Mittwoch, 29. November 2023

Stille

 



Wenn ich früh am Morgen um halb sechs aufstehe ist es still. Nichts, kein Laut, kein Geräusch bis auf das Ticken der Wanduhr im Zimmer. Tick, Tack, im immer gleichen Rhythmus, erinnert sie mich an das Vergehen der Zeit und an meine Endlichkeit. Und zugleich sagt sie mir: Nutze den Tag. Jeder Tag ist kostbar. Jeder Tag ist ein Tag Leben. Jeder Tag ist eine Möglichkeit und ein Geschenk. Wenn ich das Fenster öffne ist es still, keine Vogelstimmen, kein Straßenlärm, ein stiller lautloser Morgen. Ein Morgen, der mir allein mir gehört. Ich lebe, wie schön, ich atme, wie schön. Ich trinke ein Glas warmes Ingwerwasser, mache mir einen Kaffee, setze mich an den Schreibtisch und lasse meine Gedanken fließen. Ich genieße diese ersten stillen Stunden des Tages.
Stille ist Lärmlosigkeit.
In der Stille begegne ich mir jeden Morgen selbst, spüre nach wie ich mich fühle. In der Stille des Morgens bin ich ganz bei mir. Nichts lenkt mich ab, nichts stört meine Kreise, niemand will etwas von mir. Da bin nur ich und meine eigene Gesellschaft. Und es ist gut und ruhig und still. Es gab eine Zeit, da habe ich das nicht so empfunden. Da war es mir zu still im ZImmer, da war diese Leere, und in der Leere eine diffuse Angst, ein Gefühl von Verlassenheit, ein bedrohliches auf mich selbst Zurückgeworfensein. Ich fühlte mich verlassen wie ein mutterloses Kind. Kein Halt, ein Gefühl von Trudeln im leeren Raum, das eine leise Verzweiflung und eine tiefe Trauer in sich trug. Die Stille war mir unerträglich. Warum ist da niemand? Warum muss ich das aushalten? Warum bin ich allein? Warum habe ich den Menschen verloren, den ich so sehr liebe? Was habe ich getan oder nicht getan? Was hätte sein können, wenn …? Endlose anstrengende Gedanken, die sich in der Stille aufblähten, keine Antworten fanden, sich wie kleine Hamster im Kopf drehten und kein Entkommen aus dem Hamsterrad. Und viel Schmerz und Trauer um das verlorene Glück. Es war kein guter Morgen. Statt beruhigende Stille war gruseliger Lärm in meinem Kopf. Nach und nach habe ich gelernt die Stille auszuhalten. Langsam, ganz langsam, habe ich gelernt meine Gedanken zu beobachten, sie vorüberziehen zu lassen, ohne ihnen all den Mist zu glauben, den sie mir einsagen wollen über mich. Ich habe gelernt meine ängstlichen Gedanken zu besänftigen und mein Gefühl von Leere zu füllen – mit mir selbst. Ich habe gelernt mich selbst auszuhalten, mit allem, was mich ausmacht, mehr noch, ich habe gelernt mich in meiner eigenen Gesellschaft wohl und sicher zu fühlen. Es war keine leichte Übung, es hat gedauert, es brauchte Mut und Geduld, aber es hat sich gelohnt. Heute liebe ich die Stille. 
 
In der Stille zu sein ist für die meisten Menschen nicht leicht. 
Viele meiner KlientInnen sagen, dass die Stille sie beängstigt und unruhig macht, dass sie Musik anmachen, den Fernseher anschalten, etwas tun müssen, sich beschäftigen müssen, raus müssen, weil sie es nicht aushalten in der Stille mit sich selbst und ihren Gedanken.
Gedanken können beängstigend sein, sie können anstrengend sein, sie können uns in Gefilde führen, die sich wie die Hölle anfühlen. Mit sich selbst, den eigenen Gedanken, Sehnsüchten und Ängsten konfrontiert zu sein kann verdammt bedrohlich sein. Unsere Dämonen gesellen sich in den stillen Stunden gerne zu uns. In der Stille finden sie Raum, werden gehört, gefühlt, endlich dürfen sie da sein. All das Verdrängte will da sein. Und wir wollen es weghaben. Ganz schnell soll das weggehen, was wir nicht fühlen, nicht hören, nicht sehen wollen. Wir kämpfen dagegen an. Im Lärm des Alltags obsiegen wir oft, das Laute übertönt was da an Unliebsamem in uns haust. Wir leben in einer lauten Umwelt, die immer lauter wird, auf dass wir nicht in uns hineinhören. Aber: Wer laut argumentiert, hat nicht immer die besten Argumente. In der Stille verlieren wir diesen Kampf, wenn sie nur lange genug anhält. Das ist gut so. Denn genau dazu ist sie da. 
 
Die Stille ist nicht gegen uns, sondern für uns, damit wir all dem, was da im Lärm des Alltags untergeht, endlich gegenübertreten, hinhören und uns uns selbst stellen. Dem, der wir sind, dem, der wir nicht sind und dem, der wir auch sind. Nur so werden wir überhaupt herausfinden wer wir im Ganzen sind. In der Stille machen wir uns mit uns selbst vertraut. Wir kommen uns näher, ganz nah. Die Stille wird zum zentralen Punkt der Selbsterkenntnis. Wir kommen uns nah wie einem Fremden, den wir uns vertraut machen, mit Neugier und Wohlwollen, mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, mit Zuneigung und Wertschätzung, so wie wir es einem Fremden gegenüber tun würden, der uns interessiert.
Stille ist auch der zentrale Punkt für Veränderung.
Nur wenn wir uns selbst in der Stille so weit als möglich erkannt haben, wissen wir was wir nicht mehr wollen und was wir wollen. Wir finden Klarheit über den Menschen mit dem wir da gerade alleine im Zimmer sitzen. Diese Klarheit ist die Vorrausetzung um der zu werden, der wir sein wollen, um unser Leben zu gestalten, auf das es das Unsere ist, egal was andere denken, meinen und glauben. Wir werden uns unserer selbst bewusst. Das ist die Kraft, die wir aus der Stille schöpfen: Selbst-Bewusstsein und ja, auch Selbstfreundschaft. Am Ende ist diese Freundschaft mit uns selbst die einzige sichere Stabile im Leben. Alles kann uns verlassen, nur wir selbst dürfen uns nicht verlassen, denn dann sind wir wirklich verlassen. 
 
