Der Selbstwert eines Menschen steigt in der Regel im Laufe des Lebens an. Bei Frauen ist dieses Gefühl für den eigenen Wert allerdings meist niedriger als bei Männern, das ergaben psychologische Studien. Viele Frauen reflektieren die Fragen: "Wer bin ich?" und "Was kann ich?" zu wenig. Sich selbst nicht bewusst wahrzunehmen, nicht zu wissen, wo die eigenen Stärken und Schwächen, die versteckten Potenziale und Fähigkeiten liegen, führt zu einem unausgereiften Selbstkonzept und in der Folge zu einem wenig positiv besetzten Selbstbild.
"In der Regel verbirgt sich hinter der prächtigen äußeren Fassade ein emotional verwahrlostes, verzweifeltes Kind, das nach Anerkennung seiner wahren Identität hungert. Die Entdeckung des "wahren" Selbst ist der Ausgangspunkt der Genesung und erfordert eine geduldige, behutsame Pflege des "inneren Kindes", schreibt die Psychologin Bärbel Wardetzki.
In Gesprächen mit Frauen beobachte auch ich, dass kein oder nur sehr wenig stabiles Selbstwertgefühl vorhanden ist. Viele Frauen zeigen zwar nach Außen eine starke und selbstbewusste Fassade, dahinter versteckt sich jedoch ein unsicheres, verletztes und sich minderwertig fühlendes Mädchen.
Durch Perfektionismus, besondere Leistungen, einen hohen Anspruch an sich selbst und körperliche Attraktivität versuchen diese Frauen einem Idealbild zu entsprechen, welches das Außen ihrer Meinung nach von ihnen erwartet. Über die Zeit hinweg bedeutet das eine unglaubliche Anstrengung. Diese vermeintlich starken Frauen sind durch Kritik und Zurückweisung sehr schnell zu verunsichern. Die Selbsteinschätzung kippt beim kleinsten Angriff unmittelbar von "ich bin stark“ in ein Gefühl von Minderwertigkeit und endet in der Überzeugung nicht wertvoll und nicht liebenswert zu sein. Ein Schwanken zwischen Höhen und Tiefen bestimmt so das Leben.
Die innere Balance ist ebenso fragil wie das äußere Bild, das mit zunehmendem Alter, unverwirklichten Träumen, Zielen und Enttäuschungen in Beziehungen zu bröckeln beginnt. Diesen Frauen gelingt es nur schwer oder kaum, sich über einen längeren Zeitraum gut und lebendig zu fühlen. Die Folgen dieser inneren Disbalance sind u.a. Ängste, Depressionen, Burn Out, Alkoholsucht oder Essstörungen wie Binge-Eating, Bulimie und Anorexie. Die Ursache ist in den meisten Fällen ein fragiles, falsches, in der Kindheit zerstörtes Selbst.
Es ist nicht neu, dass Frauen ihr Licht häufig unter den Scheffel stellen, während sich Männer eher überschätzen. Beide Einstellungen entfernen den Menschen von seiner inneren Realität. Trotz Emanzipation und finanzieller Unabhängigkeit gibt es noch heute intelligente, autonome, erfolgreiche Frauen, die sich dem Dominanzanspruch des Mannes unterwerfen, sobald sie eine Partnerschaft eingehen. Die Mutter, die meist zeitlebens abhängig war und vergeblich nach Anerkennung gedürstet hat, vermittelt und lebt vor: eine gute Frau soll dem Manne dienen. Dies und das Erfüllenwollen notwendig geglaubter erotischer Stimulanz für den Mann, fungieren unbewusst noch heute bei vielen Frauen als Gegenleistung für Versorgung und männlichen Schutz. Durch die verinnerlichten Glaubensätze des vom Patriarchat gewollten kollektiven Bildes von Weiblichkeit befinden sich das weibliche Selbstbewusstsein und die innere Autonomie der Frau in einer bedenklichen Schieflage. Gerade in der Begegnung mit dem Mann wird die vermeintlich starke Frau schwach. Hier leben archetypische Muster auf und führen ihr Eigenleben. Frauen spüren intuitiv, dass sich der Mann nur dann stark fühlen kann, wenn sie sich schwächer zeigen. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Die Erfahrung zeigt zudem, sobald Frauen selbstbewusst auftreten, gefährden sie das Selbstbewusstsein des Mannes. Sie greifen seine Überlegenheitsfantasien an, gelten als unweiblich, zickig, kompliziert, anstrengend oder streitlustig, haben "Haare auf den Zähnen".
Neben allen kollektiven Aspekten und Einflüssen auf das Frausein tragen mangelnde Anerkennung durch den Vater oder die Mutter zu einem weiblichen Selbstkonzept der Wertlosigkeit bei. Ganz zu schweigen von kindlichen Missbrauchserfahrungen, egal ob sexuell oder emotional. In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt; etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner.
