Donnerstag, 29. Juli 2021

Dem anderen SEINS lassen

 

                                                              Foto: www


Loslassen - was immer es auch ist, fällt uns schwer. Am Schwersten ist es einen geliebten Menschen loszulassen. Und doch kann es geschehen, dass wir einen Menschen loslassen müssen, dessen Verhalten, dessen Werte, dessen Handlungen und Lebensweise unheilsam sind – für sich selbst und für uns. Wir verlieren den Glauben an diesen Menschen, wir verlieren das Vertrauen und gleichzeitig verlieren wir die Kraft immer wieder unsere eigene Ohnmacht auszuhalten, weil der geliebte Mensch nicht willens ist, seine unheilsame Lebensweise zu erkennen und zum Besseren zu lenken.
Wir kämpfen gegen Windmühlen und sind erschöpft von der Vergeblichkeit unseres Ankämpfens.
Also lassen wir diesen Menschen sein.
Wir überlassen ihn seiner Entscheidung, wir lassen sie ihm.
Es ist seine Entscheidung, die er für sich selbst trifft. Das ist sein gutes Recht. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, egal was er sich selbst zufügt, es ist nicht unsere Sache. 
 
Wenn ich in den langen Jahren meiner Arbeit eines begriffen habe: Wir können niemanden retten, der es nicht will. Wir können Wege aufzeigen, wir können begleiten und unterstützen, aber was wir nicht können ist einen Menschen "retten", schon gar nicht vor sich selbst und seinen Dämonen. Je mehr und je länger wir das versuchen, desto mehr unserer eigenen Dämonen finden Raum in unserer Seele - wir gleiten ab in destruktive Gefühle und schaden uns damit selbst.
 
Wenn wir alles versucht haben, dann bleibt nur das Loslassen.
Wir treffen eine Entscheidung. Das ist unserer Recht.
Wir lassen los vom Unheilsamen.
Wir wenden uns uns selbst zu, um frei zu sein vom Unheilsamen - um uns selbst zu retten.
Das können wir.
Wir tun das mit Mitgefühl für diesen Menschen. Wir lassen ihm seine Wahl im Bewusstsein, dass wir keine Macht über andere haben. Das erkennen wir an.
Ja, es ist schwer. Es ist sogar sehr schwer.
Es ist schwer loszulassen, wenn wir viel Liebe, Energie und Zeit in einen anderen hineingegeben haben. Es ist schwer loszulassen, wenn wir meinen, es bedeutet: Fallen zu lassen.
Aber loslassen bedeutet eben nicht fallen lassen, es bedeutet: Sein zu lassen, in diesem Falle - diesem Menschen "Seins" zu lassen. 
 
Wir sind traurig, vielleicht sogar wütend, dass wir uns unsere Ohnmacht eingestehen müssen, dass wir so hilflos dastehen und dem Unheil zusehen müssen.
Aber wir lassen los und schenken uns Selbstmitgefühl, dafür, dass wir das Unheilsame nicht mehr ertragen und nicht mehr mittragen können. Wir beginnen uns selbst zu heilen – das liegt in unserer Macht.

Mittwoch, 28. Juli 2021

Du bist okay!

 

                                                                Foto: A. Wende
 
Es ist so einfach, Fehler an dir selbst zu finden.
Schon in der Kindheit fing es damit an.
Die Eltern fingen damit an.
Das Umfeld fing damit an.
Dann hast du selbst damit weiter gemacht und machst es bis heute.
Beurteilst dich, verurteilst dich.
Nicht gut genug!
Nicht erfolgreich genug!
Nicht klug genug!
Nicht liebenswert genug!
Nicht selbstsicher genug!
Möchtest alles perfekt machen.
Keine Fehler machen, nicht fehlerhaft sein.
Urteilst über dich in gut oder schlecht Kategorien.
Ist das hilfreich?
Es ist nicht hilfreich!
Schau auf deine positiven Eigenschaftenund würdige sie.
Das ist ein guter Weg um ein ausgewogenes und realistisches Bild von dir selbst zu bekommen und dich mit dir selbst zu befreunden, mit all deinen „Fehlern“.
Du bist okay!

