Dienstag, 30. April 2024

Aus der Praxis: Erfahrungen

                                                                          Free pick
 


„Die Vergangenheit ist ein Leuchtturm und kein Hafen“, sagt ein Sprichwort.
 
Wir alle haben wir in der Vergangenheit Dinge erlebt, die wir uns nicht gewünscht haben. Enttäuschungen, Trennungen, Verluste - persönlich oder in der Liebe. All das empfinden wir als Niederlagen. Je schmerzhafter wir diese Niederlagen empfunden haben, desto mehr neigen wir dazu uns dem Leben gegenüber zu verschließen, weil wir so etwas nie mehr erleben wollen. Und dann kann es geschehen, dass wir unser Herz verschließen. Wir lassen niemand mehr hinein. Wir verziehen uns in den scheinbar sicheren Hafen und lassen Erfahrungen nicht mehr zu. Vielleicht vielleicht ziehen wir uns auch ganz von der Welt zurück und verpuppen uns in uns selbst.
Für eine Weile ist das eine gesunde Reaktion.
Wir brauchen Zeit um zu genesen, um das Alte zu verarbeiten, und um uns neu zu sortieren. Rückzug kann etwas sehr Heilsames haben. In der Zeit nur mit uns selbst lernen wir uns selbst gut kennen. Wir erkennen was wir wollen und was wir nicht mehr wollen. Wir erkennen unseren Anteil an unseren Erfahrungen und wissen was in uns immer wieder gegen uns selbst arbeitet. Im besten Falle jedenfalls ist das so.
Wir sind sorgsamer im Umgang mit uns selbst und wir spüren, welche Bedürfnisse und welche Werte uns wichtig sind. Wir haben feinere Antennen für Gewohnheiten, Muster, Menschen und Energien, die uns nicht gut tun. 
 
Ich weiß, wie schwer es ist, sich wieder zu fangen, wenn wir Schmerzhaftes erlebt haben. Ich weiß wie fragil man ist, wenn einem das Herz gebrochen wurde oder wenn wir eine Krise durchleben mussten. Ich weiß, wie schwer es ist wieder zu vertrauen, wenn das Vertrauen gebrochen wurde. Nach dieser Art von Ereignissen werden wir vorsichtiger und unser Instinkt für Dinge, die sich nicht gut anfühlen, wird feiner.
Und das ist gut so.
Aber, wie das Sprichwort sagt: Die Vergangenheit ist ein Leuchtturm, der uns den Weg weist. Wir bleiben nicht im Hafen liegen wie ein Schiffswrack, das Leben geht weiter mit seiner Orientierungshilfe. Durch unsere Erfahrungen haben wir nicht nur gelitten, wir haben auch gelernt und im besten Falle sind wir an den Erfahrungen, die wir gemacht und bewältigt haben, gewachsen. Alles was uns begegnet, egal ob gut oder schlecht, sind wenn wir die Dinge neutraler betrachten, sie nicht bewerten und sie nicht zutiefst persönlich nehmen, Erfahrungen, die wir integrieren. Das macht das Leben um einiges einfacher.
 
Unsere Erfahrungen sind ein Reichtum. Sie formen unsere Persönlichkeit. Wir sind die Frucht unserer Vergangenheit - innerlich reicher, reifer, stärker, bewusster und klarer.
Bereit für unseren weiteren Weg, den wir jetzt achtsamer gehen werden.
Um den Weg weiter zu gehen, müssen wir raus aus dem scheinbar sicheren Hafen. Raus ins Meer der Möglichkeiten des Lebens. Wenn wir wirklich etwas Wesentliches über das Leben gelernt haben, dann wissen wir: Das Leben ist Veränderung. Nichts bleibt wie es ist und alles, alles ist vergänglich. Wir haben nur den Moment. Und über den Moment hinaus sind wir bereit die Zukunft so akzeptieren, wie sie ist, mit den all den Ungewissheiten und Erfahrungen, die auch sie mit sich bringt.
 
