Samstag, 30. Juni 2012

Ganz





wir suchen den anderen
der uns heil machen soll



wir glauben in ihm finden wir die chance die eigenen defizite zu (er)lösen
den eigenen mangel auszugleichen

wir glauben eine ganzheit zu werden durch den anderen

aber dabei vergessen wir
je weniger wir selbst eine ganzheit sind
desto weniger finden wir sie durch den anderen



FREIHEIT II

freiheit bedeutet
zu leben
was in uns angelegt ist
was aus uns heraus will
was uns zu tun drängt
was wir tun müssen

freiheit heißt
der inneren stimme zu folgen
gegen alle äusseren einwände
und keiner erwartungshaltung zu entsprechen
die nicht uns nicht entspricht


insofern ist freiheit ein radikaler begriff
insofern ist der preis der freiheit hoch

Donnerstag, 28. Juni 2012

Selbstherrlich





 

ich wollte ihn eigentlich nicht treffen. ich hatte ein ungutes gefühl im bauch. aber irgendwie schaffte er es, mich dann doch dazu zu bewegen. ich ließ es ihn schaffen, vielleicht weil ich neugierig war, oder doch an die möglichkeit glaubte, es würde einen auftrag bedeuten.

er wollte meine hilfe, er sagte es am telefon und ich sagte ihm, meine hilfe kostet geld, weil ich von diesen dingen lebe. er meinte, natürlich, er wisse das.

ich ging also trotz und mit dem unguten gefühl im bauch zu dem treffen.

ich sah ihn schon von weitem. sein wild nach oben abstehendes blondes haar leuchtete in der sonne. er begrüßte mich überschwenglich, wie schön es sei, uns nach so vielen jahren wieder zu sehen und wie gut ich aussehe. ich setzte mich zu ihm an den kleinen runden tisch, der eng an einem anderen tisch stand. ich musste mich auf den stuhl zwängen. eingequetscht zwischen seinem stuhl und dem stuhl einer jungen frau hinter mir, versuchte ich gedanklich anzukommen.

die kann doch mal ein bisschen wegrutschen, die ignorante kuh, mit ihrem stuhl. er sagte es laut. die junge frau bewegte ihren stuhl keinen millimeter. die leute sind so verdammt ignorant, brummte er ärgerlich und holte seine zigarretten aus der hosentasche um sich eine anzuzünden. ich zündete mir auch eine an. du rauchst, das ist gut, grinste er, blies genüsslich kringel in die luft und öffnete das heft, das vor ihm lag, schau genau hin. ist das nicht wunderbar? ich schaute genau hin. es war der werbekatalog eines verlages, dessen name ich noch nie gehört hatte. auf der ersten seite war eine große anzeige für das buch, das er geschrieben hatte. das ist wunderbar, sagte ich, ich gratuliere dir. ja, das ist fantastisch, nicht wahr? die haben mich auf die erste seite gesetzt, sogar mit foto, schau.

die kellnerin unterbrach seine begeisterung. er stuppste mich am ellbogen, sag, was willst du haben? ich nehme ein cola zero und einen salat. er schüttelte den kopf, ich nehme eine richtige cola und das schnitzel mit pommes. ich bin dünn, ich kann mir das leisten, warf er mir und der kellnerin hin ohne eine von uns anzusehen.

also, was kannst du für mich tun?, fragte er mich. er beugte sich zu mir hin. über seinem linken auge hing ein dickes blondes haar. ich dachte, das muss ihn doch stören, aber wahrscheinlich störte es nur mich. die kellnerin brachte das essen. ich darf doch mal bei dir probieren?, fragte er und stach mit seiner gabel, ohne eine antwort abzuwarten, in meinen salat.

was möchtest du denn, was ich für dich tue?, fragte ich ihn. na, du sollst mir einen vorschlag machen, wie wir das hier in der stadt vermarkten können. ich fragte ihn, ob das der verlag denn nicht für ihn mache, lesereisen und das übliche. sicher macht der das, aber das ist mein baby, dafür will ich alles tun. gut, sagte ich, aber ich muss trotzdem wissen, was dein ziel ist, willst du aufmerksamkeit und presse oder geld verdienen? was denkst denn du, ich will natürlich, dass es bekannt wird und sicher will ich geld verdienen. ok, sagte ich, dazu brauchst du ein gutes marketing und dafür bin ich nicht die richtige, ich kann eine schöne kleine veranstaltung mit dir machen.

aber du hast doch einen großen verteiler, die leute kennen dich doch hier. die musst du alle einladen und wenn, sagen wir, hundert leute kommen, moment, wie viele bücher muss ich dann verkaufen? er rechnete laut. mein magen zog sich zusammen. hm, das ist nicht viel, wenn die alle eins kaufen, dann sind das unter tausend euro. hm, und was willst du haben? na, das kommt darauf an, was du willst, antwortete ich, auf den aufwand, den ich habe.