Donnerstag, 22. Juli 2021

Ja, nein, vielleicht oder ich weiß nicht ... Die richtige Entscheidung treffen fällt oft schwer

 



"In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, schrieb der österreichische Satiriker Karl Kraus. Klingt einfach, ist es aber nicht. Denn es gibt Entscheidungen, die nicht eindeutig zu treffen sind, weil sie sowohl gute als auch ungute Seiten haben. Das ist energieraubend und extrem belastend, weil wir partout nicht wissen, was das Richtige ist - wir sind zerrissen.
 
Wie wissen wir, was das Richtige ist?
Oft streben Kopf, Bauch und Herz in unterschiedliche Richtungen.
Prüfen wir genauer, offenbart sich gerade hier die innere Logik unseres Seins: Widerstrebendes gehört zum Ganzen. Kopf, Herz und Bauch sind die drei Zentren der Kraft. 
 
Der Kopf steht für unsere Fähigkeit, Situationen, Einflüsse, Gefühle, kurz: die Fülle der auf uns einstürmenden Welt wahrzunehmen, zu beobachten und zu differenzieren.  
Ohne die Fähigkeit, das Klare vom Unklaren und das Heilsame vom Unheilsamen zu trennen, würden wir im Chaos untergehen. Erst indem wir differenzieren, also unterscheiden, was wichtig und was unwichtig ist, erst indem wir abwägen, prüfen, was gut für uns ist und was nicht, erst wenn wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, werden wir handlungsfähig.
Der Verstand aber nutzt nur die Logik, er ignoriert, was wir fühlen. 
 
Der Bauch steht für unsere Emotionen und Gefühle.
Die Intelligenz des Unbewussten, unsere Instinkte und unsere Intuition sitzen im Bauch. Aus dem Bauch heraus handeln wir nach dem, was unmittelbar im Bewusstsein auftaucht, dessen tiefere Gründe uns aber nicht bewusst sind. Dabei greift das Bauchgefühl auf alle gespeicherten Erfahrungen zurück, die wir im Leben gemacht haben. Er ist ähnlich wie das limbische System unser emotionales Erfahrungsgedächtnis. Im Bauch werden intuitiv automatische Prozesse und Gefühlsimpulse aktiviert. Hier sitzt ein unbewusst arbeitendes Entscheidungssystem, das auf unseren Gefühlen beruht.
Entscheidungen, die wir aus dem Bauch heraus treffen sind manchmal besser als rational überlegte, aber nicht immer. Auch unser Bauchgefühl kann uns in die Irre leiten – dann nämlich, wenn wir noch nicht auf ausreichende Erfahrungen mit ähnlichen Situationen zurückgreifen können und daher keine zuverlässige Sammlung an Gefühlen abgespeichert haben.
 
Das Herz weiß, Logik führt nicht immer zum Ziel.
Kopfentscheidungen funktionieren zum Beispiel in der Liebe nicht. Weil es in der Liebe um Gefühle geht, die man die wir nicht erklären und nicht rationalisieren können, die einfach sind wie sie sind. Diese Gefühle sind so stark, dass alle Ratio versagt. Wäre es möglich sie zu kontrollieren, gäbe es keine gebrochenen Herzen. Wenn unser Herz spricht, sind wir erst einmal machtlos. Treffen wir jedoch Entscheidungen einzig nach unserem Herzen und ignorieren jegliche Vernunft, kann das in unseren Leben für emotionales Chaos sorgen.
 
Klare Entscheidungen treffen wir dann, wenn wir sowohl den Kopf, das Herz als auch den Bauch berücksichtigen und alle miteinander in Einklang bringen.  
Wir können keine Entscheidungen nur mit dem Kopf oder nur mit dem Bauch oder dem Herzen treffen. Alles ist miteinander verbunden und jede Stimme darf gehört werden.
Also was ist das Richtige?
Eine eindeutige Antwort gibt es nicht, aber die Erfahrung sagt: Entscheidungen, die keine guten Gefühle und keinen Handlungsimpuls in uns hervorrufen, sind keine guten Entscheidungen.
Perfekte Entscheidungen gibt es also nicht. Wir können lediglich nach bestem Wissen und Gewissen und nach bestem Gefühl handeln. Ob unsere Entscheidung richtig war, zeigt die Zeit. 
 