 
"Jeder von uns ist Christus, denn wir alle tragen das Christusbewusstsein in uns. Doch um dieses Licht in uns scheinen zu lassen, müssen wir uns dem Leben und dem Tod bedingungslos hingeben und dem Weg, unserem einzigartigen Weg, der sich vor uns entbreitet, vertrauen.
Es ist der Weg, den nur wir gehen können, weil es sich erst durch unser „rechtest Handeln“ ergibt. Es ist ein Weg, den es noch gar nicht gibt, der sich erst unter unseren Füßen formt, indem jeder Fuß dem vorigen folgt. Der Pfad entsteht aus der Leere heraus, von niemandem vorher gegangen und daher ohne Gesetz, Sinn oder Verstand. Dieser Weg is amoral und daher müssen wir, um ihn zu gehen tief in uns selbst graben und uns von der Quintessenz forttragen lassen, die nur wir erkennen können."
- Richard Rudd

Sonntag, 28. April 2024

Fülle ist eine Geisteshaltung

 

                                                                           Foto. A.Wende

 

Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Der Optimist sagt, das Glas ist halb voll, der Pessimist sagt, das Glas ist halb leer. 

Sagt man.

Was, wenn wir es einmal anders sehen?

Wenn wir sehen: Entscheidend ist, dass das Glas da ist. Es geht nicht darum wie voll das Glas ist, oder wie leer, sondern um das Glas selbst. Um die Tatsache, dass dieses Glas überhaupt da ist und in dem Glas all das, was wir im Leben erfahren, was wir verlieren und gewinnen, was wir an Gutem und an Ungutem erleben, was wir erleben und fühlen.

Wenn wir aufhören in „entweder oder“ Kategorien zu denken, wenn wir aufhören zu bewerten ist alles erst einmal wie es ist. Dann ist es völlig egal wie voll oder wie leer wir unser Glas ist. Es geht um das Leben selbst, das ist.

 

Manchmal fühlen wir uns voll, manchmal leer. Manchmal ist unser Leben voller Freude und Glück und manchmal sind wir voller Trauer und Schmerz. Kein Leben verläuft linear. Es gibt gute und schlechte Zeiten in jedem Leben.

 

Leiden entsteht dadurch, dass wir meinen unser Glas muss immer voll sein, wir müssen immer gute Gefühle haben, das Leben muss immer glatt laufen und tut es das nicht, sehen wir ein halbvolles Glas und nicht mehr das Glas selbst.

Wir machen uns abhängig von all den Dingen, die wir meinen zu brauchen und wir machen uns von Menschen, die wir meinen zu brauchen. Wir machen uns abhängig davon wie die Dinge laufen und wie andere handeln oder wie sie uns behandeln und reagieren dann darauf. 

 

Wir brauchen so viel, denken wir. Aber was brauchen wir wirklich?

Je mehr wir brauchen desto abhängiger sind wir davon was im Außen passiert und damit machen wir unser Innerstes vom Außen abhängig. Wir reagieren und beantworten was uns begegnet. Wir bewerten und beurteilen was uns begegnet und teilen es in Kategorien wie gut oder schlecht. Und dann fühlen wir uns, je nachdem, gut oder schlecht. Wenn uns nichts begegnet oder wenn wir auf uns selbst zurückgeworfen sind oder unsere Tage keine Höhen und Tiefen haben, langweilen wir uns ob des immer Gleichen oder wir fühlen uns leer innen. Wir blicken immer in das Glas, aber sehen das Glas selbst nicht. Ob gefüllt oder nicht, immer sind wir selbst da. Wir selbst sind die Fülle, unser Leben. Unser Dasein und unsere Reise auf diesem Planeten.

 

Fülle ist eine Geisteshaltung.

Es gibt Menschen deren Glas immer halb voll oder sogar voll ist und sie sind unzufrieden und es gibt Menschen, deren Glas immer halbleer oder ganz leer ist und sie sind zufrieden.

Es geht nicht darum, was wir haben, sondern darum was wir sind und wer wir sind und wie wir unser Dasein empfinden und es gestalten. Es geht darum, was uns von Innen füllt, unabhängig davon, was im Außen ist.

 

"Einer der letzten menschlichen Freiheit ist, seine Einstellung 

unter welchen Umständen auch immer frei wählen zu können 

und einen eigenen Weg wählen zu können.“

 

Viktor Frankl

 

 

 

Montag, 22. April 2024

Im Loch sitzen

 

                                                                 Foto: A.Wende

 
Es gibt Zeiten im Leben da stecken wir in einer unangenehmen Situation fest. Es geht nicht vor und es geht nicht zurück. Wir können uns nur schwer bewegen. Egal was wir tun, es tut sich nichts. Das Leben scheint still zu stehen, nichts passiert, außer dass wir unsere täglichen Pflichten und Routinen erledigen. Wir bemühen uns unsere Lage zu ändern, aber es gelingt uns nicht. Es ist als habe sich alles gegen uns verschworen. Wir sitzen im Loch. Wir sind handlungsunfähig, aus welchen Gründen auch immer, wir sind gezwungen anzuhalten. 
 
