dem Drang des Lebendigen nach einer Wahrheit, die unerträgliches Leben erträglich macht.“

Donnerstag, 16. Mai 2024

Neu in der Praxis: Der Lebensrückblick – sich mit dem eigenen Leben versöhnen

 

                                                                                                                 Foto: Free Pick

 

In meiner Arbeit erlebe ich immer öfter, dass Menschen sich fragen: War das jetzt mein Leben? Und warum war es so und nicht anders? Oder sie stellen sich die Frage, ob ihr bisheriges Leben einen Sinn machte und wie es weitergehen soll, wenn der Sinn oder das, woran sie ihn fest gemacht haben, verloren ist.

 

Meistens sind diese Menschen zwischen Mitte Fünfzig und Siebzig Jahren. Sie ziehen Resümee, sie möchten Ihr bisher gelebtes Leben besser verstehen und die rote Linie finden. Sie möchten ihr Leben und sich selbst in ihrer Ganzheit akzeptieren und Frieden schließen. Oder sie möchten Wege und Möglichkeiten finden wie sie den Herbst und den Winter ihres Lebens gestalten können um auch im Alter ein zufriedenes und erfülltes Leben zu leben. Manche Menschen möchten einfach nur einem achtsamen Zuhörer ihre Geschichte erzählen.

 

Aus diesem Grund biete ich ab 1. Juni 2024 als weiteres Tool in meiner Arbeit den Lebensrückblick an.

 

Was ist der Lebensrückblick?

Er ist eine Form der Biografie- und Erinnerungsarbeit, wobei es wichtig ist, sich in Gesprächen auf ein Gegenüber zu beziehen, das achtsam zuhört, empathisch und behutsam Fragen stellt und dabei unterstützt der eigenen Lebensgeschichte Sinn und Bedeutung zu verleihen. Zum Lebensrückblick gehört auch belastende und tragische Ereignisse neu zu bewerten, einzuordnen und zu verarbeiten. Beim Erzählen können bisher nicht erkannte Zusammenhänge in der eigenen Entwicklung gefunden und Wertschätzung für das Vergangene erlebt werden. Auf dieses Weise kann sich die Perspektive eines Menschen auf sein Leben auf heilsame Weise wandeln. Diese Bewältigungserfahrung trägt dazu bei, dass eigene Stärken und Fähigkeiten erkennbar werden und gewürdigt werden, so dass sie im weiteren Leben bewusster eingesetzt werden können. Beim Lebensrückblick werden in mehreren Gesprächen alle Lebensphasen und bedeutsame Lebensereignisse betrachtet und besprochen. Glückliche wie ungute Erinnerungen sind hierbei gleichermaßen wertvoll. Beim Lebensrückblick geht es im Kern um die Integration der Lebensgeschichte. Das Vergangene wird durch Verarbeitung verstanden.

Erik H. Erikson sagte einmal: "Die Entwicklungsaufgabe zum Ende des Lebens besteht darin, Integrität zu erreichen und Verzweiflung zu überwinden. Es geht darum die eigene Biografie anzunehmen. Die Zusammenfassung und Bewertung unseres gelebten Lebens ist der Schlüssel zu Versöhnung und Akzeptanz, und Akzeptanz ist der Schlüssel, um Integrität zu erreichen, basierend auf einer kohärenten persönlichen Lebensgeschichte mit einer wenig konfliktbehafteten Selbstsicht, was dazu führt, dass wir inneren Frieden finden und ja sagen können zu dem, was unser Leben war und ist."  Da ich den Lebensrückblick selbst gemacht habe, durfte ich erfahren, dass er liebevolle Selbstannahme fördern kann.  

Unsere Gespräche finden in der Regel ein Mal pro Woche (vor Ort in meinen Räumen oder auch Online (Videositzungen ) über einen Zeitraum von zehn Wochen statt. 

Ich biete den Lebensrückblick einmalig zum Sonderpreis von  690 € zzgl. 19 % MwST an. Ratenzahlung ist möglich.  

Kontakt: aw@wende-praxis.de

Ich freue mich auf Sie!

Herzlich

Angelika Wende

 
"It is said that before entering the sea
a river trembles with fear.
She looks back at the path she has traveled,
from the peaks of the mountains,
the long winding road crossing forests and villages.
And in front of her,
she sees an ocean so vast,
that to enter
there seems nothing more than to disappear forever.
But there is no other way.
The river can not go back.
Nobody can go back.
To go back is impossible in existence.
The river needs to take the risk
of entering the ocean
because only then will fear disappear,
because that’s where the river will know
it’s not about disappearing into the ocean,
but of becoming the ocean."
 
~ Khalil Gibran


 

Sonntag, 12. Mai 2024

Mutterhäufchenelend

 

                                                                         Foto: A.W.