„Die größten Ereignisse in unserem Leben – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.“
Friedrich Nietzsche

Dienstag, 28. November 2023

Work in Progess : Takotsubo / Heartbreak

 

"The heart breaks and breaks
and lives by breaking
It is necessary to go
through dark and deeper dark
and not to turn."
 

 

Stanley Kunitz, The Testing-Tree

 

 

 








Namensgeber des sogenannten „Takotsubo“-Syndroms ist eine traditionelle, japanische Tintenfischfalle in Form eines ausgebuchteten Tonkruges mit verengtem Hals

 Sie erinnerte die Ärzte an das typische Bild des Herzens bei dieser Krankheit: Eine Bewegungsstörung und eine ballonartige Aufweitung der linken Herzkammer .

Takotsubo-Kardiomyopathie: Wenn Stress das Herz aus dem Takt bringt. 

Atemnot, Brustenge und Schmerzen im Oberkörper.

Die Symptome der Takotsubo-Kardiomyopathie, auch Stress-Kardiomyopathie oder „Broken Heart-Syndrom“ genannt, gleichen denen eines Herzinfarkts.

Montag, 27. November 2023

Trauer

 

                                                               Malerei: A.Wende

In der Trauer lebst du zwei Leben.
Das eine in dem du tust was wichtig ist um deinen Alltag zu leben.
Das andere in dem du deine Trauer zulässt um weiter zu leben.
Trauer braucht Zeit und Geduld.
Trauer kommt in Wellen.
Manche überwältigen dich, manche wiegen dich sanft in der liebevollen Erinnerung an das Verlorene.
Manchmal ist der Schmerz so stark wie körperlicher Schmerz, der dich zerreisst.
Manchmal weinst du leise Tränen, die dich trösten und beruhigen.
Manchmal möchtest du schreien.
Manchmal möchtest du für immer schweigen.
Manchmal möchtest du nicht mehr hier sein, damit der Schmerz endlich aufhört.
Manchmal erinnert dich das Lachen eines Kindes an die Schönheit und die Kostbarkeit des Lebens.
Und du spürst, tief in deinem Herzen die Gnade der Liebe.
Das Leben ist da, auch wenn du deine Liebe verloren hast.
Es ist okay, dich verloren zu fühlen.
Es ist okay Tage voller Schmerz zu haben, an denen die Welt leer und grau erscheint.
Es ist okay, dir Hilfe zu holen.
Es geht nicht darum, weiterzumachen wie vor dem Verlust, es geht darum voranzukommen.
Jeder Schritt, den du gehst, ist ein Akt der Liebe zum Leben selbst, die du in dir trägst.

Sonntag, 26. November 2023

Das Ganze und seine Einzelteile

 

                                                           Malerei: Angelika Wende


Der Mensch ist ein soziales Wesen, das heißt nicht nur, dass wir ein soziales Umfeld und soziale Kontakte brauchen und haben, das heißt ebenso, dass das soziale Umfeld in dem wir leben uns stark beeinflusst. Viele Probleme mit denen Menschen zu kämpfen haben resultieren aus dem Umfeld in dem sie leben. Sie hängen sehr oft auch mit sozialen Umbrüchen zusammen.
Die Coronakrise, Kriege, Flüchtlingsflut, Klimakrise, radikale Veränderungen in der Arbeitswelt, hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, steigende Inflationsrate, die Medien mit ihrer Informationsflut, der Verlust sozialer Bindungen, das Auflösen haltgebender familiärer Beziehungen, eine hohe Scheidungsrate, zunehmende Vereinzelung, Altersarmut, Kinderarmut, Zukunftsangst und vieles mehr beeinflussen nicht nur die Gesellschaft sondern jeden Einzelnen von uns, der in dieser Gesellschaft lebt.
Die Folgen des gesellschaftlichen Wandels, der sich seit Beginn der Coroankrise vollzieht sind unübersehbar: Wir haben eine steigende Zunahme von psychischen Störungen, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, Verhaltensstörungen (besonders bei Kindern und Jugendlichen) Anpassungsstörungen, Angststörungen und affektive Störungen zu denen Depressionen zählen.
Die Stapelkrisen und der Wandel, der sich immer schneller vollzieht und immer herausfordernder wird, verlangt vom Einzelnen eine hohe Anpassungsleistung. Dies führt zu großen persönlichen Herausforderungen. Immer mehr Menschen aber schaffen die Anpassung nicht mehr. Sie sind emotional überfordert. 
 
Die Gesellschaft krankt und erzeugt in Folge Krankheit beim Individuum. 
So sind heute psychische Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Jeder Vierte ist häufig gestresst. Hauptbelastungen sind die Arbeit, Selbstansprüche und die Angst um Angehörige. Das zeigt die Stressstudie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2021. Laut der Studie leidet ein Großteil der Menschen unter Erschöpfung (80 Prozent), Schlafstörungen (52 Prozent), Kopfschmerzen und Migräne (40 Prozent), Niedergeschlagenheit bzw. Depressionen (34 Prozent).
 
Die Psyche vieler Menschen streikt.
Eigentlich eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde Umwelt. Aber hilft uns das weiter?
Und wo führt das hin?
Wie wollen so viele psychisch angeschlagene Menschen eine kranke Gesellschaft gesunden lassen? Wie sollen in einem derart ungesunden Kollektiv gesunde Kinder aufwachsen, sich entwickeln und entfalten? Wie sieht die Zukunft einer Gesellschaft aus, die krankt ?
Ich will mir das gar nicht ausmalen. 
 
Viele Menschen gehen in Therapie, falls sie denn das Glück haben einen Therapieplatz finden, um seelisch zu gesunden oder ihre Probleme zu lösen. Es ist jedoch ein Mythos zu glauben, man brauche nur eine Therapie oder ein Coaching um sein Leben zu verbessern. Bessern sich die äußeren Umstände nicht oder ist das soziale Umfeld ungesund, ist beides nicht von Erfolg gekrönt.
Daher ist wichtig, außer dem Klienten selbst, auch die Lebensumstände zu erkennen, die hinter seinen Problemen liegen und diese aufrechterhalten. 
 