Missbrauch zerstört das Gefühl des eigenen Wertes, er ist die Vernichtung des ganzen Seins. Eine derart traumatische Erfahrung führt zu Schuldgefühlen, dem Gefühl "schlecht" und wertlos zu sein, zu Scham und Selbstverachtung. Missbrauch macht Frauen zum lebenslangen Opfer wenn er nicht verarbeitet wird. Diese Opferhaltung drückt sich vor allem in intimen Beziehungen aus und ist ein Nährboden für Probleme in der Partnerschaft. Einerseits ist da die Angst, als Mensch nicht in der eigenen Ganzheit geliebt zu werden, andererseits die Angst, wieder von einem geliebten Menschen benutzt, gedemütigt, verletzt oder verlassen zu werden, was paradoxerweise zum Klammern an den Partner führen kann. Eine Nähe, die sucht, was ihr eigentlich Angst macht.
Besonders Frauen, die sich mit ihrer Biografie nicht auseinandergesetzt haben und immer funktioniert haben, um den äußeren Schein zu wahren und ihre Rolle zu bedienen, suchen in einer Art Wiederholungszwang und der ungestillten kindlichen Sehnsucht nach Akzeptanz, Liebe und Verständnis immer wieder Partner nach dem Schlüssel-Schloss- Prinzip, die das Defizit eines gesunden Selbstwertgefühls noch verstärken. Eine destruktive traumatische Verbindung ist vorprogrammiert.
Für eine Genesung aber ist es entscheidend, gesunde Beziehungen zu erfahren und sich ein liebevolles, anerkennendes und unterstützendes Umfeld bewusst wählen zu können, das einen bestärkt, man selbst zu sein und es sein zu dürfen. Also auch schwach sein zu dürfen, vor sich selbst und anderen.
„Mädchen, ich sage dir steh auf!“
Viele Frauen haben sich jahrelang bereitwillig in den Dienst anderer gestellt. Dann kommt der alles verändernde Moment: Die Kinder sind aus dem Haus, die Ehe oder die Beziehung sind gescheitert, der Job langweilt oder belastet nur noch und der Blick auf die Zeit sagt: Mädchen deine Jahre sind begrenzt. Dann kann es sein, dass sie kommt: Die existentielle Sinnkrise.
Diese Frauen müssten eigentlich stolz auf sich sein, was sie bis in die 50iger Jahre ihres Lebens geleistet haben. Sie sind es aber nicht. Vielmehr fühlen sie sich nicht mehr gebraucht, leer, einsam und orientierungslos weil da niemand mehr ist für den sie da sein können. Sie haben nur noch sich selbst, sie fragen sich: Wer ist dieses Selbst? Und sie wissen nicht, wer sie wirklich sind und wie es weiter gehen soll. Sie wissen oft nicht einmal mehr was ihre Bedürfnisse, Wünsche und Visionen sind, weil sie immer auf andere fokussiert waren und sie umsorgt haben, und wenn sie es wissen, denken sie, dass diese sich nicht mehr erfüllen lassen. „Zu spät“, kommt dann oft und je öfter sie diesen Gedanken denken, desto fester sitzt er im Kopf und verstärkt sich. Sie fühlen sich verbraucht, müde, alt, nicht mehr attraktiv und begehrenswert, nicht liebenswert und uninteressant. Sie fühlen sich haltlos und unsicher und wissen nicht wohin mit sich. Sie haben auf einmal viel Zeit und keine Ahnung, wie sie sie gestalten sollen. Sie haben keinen Plan, wie es weitergehen soll. Die Angst vor der ungewissen Zukunft lähmt. „War das jetzt alles?", "Wofür stehe ich am Morgen auf?", fragen sie sich und tiefe Traurigkeit und Mutlosigkeit erfasst ihr Inneres.
Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Ich kenne die Sorgen und Nöte dieser Frauen, denn viele von ihnen durfte und darf ich begleiten.
Was diese Frauen brauchen ist zunächst eine Inventur.
Einen Rückblick auf das, was sie alles geschafft haben, ein Anerkennen dessen, was sie vollbracht haben und Selbstwürdigung. Eine neue Sicht der Dinge und eine neue Bewertung dessen, was ihr Leben war – eine Kraft gebende.
Es geht es darum, sich Klarheit zu verschaffen.
Dazu gehört auch zu schauen, was aufzuarbeiten ist, und es dann aufzuarbeiten. Dazu gehört: Auszusortieren, was nicht mehr hilfreich ist und zu behalten, was hilfreich und nützlich im Jetzt ist.
„Den Keller ausmisten“, nenne ich das.
Wenn das getan ist, wenn alles an hinderlichen Gedanken, lähmenden Überzeugungen, unheilsamer Realitäts- und Selbstbewertung, belastenden Erfahrungen, Traumata, Verletzungen und Enttäuschungen angeschaut, verarbeitet und integriert ist, geht es um Weichenstellung.
Es geht um eine Weichenstellung, die klar, wahrhaftig selbststärkend und befreiend ist, statt: „Ich sollte, ich müsste…"
Sollen und müssen war lang genug!