Dies kann eine lange Zeit des Wartens bedeuten.
Warten ist keine leichte Übung.
Wir werden ungeduldig, unruhig, wir werden ungeduldig, wir befinden uns im Zustand mentaler Ruhelosigkeit. Je länger die Einschränkung dauert, desto frustrierter, aggressiver, wütender depressiver oder resignierter werden wir. Nichts geht mehr, wir sitzen im Loch und weder wir selbst noch etwas im Außen holt uns da raus. Jetzt gilt es zu erkennen, warum wir in das Loch geraten sind und diesen Zustand der Negativität in unser Leben eingeladen haben.
 
Das Feststecken dient dazu die Richtung zu ändern und nicht in die Vergangenheit zurückzukehren, die uns in diese Lage gebracht hat. Es gilt Ursache und Wirkung zu erforschen und zu erkennen, um aus Fehlern und Fehlentscheidungen zu lernen und es künftig besser zu machen.
Vielleicht müssen wir unsere Einstellung ändern oder die Art und Weise wie wir die Dinge sehen oder wie wir mit den Dingen, anderen Menschen oder uns selbst umgehen.
Vielleicht dürfen erkennen, was wir in unserem Leben vernachlässigt haben, was wir im ungesunden Übermaß getan haben, oder womit wir uns selbst und anderen Unheil und Schaden zugefügt haben. Vielleicht sind wir komplett auf uns selbst zurückgeworfen um uns endlich mit uns selbst anzufreunden und nach unserem wahren Selbst zu suchen. Vieleicht müssen wir uns radikal ehrlich unserer Wahrheit stellen und aufhören mit der Selbstlüge.
Das kann dauern.
Das erfordert Geduld und es erfordert Präsenz.
Bewusste Präsenz, achtsames Gewahrsein für das, was wirklich ist und nicht für das, was wir meinen, was es ist.
Das wiederum erfordert Klarheit und das ist die schwerste Übung – den Ist-Zustand klar und neutral sehen ohne ihm unsere gewohnten Interpretationen und verstaubten Überzeugungen überzustülpen.
Nur wenn wir die Dinge klar sehen, können wir klare Entscheidungen treffen, die uns aus dem Loch herausholen. Nur wenn wir ein starkes Bewusstsein dafür entwickeln, was wichtig und richtig für uns ist und was nicht, können wir darüber hinausgehen. Wenn wir im Loch sitzen und nicht herauskommen, fehlt uns genau diese Klarheit. 
 
 
Wenn Du Unterstützung brauchst um zu Klarheit zu finden, schreib mir unter:
aw@wende-praxis.de

Dienstag, 16. April 2024

Aus der Praxis: Hilfreiches in schwierigen Phasen

 
 
                                                                                  Foto: A.Wende
 
 
 
Das Leben läuft nicht immer so, wie wir es gerne hätten.
Und kein Tag ist wie der andere.
Es gibt in jedem Leben Höhen und Tiefen.
Wir leben in der Dualität.
Alles hat seinen Gegensatz.
Das eine existiert nicht ohne das andere.
Alles ist eins und eins bedingt das andere.
Das Leben schließt alles ein.
Wenn wir wollen, dass immer alles gut läuft, machen wir uns das Leben schwer. Wir werden unzufrieden und sind frustriert, wenn die Dinge mal nicht gut oder richtig schlecht laufen.
Wenn wir ständig das Optimale, das Ideale, das Perfekte, das absolute Wohlgefühl, das große Glück wollen, ist das der sicherste Weg um unglücklich zu werden.
 