was kannst du für mich tun?, fragte er wieder. ich erklärte ihm noch einmal was ich für ihn tun konnte und was nicht und nannte ihm meinen stundensatz. zu viel, das lohnt sich ja nicht, sagte er, da verdiene ich ja nichts. darum geht es doch erst mal nicht, du möchtest doch, das die menschen dein buch lesen und dazu musst du es public machen und wenn ich für dich arbeite, bekomme ich ein honorar. er dachte nach, public machen, das macht doch der verlag.

gut, sagte ich, dann frage ich dich, wozu brauchst du mich dann? na du hast doch immer einen vollen saal, wenn du was machst. der kostet doch auch nichts, oder? nein, sagte ich, der saal kostet nichts. du könntest aus deinem buch lesen und ich mache dann ein interview mit dir, damit die leute etwas über den autor und den menschen dahinter erfahren. ach, das kann ich doch selbst. ich mach das bei meinen lesungen immer so, ich erzähle was über mich und alle sind total begeistert. ich fasziniere die menschen, deshalb hab ich auch so einen erfolg als trainer. er strahlte mich an.

mein magen war mittlerweile ein einziger klumpen. der spiegel seiner selbstherrlichkeit blendete mich massiv. warum verdammt, sitze ich hier noch, fragte ich mich, wenn er doch alles selbst kann. also, was kann ich konkret für dich tun? fragte ich ihn noch einmal. na, du machst das schon gut, wenn ich dich nicht schätzen würde, hätte ich dich doch nicht gefragt, das weißt du hoffentlich.

ich dachte über seine wertschätzung nach und über mein honorar, das ihm zu viel war. ich sah ihm ins gesicht, sah wieder nur diese selbstherrlichkeit und fragte mich, was ich da eigentlich sah. war ich selbstherrlich? wenn ich dem ding mit der projektion glaubte, war ich das dann wohl. aber dann fiel mir ein, dass jedes ding zwei seiten hat, also auch das phänomen der projektion. plötzlich wurde mir klar, was mir den magen verklumpte. es war nicht meine verdrängte selbstherrlichkeit, es war die tatsache, dass ich mich ihm gegenüber nicht wertvoll fühlte und dass es dafür keinen einzigen verdammten grund gab. mein magen entspannte sich augenblicklich.

ich muss dann mal los, sagte er unvermittelt, und denk mal drüber nach, was du für mich tun kannst. ich lächelte ihm zu und dankte ihm innerlich für das, was er für mich getan hatte.

Dienstag, 26. Juni 2012

Etwas ändern ...



das muster war immer gleich. am ende war sie verletzt. 

am boden, ein häufchen elend, das in tausend teile zersplittert, nach sich selbst suchte. ich bin falsch, ich bin nicht liebenswert, ich werde niemals glücklich sein, ich werde niemals die liebe finden, die mich achtet, trägt und komplett macht. am ende glaubte sie das jedes mal ein bisschen mehr.

immer wieder rappelte sie sich auf zu neuen versuchen, geliebt zu werden. immer mit diesem, liebe ist verletzen, im kopf. so hatte sie es erfahren. 

versuche über versuche, meist flüchtige, manchmal intensive, die seele aufreibende leidenschaftliche begegnungen, die ein paar wochen dauerten oder weniger. 

immer wieder, bis zu dem tag, an dem nichts mehr ging, an dem der schmerz größer war, als die aus der enttäuschung hinüber gerettete hoffnung. 

an diesem tag, blieb sie liegen. sie schaltete alle kommunikationskanäle ins aussen ab und nahm das tagebuch vom nachttisch, dessen seiten gefüllt waren mit selbstanklagen und tiraden des jammerns. die unbeschriebene weiße seite schien sie herauszufordern, ihr endlich etwas neues zu bieten, etwas das anders war, als all das alte, wiedergekäute, das seite für seite wiederholte, das nichts veränderte.

es dauerte vier tassen schwarzen kaffe, ein päckchen verheulte papiertaschentücher und zehn gierig gerauchte zigaretten, von denen ihr am ende kotzübel war. sie ging ins badezimmer um sich zu übergeben.

zurück im bett, floss es aus ihren fingern in den stift auf das papier: sie behandeln mich schlecht. sie schrieb es immer wieder, bis die ganze seite voll war mit diesem, sie behandeln mich schlecht. darunter schrieb sie: daran kann ich nichts ändern.

und dann, ohne dass es ihr zunächst bewusst war, stand da: ich behandle mich schlecht.
darunter schrieb sie: und daran kann ich etwas ändern.


Montag, 25. Juni 2012

SINN?

seit ich weiß, dass das leben sinnlos ist, kann ich damit leben, sagte der mann.
wenn alles sinnlos ist, muss ich mich vor nichts mehr fürchten, dann ist alles erträglich,
ich muss mich nicht mehr aufregen, ich muss mich nicht mehr abmühen, ich muss nicht mehr kämpfen, es ist wie es ist. verstehst du?
ich verstehe, sagte die frau, das macht sinn.