Namasté

Dienstag, 20. Juli 2021

Ohne Handlung gibt es keine Heilung

 

                                                                     Foto: A.Wende

 
 
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, so das Sprichwort.
Das trifft leider nicht immer zu. Wir haben den Willen, es gut zu machen, aber wir haben innere oder äußere Blockaden, die wie Schwellenhüter vor uns stehen und die wir einfach nicht überwinden können. Dann ist es nicht möglich eine Situation zu lösen, sie hinter uns zu lassen und zu etwas anderem überzugehen. Wir wissen, wenn wir diese Blockaden nicht überwinden, halten unsere Sorgen und Probleme an und können nicht gelöst werden.
Es fehlt uns nicht an Vorstellungskraft, wir malen uns aus wie es sein könnte wenn wir endlich in Bewegung kommen, aber das Problem ist die Umsetzung. Sei es im Beruflichen, im Finanziellen oder in Beziehungen – wenn es uns an Taten mangelt wird sich nichts ändern. Es braucht Handlungen um die Hindernisse zu überwinden, die vor uns auftauchen, erst dann können wir voranschreiten. 
Ohne Handlung gibt es keine Heilung.
 
Was sind das für Blockaden, aufgrund derer wir nichts tun um die Dinge zu lösen?
 
Oft ist es die Angst vor Veränderung. Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten, von dem wir nicht wissen, ob es gut oder besser ist als das, was ist. Auch wenn das, was ist, nicht mehr gut ist und unser Leben stagnieren oder gar in eine bedrohliche Schieflage geraten lässt, wir lassen uns von der Angst besiegen. Oder wir kleben an vertrauten Gewohnheiten, die wir nicht aufgeben können oder wollen, auch wenn sie uns schaden. Wir sehen nur den Benefit, den wir durch sie haben und verdrängen das Unheilsame, das sie uns bringen, obwohl wir uns dessen bewusst sind. 
 
Bequemlichkeit ist eine große Blockade.
Alles läuft doch irgendwie. Irgendwie ist aber irgendwie und nicht: Es läuft hinreichend gut. Das Irgendwie führt dazu, dass wir das, was wir eigentlich tun müssten, vor uns her schieben, bis, ja bis es nicht mehr läuft. Dann kommt das große Erwachen und: Ach, hätte ich doch rechtzeitig gehandelt.
Wir lassen die Dinge laufen, wir lassen sie sogar manchmal sehenden Auges ins Unheil laufen, weil wir zu ängstlich, zu träge, zu bequem, zu starrsinnig sind, um sie zu ändern. Wir finden hundert Gründe warum es nicht geht, anstatt Gründe warum es gehen könnte. Wir treffen keine oder nur halbherzige Entscheidungen und belassen es bei Lippenbekenntnissen.
Wir strampeln weiter im Sumpf. 
 
Das Leben stellt uns Fragen, es gibt uns Aufgaben und wir antworten nicht.
Der Körper mahnt uns besser mit ihm umzugehen und wir hören nicht. Unsere finanzielle Situation muss geklärt werden und wir klären sie nicht. Unsere Beziehung ist ungesund und wir tun nichts um sie zu heilen. Wenn wir keine Entscheidungen treffen, entscheidet das Leben für uns und nicht immer geht es dann sanft mit uns um. 
 
Fassen wir also Mut, das Richtige zu tun, obwohl wir Angst haben, obwohl wir aus der Komfortzone heraustreten müssen. Sagen wir zu uns selbst: Ich mach das jetzt!
Und dann machen wir es.
Wir beginnen zu handeln.
Schritt für Schritt.
Hauptsache wir fangen jetzt an.

Mittwoch, 14. Juli 2021

Aus der Praxis – Erwartungen

 

                                                                          Foto: www

 

Erwartungen sind eine imaginierte Vorwegnahme von Ereignissen, Reaktionen und Handlungen, die erwartet, gewollt, gewünscht, erhofft oder vermutet werden, und die in der Zukunft liegen.