Wer bin ich wirklich? Was will ich nicht mehr? Was will ich? Wer und was dient mir zu meinem Besten und wer und was nicht? Was sind meine Werte? Was gibt mir Sinn? Wie will ich mein Leben gestalten, so dass es tiefer, lebendiger, freier und wesentlicher wird? Das sind nur einige Fragen, die neue sinngebende Weichen stellen.
In dem Buch von Anselm Grün mit dem Titel „Finde Deine Lebensspur“ gibt es die Geschichte der kleinen Esther, die ich meinen Klientinnen, die sich in oben beschriebener Lage befinden, gerne zum Lesen ans Herz lege.
Die Geschichte beginnt mit dem Entschluss der kleinen Esther, lieber zu sterben, als weiter in der Welt der Erwachsenen zu leben. Und damit beginnt ihre Heldinnenreise Richtung Freiheit, denn sie ist der Schatz, den sie sucht. Im Laufe der Reise lernt Esther trotz ihrer Angst zu handeln, sie lernt die Leere, den Schmerz und das Alleinsein anzunehmen. Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher und lauter hört sie ihre innere Stimme. Sie beginnt auf sie zu hören und die Kraft ihres Herzens wächst. Sie bewältigt alle Herausforderungen. Bis sie auf den Schwellenhüter trifft, der sich in jeder Heldenreise irgendwann zeigt um zu überprüfen, ob der Held oder die Heldin es wirklich ernst meinen. Er zeigt sich in Gestalt eines Steines, auf dem die Inschrift steht:
„Ich lebe – und ich liebe dich, so wie du bist!“
Esther erstarrt. Sollte das etwa der Schatz sein, den sie sucht, der ihr zu einem freien Leben verhilft?
Sie kann und will es nicht glauben.
Sie ist so enttäuscht, ihr Herz ist so voller Trauer, dass sie zusammenbricht. So viele Jahre war sie unterwegs, hat alle Gefahren überwunden, der Angst getrotzt, der Einsamkeit. Leere und Sehnsucht ausgehalten und jetzt das?
Nur ein Stein mit der Inschrift: „Ich lebe - und ich liebe dich, so wie du bist.
Esther resigniert. Sie ist bereit aufzugeben und zu sterben.
Plötzlich hört sie eine Stimme: „Mädchen, ich sage dir steh auf!“
Nein, sagt Esther: Warum? Wozu? Für wen?
Und die Stimme ruft ein zweites und ein drittes Mal: „Mädchen, ich sage dir steht auf!“
Und beim dritten Ruf kommt Esther eine Kraft entgegen, die sie bis in Innerste ihres Wesens führt. Dorthin, wo sie sich selbst als liebenswert erkennt.
Und Esther steht auf.
Und geht weiter …
Wer um seinen Selbstwert weiß, ist nicht auf die Bestätigung durch andere angewiesen. Er ist autonom und lebt seiner eigenen Wahrheit und seiner Werte entsprechend.
Der Weg zu einem gesunden Selbstwert ist tiefe Selbstreflexion. Ziel des Weges ist Selbstkenntnis, Eigenverantwortung zu übernehmen und sich damit aus der Opferrolle heraus zu bewegen. Dazu gilt es die Ursachen für das mangelnde Selbstwertgefühl zu erforschen und zu analysieren. Dabei ist es hilfreich, sich selbst zu beobachten um Schritt für Schritt alte Verhaltensmuster und unheilsame innere Überzeugungen zu erkennen und zu verändern.
Der Weg zum eigenen Selbstbewusstsein hat immer auch einen philosophisch-spirituellen Aspekt. Es geht darum, sich seiner Selbst bewusst zu werden, sich selbst mit allen inneren Anteilen kennen zu lernen und sich anzunehmen, mit der eigenen Biografie, die uns zu der Frau macht, die wir sind. Es geht um Selbstakzeptanz, Identität und um Authentizität, was nichts anderes bedeutet als dass Denken, Fühlen und Handeln übereinstimmen. Es geht auch darum, die Maske abzulegen, dem Schmerz, der Angst und der Schwäche zu begegnen und mitfühlend anzunehmen. Es geht darum ja zu sich selbst zu sagen. Es geht um das Spüren der eigenen Kraft und Würde.
An dieser Stelle möchte ich alle Frauen ehren.
Möget Ihr Euch selbst wertschätzen.
Möget ihr gut zu Euch sein.
Möget Ihr Euch selbst die beste Freundin sein.
Möget Ihr Euch eurer Kraft und Stärke bewusst sein.
Möget Ihr leben und euch lieben so wie ihr seid.
Möget Ihr mutig aufbrechen zu Eurer Heldinnenreise.
„Die beste Erde, um etwas zu säen und etwas Neues wachsen zu lassen, ist ganz unten. In diesem Sinne bedeutet es, den Nährboden zu erreichen, wenn wir am Boden liegen, auch wenn das sehr schmerzhaft ist.“
- Clarissa Pinkola Estés, Die Wolfsfrau