Gerade in weniger guten Zeiten ist es hilfreich:
Geduld zu üben, alles hat seine Zeit. Alles verändert sich und alles geht vorüber.
Akzeptanz zu üben: Es ist wie es ist, ich erkenne an, was ist, und es wird so nicht bleiben.
Freundlich und wohlwollend zu uns selbst und zu anderen zu sein.
Mitfühlend zu uns selbst und anderen zu sein.
Dankbarkeit zu praktizieren für das Gute, das auch immer gibt, hilft zufriedener zu sein.
Freude an den schönen Dingen zu empfinden tröstet, gerade wenn wir keine so schönen Zeiten erleben.
Selbstfürsorge und Selbstfreundschaft zu praktizieren, hilft in Krisen immens.
Uns immer mal etwas Gutes gönnen, auch wenn es etwas ganz Kleines ist.
Stille und Ruhe kultivieren, hilft enorm um innerlich in Balance zu bleiben und mehr Gelassenheit zu empfinden.
Achtsamkeit praktizieren, hilft präsent im Moment zu sein.
Bewusstes Atmen, hilft um Stress zu reduzieren und um uns selbst zu regulieren.
Gefühle zulassen, benennen und ausdrücken, denn - was sich nicht ausdrückt, drückt sich ein.
Reden, den Kummer mitteilen.
Kreativität hilft bei Problemlösungen, um uns weiterzuentwickeln und um unsere eigene Welt zu gestalten.
Flexibiltät, hilft um uns an Veränderungen anzupassen und sie als Chance aufzufassen.
Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, helfen um gesund zu bleiben.
Tagesstruktur, hilft Halt, Sicherheit, Orientierung und emotionale Stabilität zu schaffen.
Wach sein in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse und Grenzen, hilft, uns nicht zu überfordern und bei uns selbst zu bleiben.
Demut, hilft uns selbst nicht allzu ernst zu nehmen.
Die eigenen Schattenseiten erkennen und akzeptieren, hilft um uns selbst in unserer Ganzheit mehr zu lieben.
 
 
"Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein."
- Johann Wolfgang von Goethe

Sonntag, 14. April 2024

Die Kunst sich selbst Liebe zu schenken

 

                                                                       Foto: A.W.

 
„Langsam stirbt, wer die Liebe zu sich selbst zerstört; wer sich nicht helfen lässt“, lautet eine Zeile in Pablo Neruda´s Gedicht „Ode an das Leben“.
Die einen suchen sie, die anderen geben vor sie zu haben, wieder andere verteufeln sie als Narzissmus, andere zerstören sie, wie Neruda schreibt, und nur wenige fühlen sie: die Liebe zu sich selbst.
Selbstliebe ist in aller Munde, aber was sie genau ist, das weiß keiner so wirklich, es sei denn er empfindet sie. Die meisten von uns wissen einfach nicht, wie ich es gehen soll, sich selbst auf eine praktische Weise zu lieben. Wir wissen nicht wie wir mit der Liebe in unserem Inneren in Kontakt kommen. Wir lieben, um wiederum geliebt zu werden, aber wir haben nie gelernt, uns selbst zu lieben. Wir wollen vielmehr geliebt werden, als zu lieben, weil wir glauben, dass Liebe durch einen anderen Menschen zu uns kommt. Verlässt uns dieser Mensch, sind wir die Liebe los, sind wir wieder "lieblos".
Wie liebt man sich selbst? Wie führt man mit sich selbst eine liebevolle Beziehung?
Eine liebevolle Beziehung zu mir selbt beginnt für mich mit der Akzeptanz meiner selbst. Sie bedarf Verständnis, Selbstkenntnis und Mitgefühl für mich selbst. Sie bedarf der Selbstfreundschaft und der Selbstfürsorge. 
 
Liebevoller Kontakt mit sich selbst hat nichts mit Narzissmus zu tun. Der Narzisst liebt sich selbst nicht, er liebt sich selbst im anderen, er lässt lieben. Er kann nicht lieben. Selbstliebe hat auch nichts mit Egoismus zu tun, sondern vielmehr mit Selbstachtung und der Fähigkeit mit sich selbst in einen liebevollen Kontakt zu treten. 
 
Das größte Leid erschaffen wir selbst, durch eine ablehnende Haltung uns selbst gegenüber, durch Selbstablehnung und Selbstverurteilung. Je mehr wir uns selbst ablehnen, desto weiter weg sind wir von unserem inneren Kern, unserer Essenz. Die Folge: Wir sind mit uns selbst nicht verbunden. Das Gefühl des Abgeschnittenseins von uns selbst wiederrum führt dazu, dass wir uns als bedeutungslos, wertlos und nicht liebenswert empfinden. Wir sind unglücklich. Es soll uns bitte jemand glücklich machen, ja zu uns sagen, denn wir selbst können es ja nicht, uns selbst bejahen. Wir brauchen andere, die es uns fühlen machen. Das funktioniert auch solange jemand für uns da ist, sobald da aber keiner ist, sobald wir allein mit uns selbst sind, läuft das leibevolle Gefühl aus uns heraus. Es ist wie mit einem Fass ohne Boden, das ständig gefüllt werden muss, aber nichts halten kann.
Lassen wir die Frage: Warum ist das so?, mal beiseite.
Fast jeder, der sich bewusst mit sich selbst befasst, weiß um die Ursachen, warum er lieblos sich selbst gegenüber ist. Oft höre ich: „Ich kann mich nicht lieben, weil man mich als Kind nicht geliebt hat.“
Mich übrigens auch nicht, aber das ist kein Grund mich nicht lieben zu lernen, sondern ein Grund es zu tun. 
 
