Medea Metamorphosen
„Wir Menschen sind Halbierte, die sich nach Ganzheit
sehnen.“
Ein
Gedanke aus Platons Symposion
Medea, ein Mythos, der sich in all seinen
dramatischen Gestaltungen durch die Jahrhunderte von Euripides bis zur
zeitgenössischen Literatur durchzieht, eine Tragödie, festgemacht an einer
Frau, die leidenschaftlich liebt und leidenschaftlich tötet.
Medea ist eine tragische Figur von
höchster Ambivalenz, eine Figur, deren Geschichte man folgen kann, deren Gedanken,
Gefühle und Verhaltensweisen man verstehen oder gar nachvollziehen kann bis zu
dem Punkt, der sprachlos macht - die
Hybris der Tragödie, die Medea zum Sinnbild des Bösen macht – der Mord an ihren
leiblichen Kindern.
Was macht diese Medea aktuell bis
heute? Was ist es, das uns fasziniert an dieser Geschichte? Die Sehnsucht, die
Liebe, die Angst, der Hass, die Rache, die Verzweiflung, die Schuld und der Tod
- all das birgt der Mythos in sich. Archetypen, die unser Leben durchziehen,
kollektiv und individuell.
Medea ist ein Spiegel der zum
Zerrspiegel wird, der es am Ende unmöglich macht hineinzuschauen, ohne den
Impuls zu verspüren, sich abwenden zu müssen. Es ist das Böse das uns
gegenübertritt in seiner dunkelsten und unbegreiflichsten Erscheinung, die
Unfassbarkeit des Maßes an Zerstörung, die zu immer neuer Analyse
herausfordert, die aber nur schwer gelingen kann, denn das Unbegreifliche
existiert als ein Etwas das größer ist als wir.
Es
sind überwiegend die weiblichen Literaten, wie Christa Wolf in ihren Medea
Stimmen, die Argumente finden, um Medea in die Opferrolle zwängen. Opfer sind
entschuldbar. Und es sind die männlichen Stimmen in der Literatur, die sich am
Wirken des Thymos festhalten, den Trieb dieser Frau in den Focus stellen, der
jenseits von Ratio und Instinkt sich entfaltet, nach der Demütigung durch
Jason, dem Geliebten, der Medea benutzt, betrügt und verrät.
Es gibt Entschuldigungsgründe für
Jason, wie bei Anouihl, der ihn seiner Schuld enthebt oder zumindest beide zu
Opfern und Tätern macht. Opfer einer ungesunden, obsessiven Liebe, die
scheitern muss.
Medea ist eine Frau, die den
Männern suspekt ist, im Tiefsten allein.
Eine Frau, die anders ist, die
sichtbar von der Norm abweicht, heute wie damals, eine Frau, die den Mythos der
Weiblichkeit demontiert in allem was sie ausmacht und in allem was sie tut.
Medea ist eine Gefahr für das Kollektiv und damit Symbol für etwas, womit das
Kollektiv nicht umgehen kann.
Was wir nicht sehen wollen
verdrängen wir, wir schließen es aus, verbannen es, schicken es irgendwohin –
wo es uns mit uns selbst und unseren Schatten nicht mehr konfrontieren kann.
Medea – die Ausgestoßene.
Die
Tragik dieser Figur ist die Tragik aller, die anders sind und ihren Platz im Leben nicht finden, verzweifelt
sie. Sie scheitert an sich selbst, an ihrer wesenhaften Disposition, die der
Wirklichkeit nicht standhält.
Leidenschaft, die Fähigkeit
unbedingter Liebe, der Antrieb aus dieser Liebe heraus alles zu tun, ist Medeas
tiefstes inneres Wollen. Ihre persönliche Odyssee
beginnt, indem sie sich Jason als Objekt für ihre Liebe sucht.
Er ist schwach und sie ist stark.
Er nimmt ihre Stärke, solange sie ihm nützt und hält sie nicht aus, weil sie
ihn kleiner macht in seinen Augen.
Dieser Mann ist klein, zu klein für eine große Frau.
Warum
macht diese starke Frau die Erfüllung ihrer Sehnsucht an ihm fest?
Ist
sie blind, oder im Innersten so einsam, dass sie im Gefühl endlich geliebt und
gebraucht zu werden, seine Schwäche übersieht und verdrängt?