Nun kann man natürlich nicht die ganze Gesellschaft als Einzelner ändern, aber man kann sich als Einzelner bewusst machen, was die Seele zusätzlich krank macht und es ändern.
Je mehr Einzelne das tun, desto größer die Wirkung auf das Ganze.
So hilft es z.B. überhaupt nicht, wenn ein co-abhängiger Mensch in die Therapie geht und nach den Sitzungen zuhause täglich Kontakt mit seinem alkoholkranken Partner hat. Es hilft nichts, wenn einer an der Beziehung arbeitet und der andere nichts tut. Es hilft nichts, wenn man Tag für Tag einen Job macht, der ausbrennt und man einmal pro Woche in Therapie geht um den Stress besser aushalten zu können. Es hilft nichts, wenn ein Kind, das unter Zwängen leidet, therapiert wird und das Familiensystem nicht mitbehandelt wird.
Wir müssen umdenken, wenn wir mit Menschen arbeiten, wir müssen uns ein Bild von ihren Lebensbedingungen machen und das Problem nicht allein im Einzelnen suchen, sondern auch den Kontext beleuchten in dem ein Mensch lebt um das ganze System zu begreifen, um zu erfassen, was, außer der eigenen Psyche, Probleme macht und vor allem – was diese Probleme weiter aufrecht hält und füttert. 
 
Was kann der Einzelne tun?
Beobachten, sich selbst und sein nahes Umfeld.
Genau hinschauen und identifizieren, was da an Unheilsamen vom Außen auf das Eigene wirkt, wie stark es destruktiv wirkt, wie sehr es dem eigenen Seelenheil schadet und es ernst nehmen und zu lösen versuchen, oder Abstand nehmen, oder sein lassen oder loslassen.
Hört sich einfach und radikal an, ich weiß, aber bisweilen ist die Wahrheit einfach und radikal. Auch wenn es eine große Herausforderung ist sie zu akzeptieren und danach zu handeln. Hier ist jeder von uns gefragt: Was kann ich Heilsames tun?
Für mich selbst und die Gemeinschaft. 
 
 
“When a flower doesn't bloom, you fix the environment in which it grows, not the flower.”
Alexander Den Heijer


Samstag, 25. November 2023

Das Rätsel des Unbewussten und die Idee der Erleuchtung


 

Was ist Bewusstsein?
Das Lexikon für Psychologie beschreibt Bewusstsein als das Erleben mentaler Zustände und Prozesse. Darüber hinaus kann Bewusstsein als ein Zustand verstanden werden, in dem man sich einer Sache bewusst ist und somit über entsprechendes Wissen verfügt.

Sigmund Freud unterteilte das Bewusstsein in drei Ebenen: in bewusste, vorbewusste und unbewusste Anteile der Persönlichkeit, die er als ES – ICH – ÜBER-ICH bezeichnete, und die alle Einfluss auf unser Verhalten haben.
C.G. Jung schuf ein anderes Konzept.
Nach Jung beinhaltet die Seele ein Unbewusstes, das sich in ein persönliches und ein kollektives Unbewusstes aufteilt. Mit anderen Worten: in jedem persönlichen Unbewussten ist auch ein kollektives Unbewusstes enthalten, was bedeutet, alle Erfahrungen des Kollektivs in dem wir leben, sind darin gespeichert, aber uns nicht bewusst.
Folgt man Jung sind Bewusstsein und Unbewusstes durchlässig. Was bedeutet: Inhalte können uns zu einem Zeitpunkt bewusst sein, zu einem anderen Zeitpunkt können sie wieder im Unbewussten versinken. Beides Konzepte zweier großen Geister, die diese aus ihren Praxiserfahrungen mit vielen Menschen erschaffen habe und an denen wir uns in der analytischen Psychologie noch heute orientieren.

Das Unterbewusstsein ist Versunkenes in einem ein tiefen, tiefes Meer und es ist tricky. Weil es eine immense Macht hat. Kaum glauben wir uns über etwas bewusst zu sein, schwappt das Unterbewusste wie ein Welle darüber und boykottiert unser bewusstes Wissen. Und wir sind wieder im Autopiloten. Wir wissen zwar, aber es funktioniert nicht, was wir wissen.
Das zeigt: Die Macht des Unbewussten ist immens und widerstrebt beharrlich dirigistischen Eingriffen.

Ja, hört das denn niemals auf?
Wie oft, wie intensiv muss man sich etwas bewusst machen um das Unterbewusste in die Schranken zu weisen?
Oft, sehr oft, ein Leben lang, ist meine Erfahrung. Klingt nicht sonderlich motivierend und vor allem anstrengend. Das Gewahrsein wer gerade das Ruder in unserer Psyche übernimmt ist Training. Klingt jetzt banal ist aber so. Nur das Gewahrsein unserer Ganzheit und das hinreichende Bewusstsein über die verborgenen Anteile unserer Psyche können letztlich dazu führen, dass wir irgendwann einmal die Oberaufsicht über das eigene Seelenerleben haben und dem Unterbewussten nicht mehr ganzlich hilflos ausgeleifert sind.

Mir meiner Selbst bewusst sein, zu erkennen wann ich bewusst oder unbewusst reagiere, ist schwere Arbeit und wie gesagt lebenslanger Prozess. Nur als kleiner HInweis: Je unmittelbarer ich auf etwas reagiere, desto unbewusster bin ich. Je leichter man mich triggern kann, desto mächtiger ist mein Unbewusstes.

Und dann kommt ja auch noch, glauben wir Jung, das kollektive Unterbewusste dazu, das mitspielt. Und das lässt sich kaum greifen und identifizieren.
Was mir das zeigt? Reines Bewusstsein, im Sinne von - alles in uns selbst begreifen, uns allem gewahr zu sein, ist eine schöne Idee, aber für uns Normalsterbliche wird das wohl eine Idee bleiben.

Manche wollen aus der schönen Idee eine Realität machen und streben nach Erleuchtung mit dem Ziel das eigene, fragmentierte in Teile gespaltene Ich aufzugeben und reines höheres Selbst zu sein – ein Selbst das nur noch IST, reines Bewusstsein, das an nichts anhaftet, sich von nichts beeinflussen lässt, sich in nichts verliert und mit allem Eins ist.