Das Warum ist nicht die Lösung, es geht um das Wie.
Das gebetsmühlenartige Wiederholen des Wissens um das Warum als Erklärung, warum es mit der Selbstliebe nichts werden kann, führt keinen Schritt weiter. Im Gegenteil, die selbstdestruktive Dynamik bekommt so Futter.
Also: Wie mich selbst lieben? Wie diese Kunst, denn für mich ist es eine Kunst, erlernen?
Sich selbst mögen, reicht ja schon, wem das Wort Liebe im Zusammenhang mit sich selbst Bauchgrummeln macht. 
 
Liebende Güte ist das Zauberwort.
Und die kann man kultivieren.
Die innere Ausrichtung auf die Güte in mir selbst, für mich selbst, ist eine tägliche Praxis. Die wohlwollende Ausrichtung auf eine mitfühlende Haltung zu mir selbst ist eine Praxis. Ob man mich auf dieser Welt nun gewollt hat oder nicht – im Ursprung bin ich ein Kind der Liebe Gottes. Dieses Bewusstsein fehlt den meisten Menschen, ebenso wie der Glaube, der in der heutigen Zeit mehr und mehr verloren geht.
Wir alle tragen Liebe in unserem Herzen, egal was auf unserem Lebensweg an Unliebe passiert ist, viele von uns fühlen sie nur, nach dem, was von Kindheit an in uns verbeult wird, nicht mehr. Aber wir fühlen die Sehnsucht nach Liebe.
 „Sehnsucht nach Liebe ist Liebe. Und siehe, du bist schon gerettet, wenn du versuchst, der Liebe entgegenzuwandern“, schreibt Antoine de Saint-Exupéry.
 
Liebe ist ein Bewusstseinszustand. Und den kann ich erlangen. Das macht Mühe und Arbeit, aber es ist möglich.  
Ich bin nicht machtlos, wenn ich die Bereitschaft habe, es nicht mehr sein zu wollen. Wir haben unendlich viele Möglichkeiten und Hilfen um unsere Wunden der Unliebe zu versorgen und zu genesen. Wir müssen sie nur annehmen und anwenden. Egal wie lange es dauert.
Liebe zu uns selbst bedeutet: Wir kultivieren eine wohlwollende, mitfühlende, freundliche Haltung zu uns selbst und daraus zu allem und allen anderen.
Wenn wir alle Illusionen, alle Vorstellungen, alle Konzepte, alles, was man uns über uns selbst zu denken und zu fühlen beigebracht hat, alle Konditionierungen und Glaubensätze, die uns von uns selbst entfremden, einmal identifiziert und durchdrungen haben und bereit sind unser Herz zu öffnen, erkennen wir, dass der Weg zur Selbstliebe darin besteht, uns Selbstachtung und Selbstannahme zu schenken, so wie wir sind, mit allen Gefühlen, mit allen kleinen und großen Macken, mit unseren Traumata, unseren Zweifeln, Verletzungen und Ängsten und dann beschließen wir gut zu uns selbst zu sein. Gerade deshalb gut zu uns selbst zu sein. Gütig sein und liebevoll, achtungsvoll dem geschenkten, kostbaren Leben gegenüber, das wir erhalten haben. 
 
Aber wie geht das, gut zu mir zu sein?, werde ich in der Praxis oft gefragt. 
Die Antwort ist einfach: Gut zu mir selbst bin ich dann, wenn ich mich gut behandle. Jeder von uns, der keine massive Persönlichkeitsstörung hat, weiß wie das geht, einen Menschen gut behandeln – in dem Fall sind wir das selbst.
In meiner Welt hat Liebe eine Quelle, sie ist im Herzen.
Und sie fließt dann, wenn wir es öffnen, eben auch für uns selbst. Egal wie oft es uns gebrochen wurde, wir allein sind für dieses Herz verantwortlich.
Im besten Falle – in Liebe.
 