Beginnt
das Drama Medeas nicht dort, wo alle menschlichen Dramen beginnen? In ihr
selbst, in ihrer psychischen Struktur.
Und ist das Außen nicht nur der
Spiegel dessen, was der Mensch in sich trägt?
Wir
werden zu dem, was wir sind ...
Medea ist zerrissen, heimatlos
schon in der eigenen Heimat, nicht einverstanden mit dem Vater, die Mutter ist
abwesend. Wir erfahren nichts von ihr. Sie ist eine Fremde im eigenen Land und
damit auch im eigenen Leben, beseelt von einer Sehnsucht, die namenlos ist,
beseelt davon sie festzumachen an einem anderen, dem Geliebten. Sie ist nicht
souverän, hat keine wirkliche Ich-Stärke, sie ist eine Sucherin, maßlos, und
weit davon entfernt, bei sich selbst zu sein. Nur so ist der Mensch anfällig
für die Opferrolle.
Medeas Tragödie ist die vieler
Frauen. Noch heute, und immer wird es so sein, ist tief im Inneren der Frau ein
leises, unbestimmtes Gefühl von Unvollständigsein, wenn sie ohne einen
Gefährten durchs Leben geht.
Es gibt dieses unbewusste Wünschen
- eine Lücke schließen zu wollen mit der Liebe, die sie in sich selbst nicht
findet.
Das hat nichts mit Zeitgeist zu
tun, nichts mit einer bis heute fragwürdigen Emanzipation. Es ist ein zutiefst
menschliches Bedürfnis, das mit Adam und Eva beginnt - die Sehnsucht des
halbierten Menschen nach Ganzheit, wie es Platons Symposion so bildhaft
darstellt.
Egal ob Frau oder Mann, wir
versuchen das Hineingeworfensein in die Welt zu überwinden. Nur dass Frauen
diese Sehnsucht aufgrund ihrer seelischen Struktur intensiver spüren und intensiver leben.
Die Anima ist empfänglicher für
die Dinge. Im Wesenhaften des Weiblichen lebt Gaia, Mutter Erde, die
Empfangende, die Leben Spendende, das Prinzip von Werden und Vergehen – das
Sinnbild des Kreislaufs des Lebens schlechthin. Hingegen Animus: das männliche,
das geistige Prinzip, das Klarheit und Struktur gebende. Pole wie sie konträrer
nicht sein können.
Seit C.G. Jung wissen wir, dass
wir alle Beides in uns tragen, die Frau den Animus, ebenso wie der Mann die
Anima. Und es ist Ziel diesen
Antagonismus in uns selbst zu integrieren um zur Individuation zu gelangen. Die
Tragödie – wir schaffen es nicht, weder die Integration dieser beiden Anteile
in uns selbst, noch die Vereinigung mit dem
polaren Gegenüber zum Guten hin.
Die Beziehung zwischen Mann und
Frau ist die vertrauteste und unheimlichste, die unbedingteste und
konfliktreichste - Urgrund unzähliger Dramen, damals wie heute.
Es ist die Unfähigkeit, dem
anderen sein Anderssein zu lassen. Weit ab von Einsicht, Akzeptanz und
friedlicher Koexistenz, wabert der Kampf der Geschlechter, durchzogen vom Trieb
uns fortzupflanzen. Nicht ohne einander und schlecht miteinander.
Mann und Frau sind fähig zu
verschmelzen. Für Momente in der Zeit eine Einheit zu sein - das Gefühlte von
Einheit. Nach dem Verlassen des
Bettes - das Gefühl von Getrenntsein.
Medea erträgt dies nicht, sie ist
mit Jason symbiotisch verschmolzen. Sie lebt sich durch ihn.
Ihre Persönlichkeitsstruktur ist
eine narzisstische. Sie ist die, die sich selbst im anderen liebt, sich selbst
nur im anderen spüren kann, allein ist sie einsam, von einer inneren
Einsamkeit, die sie verzweifeln lässt.
Jason - der Komplementärnarziss, der sie braucht, um
sich selbst wertvoller zu fühlen. Er wird zum Helden allein durch Medeas
kompromissloses Handeln.
Mit Jasons Eintritt in Medeas
Leben beginnt das Morden, durch Verrat am Vater, am Bruder. Alle Mittel sind
recht, um das geliebte Objekt an sich zu binden. Sie hat ihn sich einverleibt –
im wahrsten Sinne des Wortes und er lässt es zu.