Das trennende Verhältnis im eigenen Mikrokosmos und das trennende Verhältnis im Mikro-/Makrokosmos wird hier abgeschafft. In der Erleuchtung löst sich alles auf um sich miteinander zu verbinden. Es gibt kein kein Ich, kein Du, kein Außen, keine Trennung mehr. Ich, Du, Außen alles ist eins. Ein Zustand ohne jede Dualität. Keine Zweifel, keine Fragen. Alles ergibt Sinn wie es ist. Das Selbst ist alles und beinhaltet alles. Erlösende geistige Unbefangenheit und vollständige Befreiung vom Denken. Ob man diesen Zustand für erstrebenswert hält sei jedem selbst belassen.
Die Frage aber ist: Kann das überhaupt gelingen?
Ganz sein im großen Ganzen, wenn der Mensch nicht einmal in sich selbst ganz ist? Eins sein mit allem, wenn der Mensch nicht einmal mit sich selbst eins ist?
Wenn er voll von Ambivalenzen, persönlichem und kollektiven Unbewussten ist, wenn er nicht einmal das volle Bewusstsein über die fragmentierten inneren Anteile erlangt, wenn er das ins Unbewusste Verdrängte niemals in Gänze begreift und erreicht, trotz jahrelanger Bewusstseinsarbeit?
Ich wage es zu bezweifeln.

Ganz einfach deshalb: Das Gewahrwerden der eigenen Vollständigkeit und das Bewusstmachen der verborgenen Anteile der eigenen Seele ist an sich schon ein lebenslanger Prozess, der unendlich viel Selbstreflexion, Analyse und Selbsterkenntnis bedarf und Übung, was den meisten von uns nicht gelingt. Wie kann ein gespaltenes Ich, welches die eigene Ganzheit nicht erlangt hat, zur reinen Existenz, zum bloßen Sein werden, das losgelöst von allen Identifikationen, ohne Bewertung wahrnimmt, an nichts anhaftet und von nichts beeinflussbar ist ein reines Bewusstsein sein, wo das Unbewusste einen so machtvollen Einfluss hat, dass diesen vollends bewusst zu machen, ein Ding der Unmöglichkeit ist?
Dazu müsste man jede Erinnerung, jede Erfahrung, alles was Identität ausmacht (individuell und kollektiv), alles an Informationen, die in jeder Zelle unseres Körpers seit Anbeginn unserer Existenz gespeichert sind, auslöschen.
Oder habe ich da etwas nicht richtig verstanden? Wie dem auch sei, das Rätsel des Unbewussten bleibt für mich ein Rätsel. Wie gesagt: Das Unbewusste ist tricky, so tricky, dass es uns sogar Erleuchtung vorgaukeln kann.
Die Suche geht weiter ...

Dienstag, 21. November 2023

Scheitern

 



Wir alle scheitern irgendwann, an irgendetwas. Scheitern gehört zum Leben. Egal woran und wie wir scheitern, aus welchen Gründen auch immer - wir haben die Wahl, wie wir das Scheitern erleben wollen und welche Bedeutung wir ihm geben.
Manchmal ist Scheitern sogar notwendig um die Verengungen unseres Horizonts und unsere Wahrnehmungsblockaden gegenüber uns selbst und dem Leben, das wir führen, aufzulösen. Manchmal brauchen wir Niederlagen um kontinuierlich sich aufdrängende Täuschungen zu entlarven. Manchmal brauchen wir Niederlagen um Lektionen zu lernen, denen wir uns lange beharrlich widersetzt haben. Manchmal brauchen wir Scheitern als Weckruf, der uns aus dem Tiefschlaf der Illusion reißt.
 
Die Enttäuschung, die sich nach dem Scheitern einstellt, ist nichts anderes als das Ende der Täuschung. Sie macht die Wahrheit sichtbar um die wir uns meist lange Zeit selbst betrogen haben.
In der Analyse des Scheiterns, dem Herausfinden von Ursachen, Bedingungen und Wechselwirkungen zeigt sich, dass Fehlschläge zum einen mit uns selbst, zum anderen aber auch mit anderem und mit anderen, zu tun haben. Wir scheitern niemals allein an uns selbst oder durch uns selbst, sondern immer sind Bedingungskonstellationen und der Kontext in dem wir leben, mitbeteiligt. Es ist alles miteinander verbunden, alles in Beziehung, auch wenn wir das so nicht sehen wollen. Wir sind keine Insel, auch wenn wir uns so fühlen mögen. Innen und Außen - zwischen Innen und Außen - sind wir. Eins beeinflusst das andere wechselseitig. 
 
Scheitern ist eine Zäsur, die uns zur Bestandsaufnahme aufruft und gleichzeitig die Chance für Wachstum.
Wachstum schmerzt. Wachstumsschmerzen mögen wir nicht, weil sie weh tun. Scheitern tut weh, daran wachsen tut weh. Das Weh vermeiden wollen tut mehr weh. Scheitern gelingt besser wenn wir akzeptieren was ist, den Widerstand aufgeben und uns verabschieden vom Gewesenen. Dazu gehört auch die Trauer um das Verlorene zulassen.
Warum ist das so schwer? Warum wollen wir nicht begreifen, dass das ganze Leben dem Wandel unterworfen ist?
Weil wir so viel wollen, behalten wollen, besitzen wollen, bewahren wollen, selbst wenn es längst nicht mehr zu uns gehört oder uns gar schadet.
Zu viel Wollen macht unfrei, verstrickt, lässt anhaften, ist Gefangensein statt Freisein.
Und wir bleiben hängen, trotz des Wissens um diese unumstößlichen Tatsachen, klammern wie Ertrinkende am Status Quo. Alles Wissen hilft uns nichts, gefühlt wollen wir Beständigkeit und Sicherheit. Wir wollen das Unmögliche, setzen unser Wollen gegen die Natur der Dinge, zu der Auflösung gehört und Wandel. Anfang und Ende, Werden und Vergehen, ein ewiger Kreislauf, im Großen wie im Kleinen. Scheitern anerkennen bedeutet den Wandel anerkennen und in der Folge Wandlungswille im Bewusstsein, dass jedes Scheitern ein potentielles Werden und Sein in sich birgt.