"Liebe dich selbst, damit du dich nicht von deiner eigenen Schönheit und Echtheit ablenken lässt.“
- Khalil Gibran

Donnerstag, 11. April 2024

Aus der Praxis: Verrat

 

                                                              Foto: Lucas Wende

 
Das Misstrauen ist immer da, wie eine graue Nebelwand, die über allem liegt. Eine Wand, die sich aufbaut zwischen uns und jedem, der sich uns nähert. Können wir anderen überhaupt noch eine Chance geben? Können wir nach einem Verrat in der Beziehung wieder der oder die sein, die wir waren, bevor man uns den Boden des Vertrauens unter den Füßen weggezogen hat? Wir vergessen nicht wie hart die Landung war. Als wären sämtliche Knochen gebrochen, alle Weichteile zerflossen, das Herz zerrissen, ein allumfassender Schmerz, der uns überwältigt. 
 
Können wir nach einem Betrug, der sich vielleicht sogar über Jahre hinzog, überhaupt noch an die Liebe glauben und wenn nicht an die Liebe, doch zumindest an das Gute, oder stehen wir für immer auf wankendem Boden? Können wir Menschen noch unvoreingenommen begegnen, ohne zu fürchten, dass auch dieser Mensch Abgründe hat, die er perfekt verbirgt und in die er uns hineinziehen wird, wenn wir ihm unser Vertrauen schenken?
Wir Menschen sind voller Abgründe. Das hat mich meine jahrelange Erfahrung gelehrt, in der Praxis und im Leben. Manche Abgründe sind so tief, dass einen das Grauen packt. Wer jemals in einer Liebesbeziehung in einen solchen Abgrund gestürzt ist, verändert sich. Er ist nicht mehr fähig offen an Beziehungen heranzugehen. 
 
Zu erfahren, dass man absichtsvoll und mit System hintergangen, belogen und betrogen wurde, legt einen Schalter um. Werte, an die man glaubte, sind zerbröselt. Vorstellungen die man vom Partner und von sich selbst hatte, sind zerstört. Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und in die eigenen Gefühle ist eine fragwürdige Größe geworden.
Kann ich mir selbst noch vertrauen, wo ich mich so habe täuschen lassen?
Das ist das Schlimmste, bei all dem Schlimmen, was ein Verrat mit uns macht: Selbstzweifel. Uns selbst nicht mehr der vertraute Mensch sein.
Das Selbstbild ist zerbrochen, in tausend Fragmente, die zusammenzufügen eine schier unlösbare Aufgabe zu sein scheint. Das psychische Gleichgewicht kommt ins Wanken, die innere Balance geht verloren. Es kommt zur Identitätsdiffusion, die mit Gefühlen von innerer Fremdheit, Orientierungslosigkeit und Angst einhergeht. Das Jetzt hat sich schlagartig verändert. Die Vergangenheit wird fraglich.
 
Wer war ich und bin das noch ich?
Diese Frage quält.
Wie naiv war ich, wie blind, wie taub?
Habe ich es nicht sehen können oder wollte ich es nicht sehen?
Wie ist das möglich?
Was habe ich falsch gemacht?
Wie konnte er/sie mir diese Illusion vorgaukeln und warum bin ich ihr verfallen?
Diese Fragen, so quälend sie sind, sind sinnvoll um uns selbst zu reflektieren, um uns selbst besser zu verstehen, um uns aus der Rolle des Opfers zu befreien, um Selbstkenntnis zu erlangen über jene inneren Teile, die uns zum Betrogenen gemacht haben, den anderen eingeladen haben, mit einem unbewussten: „Mit mir ist es möglich.“
Diese Fragen sind wichtig um zu genesen, um das fragmentierte Selbst wieder neu zusammenzufügen und um uns selbst zu verzeihen. 
 
Ein Verrat bringt nicht nur den Schatten des Verräters ans Licht, er verweist uns auf die eigenen. Um die dürfen wir uns kümmern.
Der Verräter hat uns nicht mehr zu interessieren.
Und ja, ich weiß wie schwer es ist, auch ich bin verraten worden.
Nachdem all die Wut, der Hass, der Zorn, die Rachegedanken, die sich gegen den Verräter richten, in Schmerz in Trauer verwandelt sind, müssen wir uns uns selbst zuwenden.
Tun wir es nicht, sind wir verloren.
 