 

Je gereifter, stabiler, selbstabhängiger, ausgeglichener und zufriedener ein Mensch ist, desto geringer sind seine Erwartungen an andere.

Je mehr wir von anderen erwarten, desto unsicher sind wir uns unserer selbst. Und je unsicherer wir uns unserer selbst sind, desto abhängiger sind wir von den Aktionen, Reaktionen und dem Handeln anderer.

Wir sind unsicher an uns selbst gebunden und in der Folge damit auch unsicher an andere gebunden. Daher ist es uns dann so wichtig, dass andere, indem sie unsere Erwartungen erfüllen, uns die Sicherheit vermitteln, die wir in uns selbst nicht finden können. Erfüllt das Gegenüber das Erwartete nicht, kommen wir nicht damit klar. Wir sind enttäuscht, frustriert, gekränkt und vielleicht sogar wütend auf den anderen. Er ist schuld, dass es uns nicht gut geht, weil er nicht erfüllt hat, was wir von ihm erwartet haben.  

 

Aus unseren emotionalen Reaktionen auf unerfüllte Erwartungen können wir viel über uns selbst lernen.

Meist ist es das Innere Kind, dem wir bei achtsamer Selbstreflexion begegnen, das etwas haben will und nicht bekommt, was es braucht. Es ist dieses verletzte, unsichere Kind, das glaubt, es sei es nicht wert, dass man ihm gibt, was es erwartet. Es fühlt sich zurückgewiesen, nicht gesehen, nicht anerkannt, nicht geliebt, verlassen. Seine Bedürfnisse werden nicht erfüllt und dementsprechend reagiert es mit den unterschiedlichsten Gefühlen – meist unheilsamen. 

 

Was wir jetzt brauchen ist ein klarer Innerer Erwachsener, der dieses Kind besänftigt. Ein Erwachsener, der ihm wie eine hinreichend gute Mutter klar macht, dass sein Wohlbefinden nicht abhängig ist von der Erfüllung seiner Bedürfnisse durch andere, sondern, dass wir für es da sind, seine Gefühle verstehen und mit ihm mitfühlen. Und dann holen wir es aus seiner Trance und erklären ihm, dass es dazu lernen darf, um nicht weiter in der Opferrolle stecken zu bleiben und weiter zu leiden. Es darf erwachsen werden. 

 

Wenn wir das nicht tun, uns also nicht bewusst machen, dass Erwartungshaltungen uns in eine Opferrolle drängen, weil das Erwartete nicht unseren Vorstellungen gemäß geliefert wurde, bleiben wir im Klammergriff alter Verletzungen und reagieren auf jede unerfüllte Erwartung aus dem verzerrten Weltbild des Inneren Kindes.  

 

Eine Besonderheit sind Erwartungen an Menschen, die uns helfen.

Eine freiwillige und von Herzen gegebene Hilfeleistung ist etwas Gutes. Mit einer Erwartung oder gar der Einforderung der gegebenen Hilfe nehmen wir dem Helfer die Freiheit, so zu handeln, wie er es aus freien Stücken tun würde. Setzen wir ihn mit unseren Erwartungen unter Druck, vermitteln wir ihm das Gefühl, dass er allein dafür verantwortlich ist, wie wir uns fühlen. Damit spürt der Helfende nun eine Verpflichtung. Aus dem freiwilligem Helfen-wollen wird so ein eingefordertes Helfen-müssen. Die Beziehung wird empfindlich gestört.  

 

Erwartungen machen eng und sie engen ein. 

Zu hohe Erwartungen machen uns hilflos, klein und letztlich sogar einsam. Vor allem aber – sie machen uns abhängig, je größer und fordernder sie sind, und sie überladen unsere Beziehungen zu anderen. Unter dem Druck von Erwartungen brechen sie irgendwann zusammen.

 

Was dürfen wir lernen?

Wir dürfen lernen, dass wir Erwartungen haben dürfen, denn das ist menschlich, aber wir dürfen auch begreifen, dass eine Erwartungserfüllung eine freiwillige Gabe ist, die sich nicht einfordern lässt.