Montag, 20. November 2023

Affirmieren: Risiken und Nebenwirkungen

 



Dein Leben läuft nicht so wie du es gerne hättest?
Dann musst du nur positiv affirmieren!
Du möchtest dein wahres Selbst finden, den Traumjob, den Seelenpartner, mehr Liebe, Licht und Leichtigkeit?
Dann musst du nur positiv affirmieren! 
 
Die verkaufsträchtige Illusion des „Du bist der Schöpfer deiner Realtität! Wünsch es dir und dein Wunsch wird wahr!" hat sich in der spirituellen Szene längst wie ein Virus verbreitet.
Instagram & Co machen es möglich. Dort präsentieren sich dauerlächelnde, glückliche, vom Leben reich beschenkte Coaches, die ein erleuchtetes Luxusleben führen und behaupten, dass jeder das haben kann, komme er denn in seine Schöpferkraft. Es kommt nur darauf an intensiv zu wünschen, zu affirmieren, zu manifestieren und fest daran zu glauben.
 
Aber was, wenn du affirmierst und affirmierst und es trotzdem nicht klappt?
Tja, dann stimmt dein Mindset nicht! Dann ist dein Glaube nicht stark genug. Dann bist du nicht mit dem Universum verbunden und hast deine innere Göttlichkeit noch nicht gespürt.
Im Klartext heißt das: Wenn es nicht funktioniert bist du selbst schuld, dann machst du definitiv etwas falsch!
Wahr ist: Solche Behauptungen sind falsch. Und nicht du. 
 
In der spirituellen Szene sind positive Affirmationen als Allheilmittel für alle Probleme sehr beliebt. Man kann sogar für teures Geld Kurse kaufen um das Affirmieren zu lernen, sich die Affirmationen allein oder in der Gruppe mehrfach reinziehen, sie täglich im Stillen nachsprechen und auf ihre Erfüllung warten, die – so das Versprechen - garantiert kommt, wenn man es denn richtig macht. Dann gelingt wie durch Zauberhand alles. Dein Leben wird mega, du wirst der machtvolle Schöpfer deines Seins, du bist Licht und Liebe usw.
Wer´s glaubt wird selig. 
 
Fakt ist: Affirmationen helfen den wenigsten Menschen in ihrem Leben nachhaltig etwas zum Besseren zu wenden, geschweige denn ihre Psyche zu heilen.
Aus einem einfachen Grund: Positives Affirmieren ist in etwa so, als würde man einen Teppich über einen schmutzigen Boden legen. Dann sieht man zwar den Dreck nicht mehr, aber er ist immer noch da. Wenn wir affirmieren ohne den Boden sauber gemacht zu haben, betrügen wir uns selbst.  Was in unserem Unterbewusstsein haust, was wir nicht gelöst haben, lässt sich nicht wegaffirmieren. Auch unsere tiefen inneren Überzeugungen und Glaubensmuster, unsere Erfahrungen, unsere Traumata, unsere Gefühle lassen sich nicht wegaffirmieren.
Warum?
Das, was wir positiv affirmieren passt in den meisten Fällen nicht zusammen mit dem, was an Negativem da ist. Wir reden gegen uns selbst an und zwar gegen unser inneres Empfinden.  
Dies führt zu einem inneren Konflikt. Die Psyche gerät in Schieflage. Die Realität der Psyche lässt sich nicht austricksen. Sie geht in den Widerstand. Sie erhebt ihre Stimme gegen das, was wir ihr voraffimieren und fühlt sich nicht ernst genommen. Sie rebelliert gegen die Gaukelei und sagt: Das fühlt sich nicht gut an und richtig schon gar nicht. Die Seifenblase Selbstbetrug zerplatzt an der Realität.
Was wir im Tiefsten nicht glauben, wird nicht wahr, egal wie oft wir uns etwas suggerieren.
Affirmieren ist nichts weiter als der Versuch dem, was zu lösen ist und zwar durch intensive Arbeit an uns selbst, auszuweichen und eine Abkürzung zu nehmen, die nur weiter auf den Holzweg führt. Autosuggestionen können nur dann funktionieren, wenn es keine inneren Hemmnisse gibt, die eine positive Wirkung verhindern.
In einer Studie, die 2009 an der University of Waterloo in Kanada durchgeführt wurde, untersuchte man die Wirkung positiver Affirmationen auf Menschen mit dem Ergebnis, dass sie für die wenigsten Teilnehmer etwas Positives bewirkten. Fazit der leitendenden Wissenschaftlerin Joanne Wood, Professorin für Psychologie: „Es scheint, dass positive Selbstaussagen trotz ihrer weit verbreiteten Anerkennung für Menschen, die sie am meisten brauchen, nach hinten losgehen.“
 
Wenn wir etwas in unserem Leben verändern oder etwas erreichen wollen, müssen wir uns dem bewusst zuwenden und es eben nicht einfach nur weg haben wollen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen. Und das ist ein Prozess. Es hilft absolut nichts eine Makulatur drüber zu kippen, die nur dazu führt, dass die Verdrängung weiter aufrechterhalten wird.
 
Affirmieren als Heilmittelchen kann zudem unheilsame Nebenwirkungen haben. Wenn es nicht klappt, fühlen wir uns schlecht. Wir erleben neuen Frust, neue Enttäuschung, wieder das Gefühl nichts auf die Reihe zu kriegen, wieder negative Gedanken - unserer negatives Selbstbild und unser Selbstwertgefühl gehen weiter in den Keller. Anstatt uns zu stärken kann Affirmieren ins Gegenteil umschlagen: Zur Stärkung der negativen Selbstwahrnehmung.

Samstag, 18. November 2023

Hindernisse

 

                                                          Art Work: Rolf Puschnig

 
Wenn wir verstrickt sind und uns nicht lösen können, sehen wir oft die Gründe und Hindernisse im Außen.
Weil das so und so ist, geht es nicht, weil der, die so und so ist, geht es mir nicht gut, weil mir dies passiert ist, kann ich nicht, und, und, und …
Und wir bleiben in der Verstrickung.
Um die Verstrickung zu lösen ist der Blick auf Hindernisse im Außen nicht hilfreich. Auf diese Weise legen wir den Focus auf das scheinbar Unveränderbare und alles, dem wir Aufmerksamkeit schenken, wächst bekanntlich.
Das Hindernis wird immer größer und wir immer kleiner.
Wenn wir verstrickt sind und keine Möglichkeit sehen etwas zu verändern, ist es hilfreich uns zu fragen: Welches Hindernis ist in mir selbst?
Wenn wir dieses Hindernis erkennen, erkennen wir Möglichkeiten, die wir zuvor nicht sehen konnten.