 
„Er könnte es viel leichter haben,“ sagt sie, vor mir sitzend wie ein Häufchen Elend. Mutterhäufchenlend, schießt es mir durch den Kopf. „Aber, wissen sie, er hat es sich immer schwer gemacht. Er ist nie den einfachen Weg gegangen, immer habe ich das Gefühl, dass er sich die Steine selbst aussucht, die ihm im Weg liegen. Er lässt sich einfach nicht helfen, dabei weiß ich doch wie es besser wäre für ihn.“
Mit einem Blick, als könne ich diejenige seine, die ihrem Sohn die Steine jetzt sofort mit einem Zauberspruch aus dem Weg räumt, sieht sie mich an, hilflos, zugleich verzweifelt fordernd.
Ich lehne mich zurück, hole mir Rückendeckung an der Stuhllehne. „Warum, glauben sie, lässt er sich nicht von Ihnen helfen?“.
Sie nestelt an dem altmodischen Spitzentaschentuch herum, das sie die ganze Zeit in den Händen hält, zu einem kleinen weißen Ball formt, ihn wieder aufzurollt um dann von vorne zu beginnen.
„Ich weiß es nicht, sagen sie es mir!“
Ich wiederhole die Frage: Warum ?
„Warum?“ Mit einem harten „Pft“ bläst sie Luft über die Lippen. Sie flatterten wie ihre Angst, die in Wellen zu mir herüber rollt, seit sie den Raum betreten hat.
„Mein Gott, das weiß ich doch nicht! Ich sage ihm wie er es machen soll, er wird aggressiv und macht dann genau das Gegenteil.“
„Okay, sie wissen also, wie er es leichter haben könnte“, antworte ich.
„Ja, das weiß ich. Wir haben ihm doch alles auf dem Silbertablett serviert, bricht es aus ihr heraus. Schon als er klein war, hat er alles bekommen, was er wollte, wenn es Probleme gab, habe ich sie gelöst. Sein Vater war ja nie da. Ich habe mein Bestes getan. Und das ist jetzt der Dank, er wendet sich von mir ab.“
Sie weint. Dann kommt es, dieses: Ich habe als Mutter versagt, das sie vergeblich in ihr Taschentuch gerollte hat.
Ich sehe sie an und fühle das Versagen, weil ich es kenne, weil ich es oft höre, das vermeintliche Versagen der Mütter, wenn das Leben der Kinder anders verläuft als sie es sich vorgestellt haben. Das Mutterhäufchenlend ist weit verbreitet, als gehöre es zum Muttersein unabdingbar dazu.
„Die Mutter ist immer schuld, wenn was schiefläuft“, weint sie.
Ich atmete tief durch: „Woher wollen sie das wissen?“
„Na, weil es so ist.“
„Und woher wollen sie das wissen? Sind sie der liebe Gott?“
Sie faucht mich an: „Was hat denn das mit Gott zu tun?“
"Nun, wenn sie Gott wären, dann würden sie es sicher wissen. Gott, sagt man doch, sieht alles und weiß alles. Und da sie nicht Gott sind, woher wollen sie alles wissen?“
Sie klammert sich an ihr Taschentuch. „Jetzt weiß ich gar nichts mehr.“
„Sehen sie, sie wissen es nicht.“
"Nein, ich weiß es nicht, aber das nützt mir nichts. Ich bin schuld!"
„Doch“, erwidere ich, „das könnte ihnen sehr viel nützen.“
„Und was?“
Ich spüre Wut in ihr hoch kochen. Sie steigt aus ihrem Bauch in den Hals und schärft ihre Stimme. „Verdammt ich will meinem Sohn nützen und nicht mir!“
Ich beuge mich langsam zu ihr vor.„Kann es sein, dass Sie ihm zu viel Druck machen?“
Sie sieht mich verblüfft an.
„Wieso? Ich will es doch nur für ihn gut machen.“
Sie schweigt. Wischt sich mit dem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. In ihren Augen sehe ich ein langsames Begreifen.
„Hm, meinen Sie, ich sollte ich ihm einfach mal vertrauen.“
„Ja“, antworte ich, sie könnten ihm vertrauen.“

Samstag, 11. Mai 2024

Sprechen

 

                                                                   Foto: A.W.

 
Es macht keinen Sinn, die Wucht dessen, die uns angesichts eines traumatischen Erlebnisses getroffen hat, klein- oder wegdenken zu wollen. Was war muss sein dürfen, was es ist: schrecklich, unfassbar, grausam, wuchtig. Es macht keinen Sinn einem Menschen den Schmerz eines Traumas nehmen zu wollen mit Worten wie: "Es ist vorbei, Vergangenheit, vergiss es!" Das ist als würde man ihm sein Recht auf sein Entsetzen, seine Trauer, seine Fassungslosigkeit, seine Verletztheit, seine Wut und seinen Schmerz nehmen. 
Traumatisierte Menschen brauchen, dass ihr Leid anerkannt wird. Sie brauchen nicht, dass man ihnen ihren Schmerz ausredet. Sie brauchen, dass ihr Schmerz gesehen, gehört und geachtet wird. Es geht darum anzuerkennen was war und was es mit diesem Menschen gemacht hat. Das nicht anzuerkennen bedeutet, ihm seine Würde zu nehmen.
 
Das Schreckliche was geschehen ist wird nicht bewältigt, indem man sich distanziert, nicht durch Verdrängen, nicht durch Distanzierung, nicht durch Kompensation, nicht durch Betäubung, nicht durch Sublimierung, nicht durch Verleugnung, sondern im sich Hinwenden, im sich Zuwenden. 
 
Traumatisierte müssen sprechen dürfen, alles aussprechen dürfen, alles fühlen dürfen. Damit hört das Verstummen durch die erfahrene Ohnmacht auf. Der Genesungsprozess setzt ein, wenn die ausgebliebenen, unterdrückten Reaktionen auf das Trauma gefühlt und ausgesprochen werden können, wenn das Entsetzen, das Verstörende, die Angst, die Wut, die Verzweiflung, die Starre, der Schmerz und die Trauer sprechen dürfen.
„Wir können nur ändern, was wir konfrontieren."