Wir dürfen lernen, dass wir selbst die Macht haben zu entscheiden, wie wir mit unerfüllten Erwartungen umgehen und sie überprüfen, ob sie angemessen sind oder überzogen. 

Wir dürfen lernen, dass wir selbst verantwortlich für unsere Gefühle sind, die unerfüllte Erwartungen in uns auslösen.  Damit übernehmen wir Eigenverantwortung. 

Wir dürfen begreifen, je fixierter die eigenen Erwartungen sind, desto höher ist der Erwartungsdruck an uns selbst und an andere und desto häufiger wird sich Enttäuschung einstellen.

Je mehr wir uns fixieren und uns von den eigenen Erwartungen abhängig machen, desto enger wird unser Erleben. Wir sind nicht offen für Situationen und damit verhindern wir den Fluss des Lebens sowie unsere Fähigkeit dem Leben spontan zu antworten, wenn es uns Aufgaben stellt.

Je abhängiger wir von der Erfüllung unserer Erwartungen sind, desto mehr entsteht Abhängigkeit. Wir ertragen es nicht, dass der andere sein eigener Mensch ist und sein eigenes Leben lebt. Wir sind in unheilsamer Weise an andere gebunden und binden andere in unheilsamer Weise an uns. 

Zu hohe Erwartungen in Beziehungen verhindern die tiefe, wertschätzende, freie Begegnung von Ich und Du. Echte Begegnung findet nur da statt, wo keine Erwartung, keine Forderung und kein Druck herrschen.

Erwartungen gehören zum Menschsein.

Es ist jedoch heilsam uns immer wieder bewusst zu machen, ob unsere Erwartungen angemessen sind und  was  sie mit uns selbst und mit den Menschen machen, an die wir sie richten. 

 

 

Montag, 12. Juli 2021

Gefühle sind zum Fühlen da

 
                                                                     Foto: A.Wende
 
 
In der Praxis habe ich es jeden Tag mit Menschen zu tun, denen es nicht gut geht. Viele haben Angst. Sie haben Sorgen und Probleme und sie leiden unter belastenden Gefühlen und Gedanken, die sie nicht haben wollen. Aber, und das vermittle ich immer zu Anfang: Das „nicht haben wollen“, ist Teil Ihres Problems.
Warum ist das so?
Zahlreiche Untersuchungen haben erwiesen, dass der Versuch, belastende Gedanken und Gefühle loszuwerden, zu noch mehr belastenden Gedanken und Gefühlen führt. Es ist also nicht möglich, unsere Gedanken und Gefühle an- und auszuschalten oder sie einfach verschwinden zu lassen.
Wenn wir versuchen, destruktive Gedanken, unangenehme körperliche Empfindungen oder belastende Gefühle zu unterdrücken, machen wir es nur noch schlimmer. Wir produzieren mehr vom selben.
Um das nicht mehr zu tun, dürfen wir uns zunächst mit der Tatsache anfreunden, dass Loswerden und Kontrolle nicht die Lösung sind, wenn es uns emotional nicht gut geht, sondern dass diese Versuche das Problem verstärken und weiter aufrechterhalten. 
 
Das hat damit zu tun, dass unser Gehirn und unser Nervensystem zusammenspielen. Wenn wir gegen einen Teil dieses Systems arbeiten, indem wir unterdrücken, vermeiden oder abwehren, was uns belastet, wehrt sich das System und sendet Signale an andere Teile des Systems.
Loswerden wollen, kontrollieren wollen, was wir nicht denken oder fühlen wollen, kostet enorm viel Kraft. Wir führen damit einen Kampf gegen uns selbst, den wir nicht gewinnen können. Gegen unsere Gedanken und Gefühle anzugehen, bedeutet, gegen uns selbst anzugehen, und das führt dazu, dass wir in unseren Gefühlen und Gedanken, unserer Trauer, unserer Wut und unserer Angst, stecken bleiben.
Die Energie der unterdrückten Gefühle steigt stetig an und entlädt sich irgendwann in Form von Erschöpfung, unangemessen starken Wutausbrüchen, Ängsten, Panikattacken, Depressionen oder auf der körperlichen Ebene mit Krankheit. Es ist wie mit einem Ball, den wir unter Wasser drücken: Lösen wir den Druck, ploppt er nach oben.
 