Dienstag, 14. November 2023

Im Glashaus der Einsamkeit

 



Warum schaffen es manche Menschen nicht das Glashaus der Einsamkeit zu verlassen?
Unter anderem aus folgenden Gründen …
 
Selbstschutz
Manche Betroffene finden eine paradoxe Befriedigung in der Einsamkeit. Die Einsamkeit erlaubt ihnen, trotz des Schmerzes, den sie mit sich bringt, eine selbstschützende Isolation fortzusetzen. Oft hat die Erfahrung von Verrat, Zurückweisung, Demütigung und Enttäuschung in diesen Zustand geführt – einen Zustand, in dem sich der Einsame in seinem selbstgewählten Glashaus vor neuen Verletzungen schützt. Das Glashaus, so einsam es drinnen ist, bietet Schutz.
 
Scham
Einsamkeit ist noch immer für viele Menschen ein Tabuthema. Wer einsam ist, mit dem muss etwas nicht stimmen, ist die landläufige Annahme. Für Betroffene ist Einsamkeit nicht zuletzt deshalb eine schambesetzte Erfahrung. Einsam zu sein ist so entgegengesetzt zu dem Leben, das wir als soziale Wesen leben sollten. Sich selbst einzugestehen zu niemanden, zu keiner Gruppe zu gehören, führt zu Schamgefühlen. Diese wiederum führen dazu, dass man am liebsten „im Erdboden versinken“ würde, heißt: nicht mehr gesehen werden will. Der Einsame verbirgt sich um die Scham zu verbergen vor sich selbst und anderen, wodurch er sich zunehmend isoliert und zunehmend entfremdet wird. Je länger die Einsamkeit dauert, desto schwerer fällt es aus sich herauszugehen und über diesen Tabustatus zu sprechen, aus Angst, das Bekenntnis könnte andere in die Flucht schlagen. 
 
Sicherheitszone
Tatsächlich ist das Verlassen der Einsamkeit etwas, das nicht durch pure Willenskraft oder einfach dadurch erreicht werden kann, dass man mehr rausgeht und sich unter Menschen mischt. Rausgehen ohne ein Ziel, ohne in zwischenmenschlichen Kontakt gehen zu können, weil da ja niemand ist, kann das Gefühl des einsam seins sogar noch verstärken. Man ist einsam unter Fremden. Man gehört nicht dazu. Man ist ein Solitär mitten unter all denen, die eine Gemeinschaft bilden. Verloren. Man ist anders als die anderen. Da wir alle dazugehören wollen ist dieses Empfinden ein sehr schmerzhaftes Gefühl, das abgewehrt werden muss. Drinnen lässt sich die Einsamkeit besser ertragen als im Außen, wo man direkt und unmittelbar, im Spiegel der Gemeinschaft, als Einzelwesen gesehen und konfrontiert wird. Drinnen ist es sicherer.
 
Kontrolle
Einsamkeit wird nur durch die Entwicklung intimer Beziehungen überwunden, die uns das Gefühl der Verbundenheit geben. Verbundenheit herstellen gelingt aber nicht durchs bloße Rausgehen.
Verbundenheit herstellen ist viel leichter gesagt als getan, besonders für Menschen deren Einsamkeit aus dem Zustand eines schmerzhaften Verlustes oder einer schmerzhaften zwischenmenschlichen Erfahrung resultiert. Jene Auslöser für den Rückzug in die Einsamkeit geben Grund zur Angst vor Nähe und/oder zum Misstrauen gegenüber der Nähe anderer.
Das Vertrauen ist verloren. Da ist mehr Angst erneut verletzt zu werden als sich durch die Einsamkeit selbst zu verletzen. Denn das hat man wenigstens, so paradox es klingt, selbst unter Kontrolle. 
 
“You are born alone. You die alone. The value of the space in between is trust and love.”
Louise Bourgeois

 
Wenn Du einsam bist und reden willst, ich bin da.
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Samstag, 4. November 2023

Co-abhängig: Zwischen Angst, Schmerz, Scham, Ohnmacht und Wut

 

                                                     Malerei: Angelika Wende

 
Ein Mensch, den du liebst, trinkt oder nimmt andere Drogen. Dieser Mensch verändert sein Wesen, je weiter die Sucht fortschreitet. Du willst ihm helfen, du denkst, er müsste es doch nur sein lassen, dann wäre wieder alles gut. Du denkst, wenn du ihm wichtig wärst, wenn die Kinder ihm wichtig wären, würde er alles tun um aufzuhören.
Du musst erkennen, er hört nicht auf.
 
Er wird immer verantwortungsloser, unzuverlässiger und unberechenbarer, du erreichst ihn nicht mehr, wenn er zugedröhnt ist, er wird vielleicht sogar aggressiv und behandelt dich mies, oder du hast Angst um ihn, ob den Folgen seines Verhaltens. Er bagatellisiert seine Sucht, fühlt sich unverstanden, macht dir Vorwürfe, greift dich an, demütigt, kränkt und beleidigt dich, gibt dir die Schuld für seine Sucht und seine Probleme.
Er verdreht deine Wahrnehmung, manipuliert dich und findet hundert Gründe und Erklärungen, warum er trinkt und keinen einzigen, warum er aufhören kann.
Er hat keine Krankheitseinsicht und übernimmt keine Verantwortung für seine Sucht, die sein und dein Leben und das Leben deiner Familie, nach und nach zerstört.
 
Du hast Angst.
Jeden Moment Angst vor dem Moment wo er anfängt sich zuzudröhnen und was dem folgt. Angst, dass es zum Streit kommt, zu Übergriffen, zu Ausrastern. Angst, dass er seinen Job verliert, einen Unfall baut, dass er sich und dich ruiniert und und und...
In deinem Kopf ist nur noch Angst und was als nächstes passieren wird. Du lebst ständig in Angst. Diese Angst kann traumatisch werden.
 