Wir müssen und ja, ich sage „müssen“, Schattenarbeit machen.
Wir müssen erkennen, was unser Anteil war, um nie wieder im Abgrund eines Verräters zu landen. Wir müssen es tun, um die Angst vor der Wiederholung zu verlieren, die Angst davor uns neu einzulassen, uns fallen zu lassen, zu vertrauen und wieder zu lieben.
Es gibt Menschen, die so gekonnt manipulieren und lügen, dass wir nicht fähig sind, es zu erkennen. Es gibt sie, die Masken der Niedertracht, es gibt Narzissten, Psychopathen, Soziopathen und notorische Betrüger. Sie sind schwer zu erkennen und schwer zu entlarven, weil sie eine Gabe haben: Sie spüren instinktiv unsere tiefste Sehnsucht, den Riss, durch den sie eindringen. Sie wissen, was sie tun müssen um unser Herz zu erobern und es dann zu brechen. Sie wissen, wie sie alle Schutzmauern einreißen um uns verwundbar zu machen und es zu tun. Sie sind Meister der Manipulation und der Lügen.
Sie sind fantastische, überzeugende Schauspieler. 
 
Und wir spielen mit, die Rolle, die uns zugedacht ist, und wir merken es nicht. Weil wir lieben. Weil Liebe blind macht. Weil wir bedürftig sind nach dieser einen Liebe, die wir niemals hatten. Sie steht vor uns ganz groß, ein Blendwerk und wir sind geblendet.
Es ist möglich. Und es ist sogar möglich, dass wir intuitiv wissen, das ist eine Blendung, aber die Sehnsucht ist größer als die Klarsicht. Sie ist größer als die Vernunft.
Diese Sehnsucht, die endlich erfüllt scheint, ist die Falle, die zuschnappt.
Schmerzvoll am Ende.
Dann, wenn die unzerstörbare Wahrheit erscheint. Die Wahrheit über den anderen und unsere Wahrheit, die so alt ist wie wir selbst. Die wir nicht wahrhaben wollen und jetzt erkennen müssen: Wir sind Abhängige der Liebe. Nur einmal wollen wir geliebt werden um unserer selbst willen. Der Sehnsucht ein Ende bereiten. Ankommen.
 
Wo sind wir angekommen nach dem Verrat?
Im Tiefsten wieder bei uns selbst, bei der Wunde dieses ungeliebten Kindes, das wir schon immer waren und noch immer sind. Wir werden es solange bleiben, bis wir uns selbst geben können, was wir woanders erfolglos suchen.
Erst wenn wir uns Liebe selbst geben können, werden wir Misstrauen in Vertrauen wandeln – in uns selbst. Dann erst können wir dem Richtigen, der Richtigen, unser Vertrauen neu schenken. Wir werden uns selbst nicht mehr verraten und niemand wird uns mehr verraten können.
Wir sind erwacht.
Der Albtraum hat ein Ende. 
 
 
„Du musst etwas in dir entdecken, was nicht außer Balance gebracht werden kann. Nur wenn du etwas in dir entdeckst, was nicht außer Balance gebracht werden kann, dann hast du etwas sehr wertvolles gefunden.“
- Shihengyi

Montag, 8. April 2024

Fatou


                                                                   Foto: A.Wende

 
Ich sitze im Speisewagen des ICE. Ich brauche eine Auszeit. Ich muss mal wieder raus. Raus aus der grauen Enge der Stadt, in der ich lebe. Ich fahre nach Hause. Mein Zuhause ist Berlin, meine kleine Familie, die dort lebt.
Eine alte Dame fragt, ob sie sich zu mir setzen kann.
„Gerne“, antworte ich.
Mit zitternden Händen holt sie ein kleines Heft und einen Stift aus ihrer Tasche, legt beides auf den Tisch. Es ist ein Sodoku Heft. Der Kellner kommt. Die alte Dame bestellt eine Schokolade.
„Wissen Sie“, sagt sie plötzlich zu mir, "ich gehe immer in den Speisewagen. Im Abteil ist es mir zu eng, außerdem sitzt da immer jemand neben mir, der mich mit seinen Geschichten vollquatscht. Das strengt mich an. Sie lächelt. Es ist ein seltsam reduziertes Lächeln. Das Zittern und dieses Lächeln, sie hat Parkinson, denke ich.
"Ich rede nicht viel", sage ich. "Sie können beruhigt sein."
„Das ist gut.“
„Ja, das ist gut“, sage ich. 
 