„Sieh, was ich für dich tue! Du
musst mich also lieben“. Eine Motivation, die der Wunde des Ungeliebten
entspringt.
Hierin liegt sie begründet, die
Pathologie der Medea, der Ursprung dieser Tragödie, ein metaphorischer Ausdruck
des Innersten der Protagonistin im Außen.
Medeas In - der - Welt – sein, das
fatale Folgen für die Welt hat in die sie geworfen ist, ist Dreh- und
Angelpunkt des sich zuspitzenden Plots. Medea ist eine Geschichte, die die
Beziehung der Frau zu sich und die Beziehung von Mann und Frau zum Inhalt hat. Sie erzählt von zwei Fremden,
die sich vertraut miteinander machen, um am Ende zu erkennen, dass das
Fremdsein ein unüberwindbares ist.
Das Blut der Kinder, das vergossen
wird, ist das ihre - ihr miteinander vermischtes Blut. Es bringt den Tod und
nicht das Leben in die Adern, weder für Medeas noch für Jasons Selbst, noch für
die Zukunft der nachfolgenden Generation in Sachen Liebe. Das Töten der Kinder
ist das Töten der Möglichkeit von dauertüchtiger
Liebe. Das Sinnbild für das Sterben des Glaubens an die Liebe.
Eros oder Phylia - beides ist
auf Dauer unlebbar.
Die Liebe hat keinen lang
anhaltenden Effekt, sie ist flüchtig. „Immer trägt sie den Charakter des Todes
in sich“, wie André Breton einmal sagte ... anders zu denken ist ein Phantasma
zwischen Männern und Frauen, das an einer Jahrtausende langen Gegenteilsbeweisführung zerplatzt.
Das
Vergehen der Liebe, ihren Tod nicht zu akzeptieren ist Medeas größtes Vergehen.
Hierin liegen die Tragik und das
Entsetzen über die Kindsmörderin Medea, die an der Seele des Medea Rezipienten
andockt, verschlüsselt zwar, aber dennoch den Weg findet zu dem Erkennen:
Jeder ist allein. Und das ist das
Unerträglichste. Die Nichtakzeptanz dieser Wahrheit kann die sensible Seele in
den Wahnsinn treiben.
Medea und der Wahn.
Die Verzweiflung, die realitätsnah
wird und schließlich handlungsleitend, die Verzweiflung, die das Ich von der
Welt schrittweise abtrennt, die Existenz ad absurdum führt, das Versinken ins
Leere und im Gewahrsein dessen der Tod des Ichs und der darin eingeschlossene
Wunsch nach Zerstörung dessen was das Ich zerstört – das Scheitern eines
metaphysischen Liebesbegriffes.
Medea,
die Kindsmörderin.
Frauen töten um sich aus
Beziehungen zu befreien, in denen sie gedemütigt wurden. Bevor sie zu
Täterinnen wurden waren sie Opfer. In den meisten Fällen töten sie ihre Kinder.
Gedemütigte weibliche Opfer – von
Männern gedemütigt?
Oder von einem Ideal, einer
unstillbaren, nicht erfüllbaren Sehnsucht nach der einen wahren Liebe - am Manne
festgemacht?
Warum töten Frauen die Kinder
dieser Männer?
Sie töten, um das zu vernichten,
was das Liebste ist – dasjenige was ihre Liebe hervorgebracht hat – das eigene
Fleisch und Blut.
Scheitert die Liebe – scheitert elementares.
Ein Aufschrei der verwundeten
Seele, der hörbar sein soll und fühlbar ...von der Welt.
„Es gibt kein größeres Verlangen als das eines Verwundeten nach einer
anderen Wunde“, schreibt der Philosoph Georges Batailles.
Bei Euripides hat Medea am Ende
ihre Katharsis – sie wird vom Sonnenwagen in den Himmel gehoben
...freigesprochen.
Bei Seneca ist sie die Furie.
Bei Anouilh ist sie das wilde
Tier.
Bei Neill La Bute sitzt sie im
Gefängnis – verurteilt.
Bei Christa Wolff ist sie der
Sündenbock.
Die Medeas von heute sitzen in
Psychiatrien und in Frauengefängnissen.
Die meisten von ihnen sind Suizid
gefährdet.
Angelika Wende