Du fühlst Schmerz.
Es schmerzt zu sehen wie sich ein geliebter Mensch verändert, wenn er unter Stoff steht, wie er sich nach und nach zugrunde richtet und dich und euer Leben mit. Es schmerzt diesen lallenden, debil wirkenden, unattraktiven, nicht mehr ernst zu nehmenden, aggressiven, weinerlichen, sich selbst bemitleidenden, erbärmlichen, jammernden, hilflosen, dunklen Schatten des Menschen zu erleben, der mit dem, den liebst, nichts mehr zu tun hat.
Es schmerzt immer wieder zu hoffen und dann enttäuscht zu werden durch nicht eingehaltene Versprechen, Täuschungs- und Betrugsmanöver.
Es schmerzt zu erleben wir dieser Mensch nichts mehr auf die Reihe bekommt und du immer mehr die/der bist, der für alles die Verantwortung übernimmt, der kämpft, damit noch irgendwas bleibt, von dem, was ihr einmal hattet, obwohl du selbst emotional und körperlich am Anschlag bist.
Es schmerzt dich einsam, ohnmächtig und hilflos zu fühlen.
Es schmerzt, dass du nichts, aber auch nichts tun kannst um das ändern zu können, egal was du tust. 
 
Du fühlst Wut.
Wut, weil der andere alles kaputt macht, was gut war.
Niemand kann das aushalten. Niemand kann sich an der Seite eines Süchtigen gut fühlen.
Die Wut wächst mit jedem Rausch. Angestaute Wut, die durch das Schlucken von Angst, Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung einen Punkt erreicht, an dem sie explodiert. Sie ist stark, vehement, sie muss sich entladen, sonst platzt du. Und dann kommt das Begreifen wie sinnlos der Ausbruch ist, weil er nichts ändert. Du schämst dich.
Aber es hört nicht auf.
Die Wut speist sich aus dem, was war und dem Wissen, dass es nicht besser wird. Weil die Sucht nicht aufhört. Nicht durch Wut, nicht durch Verstehen, nicht durch Liebe.
Wieder gibt es Ausfälle, Angriffe, Beleidigungen, Demütigungen und schreckliche Stunden während und nach dem Rausch. Wieder sammelt sich Wut.
Du beginnst dich selbst zu verachten.
Du fragst dich, was du da überhaupt machst, ob das ein Leben ist, das du dir wünscht. Du fragst dich, warum du das aushälst. Ob das überhaupt Liebe ist.
 
Liebe, die weh tut, ist keine Liebe. Du weißt das. Du weißt, es geht schon lange nicht mehr um Liebe. Du bist abhängig von der Sehnsucht zu lieben und geliebt zu werden. Du findet dich nicht damit ab nicht geliebt zu werden, stattdessen findet du dich damit ab gebraucht zu werden. Du bist abhängig vom Gebrauchtwerden. Du bist selbst in eine Abhängigkeit geraten - in eine co-abhängige Verstrickung. An einem bestimmten Punkt hast du deine Bedürfnisse völlig aufgegeben um dich um den Süchtigen zu kümmern. War es dir bis zu diesem Punkt noch möglich, dein Selbstwertgefühl und andere positive Gefühle aus verschiedenen Aspekten und Bereichen deines Daseins zu beziehen, empfindet du nur noch dann eine Bedeutung, wenn du das Gefühl hast, vom Süchtigen gebraucht zu werden. 
 
Du fühlst Scham.
Du schämst dich für den Süchtigen und vor dir selbst, du machst dir Vorwürfe, dass du in dieser Hölle bleibst. Du fühlst dich klein und schwach und mies und schuldig wegen der Wut, die nicht weggeht. Du schämst dich, dass du so schawch bist, dich so unwürdig behandeln lässt. Du fragst dich, wie du so weit kommen konntest. Ob du das bist, dieses verzweifelte Etwas. Du erkennst dich selbst nicht mehr. Du schluckst. Immer wieder schluckst du den Schmerz, die Wut, die Scham. Das schwächt, macht müde und das Leben schwer.
Du weißt, du musst loslassen. Und weißt nicht wie.
Um die Wucht an negativen Gefühlen, nicht mehr spüren zu müssen, machst du etwas Ähnliches wie der Süchtige: Du manipulierst deine Gefühle, indem du sie unterdrückst, kompensierst oder abstellst. „Frozen feelings“ ist der amerikanische Ausdruck dafür. Deine Gefühle sind zwar noch da, aber du spürst sie nicht mehr. Du spürst dich nicht mehr.
Dieses Leben bedeutet Stress, und zwar Dauerstress. Dein Körper befindet sich in einem permanenten Alarmzustand, von dem es keine Erholung gibt. Viele Angehörige von Süchtigen haben stressbedingte Folgeschäden. Sie werden im Zusammenhang mit der Sucht eines nahestehenden Menschen krank. Spätestens an diesem Punkt, wenn der Körper oder die Seele Alarm schlagen denken Co-abhängige zum ersten Mal ernsthaft darüber nach den Süchtigen zu verlassen.
Und dann kommen Schuldgefühle.
Er/ sie ist doch krank. Ich darf doch einen kranken Menschen nicht verlassen. Er geht kaputt ohne mich. Nein, er geht auch kaputt mit dir, wenn er nichts ändert.
Kranksein bedeutet nicht, dass man es als naturgegeben ertragen muss. Wer krank ist, kann sich entscheiden, etwas dagegen zu tun.
Wenn Co-abhängige sagen: Er/sie ist doch schwer krank und deshalb kann er nichts dafür, geraten sie in eine Falle. 
 
Der Glaube ein suchtkranker kann Mensch könne sein Verhalten nicht mehr steuern oder gar entscheiden, was er tut und man deshalb nichts mehr von ihm erwarten kann, ist ein fataler Irrtum. Süchtige können sehr wohl vieles steuern – dich zum Beispiel, indem sie dich manipulieren!
Sie können steuern wie und wo sie Ihr Suchtmittel herbekommen, wo sie es verstecken und vieles mehr.
Sie können auch steuern, ob sie an ihrer Krankheit dahinsiechen wollen oder ob sie die Verantwortung übernehmen und sich Hilfe suchen um die Sucht zu stoppen.
Diese Hilfe können sich Co-abhängige auch suchen, bevor sie an der Seite eines krankheitsuneinsichtigen Süchtigen zugrunde gehen.
 