Sie beginnt ihr Sodoku zu lösen. Ein echtes Sudoku-Rätsel hat nur eine Lösung, die eindeutig durch logische Kombination zu bestimmen ist, denke ich und, dass ich noch nie Sodoku gespielt habe. Ich bin keine Spielerin, außerdem weiß ich, dass es für alles mehrere Lösungen gibt, außer bei Sodoku eben.
Mit zitternden Händen hebt sie ihre Tasse und führt sie langsam an den Mund. Vorsichtig nimmt sie einen Schluck. Ein kleines hellbraunes Rinnsal läuft über ihre Lippen.
Ich sehe weg. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, sie zu beobachten, obgleich ich es tue. Sie rührt mich an. Sie ist mir ähnlich, denke ich, eine einsame Wölfin.
Ich wende mich meinem Tagebuch zu. Schreibe. Meine Art nach Lösungen zu suchen ist Schreiben. Schreiben und reden. Und zuhören. Ich höre den ganzen Tag Menschen zu. Ich würde es der alten Dame gerne sagen und ihr sagen, dass ich es privat genauso wenig mag wie sie, wenn mich fremde Menschen vollquatschen. Ich sage es nicht. Wir haben Schweigen vereinbart. 

„Ich habe Parkinson“, unterbricht sie meine Gedanken.
„Ich weiß“, sage ich, „ich sehe es.“
Sie lächelt mich an.„Sie sehen viel.“
"Ja", sage ich. "Manchmal zu viel."
„Ich habe Parkinson, seit mein Mann vor drei Jahren gestorben ist. Na ja vielleicht hatte ich es schon früher, aber ich hatte keine Zeit es zu bemerken, ich war zu beschäftig damit ihn zu pflegen. Ich habe ihn bis zum Ende gepflegt, das macht man doch, wenn man einen Menschen liebt.“
„Ja“, sage ich, "Sie haben es gemacht, weil sie Ihren Mann lieben."
„Als er dann tot war, bin ich nicht mehr raus. Nur noch um Besorgungen zu machen und zum Arzt. Der hat dann Parkinson festgestellt. Ich komme mittlerweile klar damit und ich gehe wieder raus.“
„Das ist gut“, antworte ich.
„Wissen Sie, eigentlich wollte ich nicht mehr leben nachdem er gestorben ist. Er war mein einziger Mensch. Ich habe niemand in Berlin. Mein Sohn lebt in Franken, da war ich gerade.“
„Warum ziehen sie nicht nach Franken zu Ihrem Sohn, da wären sie nicht mehr allein?"
„Nein, das ist nichts für mich. Berlin ist meine Heimat. Eine einsame Heimat jetzt. Aber hier war mein Leben, mit ihm. Ich muss ja auch auf den Friedhof, ihn besuchen.“
Ich nicke. „Ja, das verstehe ich sehr gut.“
„Wissen Sie, als ich nicht mehr leben wollte, da ist etwas Seltsames passiert. Ich gehe gern in den Zoo, das haben wir immer gemacht, damals als mein Mann noch lebte. Jeden Sonntag sind wir hingegangen. Eine Träne rinnt über ihr schmales Gesicht. Eines Tages bin ich, nachdem ich auf dem Friedhof war, in den Zoo. Da habe ich ihr in die Augen gesehen.“
„Wem haben Sie in die Augen gesehen?“
„Fatou.“
„Fatou?“
„Ja, die alte Gorilla Dame, die dort wohnt. Sie haben sie, weil sie alt und schwach ist, von den anderen getrennt. Sie ist ganz allein in ihrem Gehege. Das machen die, weil die starken Gorillas den Schwachen das Futter wegnehmen.“
„Das wusste ich nicht“, sage ich.
„Das hat mir der Zoowärter erzählt, darum weiß ich das. Ich weiß jetzt viel über Gorillas. Als ich Fatou sah, so abgetrennt und alleine in diesem Gehege und ihre einzige Freude, wenn man ihr das Futter hinschiebt, da hat sie mir schrecklich leid getan. Ich bin ganz lange vor dem Gehege gestanden und plötzlich hat sie mir in die Augen geblickt. Darin lag so eine Traurigkeit.Da passierte es, ich dachte, du bist frei, du bist nicht eingesperrt, du kannst raus.
Du lebst."