Unterdrücken, abwehren, kontrollieren – nichts davon tut uns gut.
Es ist wesentlich heilsamer unseren Gefühlen mit Aufmerksamkeit, Achtung und Mitgefühl zu begegnen, sie anzunehmen und da sein zu lassen. Wir dürfen uns erlauben: Was ich fühle, ist nicht angenehm, aber ich muss nicht davor weglaufen. Ich kann mich entscheiden, einfach still dazusitzen. Ich kann ruhig ein- und ausatmen und den Gedanken oder das Gefühl wahrnehmen als das, was es ist, und nicht als das, was mein Verstand daraus macht. Ich kann zulassenwas ist, ich kann spüren, was ist, und ich muss jetzt nichts tun, damit es weggeht. Ich erlaube diesem Gefühl, von selbst zu gehen. Ich kann es zulassen und als das erleben, was es ist: ein Gefühl.
Gefühle sind in Bewegung. Gefühle kommen und sie vergehen. Und damit sie das können, dürfen sie erst einmal da sein.

Samstag, 3. Juli 2021

Denkfalle: Tunnelblick

 

                                                                   Foto: pixybay


Unter dem Tunnelblick versteht man in der Psychologie die sogenannte selektive Wahrnehmung, was bedeutet: Es werden nur die Informationen berücksichtigt, die zu den eigenen Überzeugungen passen. Wie bei einem Filter vor einer Kameralinse, der nur bestimmte Lichtanteile durchlässt, werden einige Informationen einfach ausgeblendet.
Der Tunnelblick führt nicht nur dazu, dass die Komplexität des Ganzen nicht mehr wahrgenommen wird, er führt auch dazu, dass die eigene Wahrnehmung immer begrenzter wird und somit eine eigene Wirklichkeit geschaffen wird, die lückenhaft und/oder verzerrt ist. Fakten werden ignoriert, umgedeutet und/oder umgebogen damit sie in diese konstruierte Wirklichkeit passen. Gefangen im Tunnelblick kann der Mensch nur noch bestimmte Aspekte des gegenwärtigen Lebens sehen.
Gedanken werden nicht analysiert und hinterfragt, sondern es werden nur jene Aspekte wahrgenommen, die bereits vorgefasste Gedanken untermauern. Heißt: Wir widersprechen unseren Gedanken nicht, vielmehr suchen und finden wir Argumente um diese zu bestätigen und damit wiederum verstärken und verfestigen sich diese.
 
Subjektive Annahmen schieben sich über neutrale Informationen.
Argumente, Denkanstöße und Fakten, die gegen eigene Annahmen sprechen, werden zurückgewiesen, weil sie aus irgendeinem Grund nicht zählen sollen. Es kommt zu einer emotionalen Beweisführung: Das eigene Gefühl wird als Beweis für die Richtigkeit einer Annahme herangezogen, widersprechende Gefühle werden selektiv abgewehrt.
Nach dem Motto: Was in meinem Denkrahmen nicht sein kann, darf nicht sein.
 
Der Tunnelblick hat über die Zeit vielfältige negative Auswirkungen auf das eigene Leben, die soziale Kompetenz und das soziale Miteinander.
Zum einen macht der Tunnelblick eng – die Wahrnehmungsfähigkeit wird immer eingeschränkter, der Spielraum der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten begrenzt. Der Mensch wird immer verschlossener anderen Wahrheiten gegenüber, er schirmt sich gegen alternative Möglichkeiten ab und bewegt sich nur noch im Kreis derer, die sein Denken teilen und es bestätigen. Seine Fähigkeit Neues zu erfahren und zu lernen oder sich zu verändern, sinken auf Null. Er sitzt in seinem selbstgeschusterten Mikrokosmos ohne Zwischenstufen, den er verteidigt, sobald nur der leiseste Angriff von außen kommt. Andere Meinungen werden disqualifiziert oder attackiert, damit man das eigene Denken nicht ändern muss. Im worst case wird jeder Andersdenkende zum Feind. 
 
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung sind nicht rein zufällig.