 
Wenn Du Hilfe suchst um dich aus der co-abhängigen Verstrickung zu befreien, bin ich für Dich da. Egal wo du bist – das Internet macht es online möglich.
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Donnerstag, 2. November 2023

Aus der Praxis: Ich bin einsam, aber warum ist das so?

 

                                                                         Foto: Pixybay

 

Ich bin einsam, aber warum ist das so?

 

Es gibt viele verschiedene, sehr individuelle Gründe warum Menschen einsam sind. Darüber habe ich schon oft geschrieben. Und es gibt auch Einstellungen und Überzeugungen, die das Leiden an Einsamkeit begünstigen.

 Das sind u.a. folgende:

Ich brauche einen Partner, um glücklich sein zu können.

Ich bin ein halber Mensch, wenn ich keinen Partner habe.

Alleine macht nichts wirklich Freude.

Ich brauche jemanden, um mir was Gutes zu kochen, essen zu gehen und den Abend zu genießen.

Ich brauche jemanden um Dinge zu erleben und zu teilen. Für mich allein bringt mir das nichts.

Das Leben ist leer, bedeutungslos und sinnlos ohne Partner, Familie, Freunde.  

 

Du könntest dich fragen:

Ist das alles wirklich wahr?

Des weiteren kannst du aufschreiben, was du selbst an Überzeugungen hast, bezüglich deiner Einsamkeit.

Und diese dann ebenso hinterfragen.

 

Gefühle von Einsamkeit und innere Leere entstehen oft auch dadurch, dass wir nichts haben, was uns von Innen hält.

Du könnest dich fragen:

 

Hast oder findest du nichts, was dir Bedeutung gibt?

Etwas wofür du brennst?

Etwas wofür du jeden Morgen aufstehst?

Etwas was du gerne tust oder gerne hast?

Eine Gabe, die du lebst?

Eine Vision, eine Botschaft, ein Lebensziel, einen Nordstern, der dich leitet?

Etwas wofür du stehst und wofür du eintrittst und dich engagierst?

Etwas was über dich selbst hinausgeht und was du in die Welt geben willst?

 

Was ist es, was deinem Leben Sinn gibt?

Was möchtest du mit deinem Leben anfangen?

Wie willst du es gestalten (auch alleine)?

Was gibt dir Kraft?

Was brauchst du genau um zufrieden zu sein?

Was hast du als Kind gerne gemacht?

 

Wenn du herausfindest was dir wertvoll und wichtig ist und danach handelst, es also tust, verlässt dich das Gefühl von innerer Leere und Einsamkeit nach und nach.

 


Wieso bist du einsam?

Hier geht es darum, Ursachen und Gründe zu identifizieren.

 

  • Liegt es daran, dass du nicht gut alleine sein kannst, du denkst Alleinsein, alleine leben, ist ungut, nicht okay?
  • Macht dir das Alleinsein Angst?
  • Fühlst du dich allein verloren wie ein verlassenes Kind?
  • Bist du schüchtern und kannst nicht auf andere zugehen?
  • Hast du ein mangelndes Selbstbewusstsein und kannst dich darum anderen gegenüber nicht öffnen?
  • Lernst du niemand kennen, weil du selten irgendwo hin gehst?
  • Bist du die meiste Zeit allein zuhause (Home Office z.B.) ?

 

  • Denkst du: Im Grunde interessiert sich sowieso niemand für mich?
  • Hälst du dich für uninteressant, unattraktiv, langweilig, nicht wertvoll, nicht liebenswert?
  • Hast du wenig Freunde und Kontakte, weil du nicht so gut mit Menschen umgehen kannst oder immer nur über dich selber redest, anstatt dich auch für die anderen zu interessieren und zuzuhören?
  •  Hast du niemanden, der an dir und an deinem Leben interessiert ist und dir Zuneigung und Aufmerksamkeit schenkt?
  •  Hast du Niemanden mit dem du über alles reden kannst?
  • Hast du niemanden, der deine Werte, Neigungen und Interessen teilt?

 

  • Was denkst du über „die Menschen“?
  • Erwartest du viel von anderen?
  • Ziehst du dich schnell zurück, oder cuttest du Beziehungen, wenn du merkst, dass die Chemie nicht stimmt?
  • Bist du schnell beleidigt oder enttäuscht, wenn andere dich einmal zurückweisen oder keine Zeit für dich haben?
  • Bist du leicht zu enttäuschen, wenn deine Erwartungen nicht erfüllt werden?
  • Meldest du dich nicht, wenn andere sich nicht melden?
  • Glaubst du der andere muss von selbst erkennen, wie es dir geht und sich um dich kümmern, wenn es dir nicht gut geht?
  • Erwartest du, dass andere deine Bedürfnisse erfüllen, die du dir selbst nicht erfüllen kannst?
  • Bist du bereit dich um andere zu kümmern?
  • Bist du bereit dich zu committen und etwas in deine Beziehungen hineinzugeben, wie Zeit und Interesse, oder bist du eher unzuverlässig und nur da, wenn du Bock hast?
  • Was ist dir wichtiger? Unabhängigkeit, Autonomie, persönliche Freiheit oder Verbundenheit und Bindung?

 

  • Hast du (unbewusst) Angst vor Nähe und fürchtest (wieder) verletzt zu werden?
  • Fällt es dir schwer anderen zu vertrauen?
  • Bist du menschlich zu oft enttäuscht worden?
  • Hast du Angst vor Kritik und Zurückweisung?
  • Neigst du dazu zu glauben: Ich brauche niemanden.
  • Warst du als Kind oft allein?
  • Hast du dich als Kind schon verlassen und einsam gefühlt?

 

Wenn du all diese Fragen beantwortet hast, wirst du erkennen, was die wahren Ursachen dafür sind, dass du einsam bist. Wenn du die Ursachen kennst, kannst du etwas ändern, wenn du es willst.

  

Tipp: Anstatt: "Ich bin einsam“, kannst du sagen: "Ich fühle ich mich einsam.“ 

Diese Feststellung beinhaltet keine Bewertung, ob du den Zustand magst oder nicht, ob du ihn gut oder schlecht findest. Sie sagt auch nichts darüber aus, ob es in Zukunft weiterhin so sein wird. Sie erlaubt dir das Jetzt zu akzeptieren ohne es zu dramatisieren.