SINN




dem leben einen sinn geben, heißt ihm wert geben.
sinngebung ist eine setzung von werten.
durch das suchen und setzen von werten wird das leben sinnvoll.
dem leben einen sinn geben heißt, eine basis zu schaffen, einen grund, an dem wir uns orientieren können. 

die seele braucht eine orientierung, weil sie sich nur so ein konzept machen kann.

die frage nach dem sinn ist niemals allgemeingültig zu beantworten.
die antwort ist individuell.

die setzung des lebenssinns ist ein subjektiver akt. 
diesem geht eine entscheidung vorraus. 
eine entscheidung für etwas, dass es wert ist, dafür zu leben.
die liebe, die selbstverwirklichung, eine passion, unsere kinder, eine vision, anderen zu helfen - das sind sinnsetzungen, die unserem leben einen wert geben.

ein mensch, der dem leben gänzlich negativ und ablehnend gegenübersteht, setzt keine werte. für ihn ist das leben sinnlos.

dem leben einen sinn geben, heißt ja zum leben sagen.



Sonntag, 24. Juni 2012

Freiheit I



freiheit ist nicht ziellosigkeit, nicht ein sich treiben lassen.
freiheit ist - dem leben sinn geben.  
freiheit wird zur spiegelglatten fläche, wenn wir sie nicht achtsam nutzen.
wir rutschen  ...
fallen ins grenzenlose nichts

Donnerstag, 21. Juni 2012

Angst V


das ist ein weiter weg sagt, die angst
das ist ein schwerer weg, sagt die angst
das ist ein weg, den ich allein nicht gehen kann, sagt die angst
das schaffe ich niemals, sagt die angst

woher weißt du das? fragt der mut

Mittwoch, 20. Juni 2012

Gedankensplitter 39

wer die schwächen und fehler des anderen zu genau betrachtet
wer nach den unvollkommenheiten der anderen sucht
betrachtet sich selbst nicht
sucht sich selbst nicht
ist unvollkommen
ist ein im anderen verhafteter

ALT




man kann sich alles schön reden, wenn es nicht schön ist.
man kann anpassen und glätten, was nicht passt, wegschauen, wenn man nicht sehen will.
der mensch ist für die wahrheit nicht geschaffen. er zimmert sich illusionen, rettet sich über die tage und jahre der nichterfüllung seiner wünsche mit träumen und hoffnungen. nach vorne gewünschtes, welches das jetzt nicht zu erfüllen mag. sie lächelte schwach. das schlimmste ist die selbstlüge. niemand ist davor gefeit.

es ist gut. es ist nichts, woran man kritik üben darf, der mensch lebt von der hoffnung, die geboren wird, wenn da zu oft enttäuschung war. das wollen sie nicht hören, die menschen, aber mit der zeit, wenn du aufhörst dir etwas vorzumachen, begreifst du das. mit der zeit begreiftst du vieles, wenn du ehrlich mit dir selbst bist.

als ich jung war konnte ich nicht schnell genug erwachsen werden. als ich erwachsen war, vermisste ich die jugend. als ich alt wurde, trauerte ich über ihren verlust. ich begriff, dass sie das kostbarste ist, was wir haben. weil sie alles möglich macht, weil sie die offenheit für wunder in sich trägt, die unabhängig von zeitbegrenzung geschehen können. ich hatte so viel zeit, das war das geschenk, dessen ich mir damals nicht bewusst war. das vergehen der zeit erschien mir langsam, als sei sie undendlich ausdehnbar, alles schien erreichbar. 

sie lächelte. ich sah die lange vergangene jugend in ihrem vom alter gezeichneten gesicht aufleuchten. sie nahm meine hand. erinnerung, sagte sie, heute lebe ich in der erinnerung und von ihr. als ich begriff wie meine zeit schrumpft, wie wenig mir noch bleiben würde, ich sah es an den zerstörungen, die sie in meinem gesicht anrichtete, da erfasste mich die angst. im gesicht, da sah ich es zuerst. ich war erschüttert, als ich erkannte, wie sich meine züge auflösten, wie die konturen verwischten, die lider meiner augen sich nach unten zogen, tiefe linien sich eingruben und den ausdruck meiner mimik veränderten. das machte mich traurig. ich liebe das glatte, das ebenmäßige, das weiche, die härte, die meinen mund zu umzeichnen begann, gefiel mir ganz und gar nicht. ich machte den versuch mich zu trösten, indem ich mir sagte, gut, du hast dein leuchten verloren, aber du hattest es. sei dankbar für das gewesene und leuchte von innen. die erinnerung an das vergangene leuchten hielt mich eine ganze weile aufrecht. aber von jahr zu jahr, das verging, wurde mir klar, dass es gerade die erinnerung an ein gewesenes war, die mich am akzeptieren hinderte. meine realität würde porös, ich wurde dünnhäutig und anfällig im gewahrsein, dass die person, die ich war zu verblassen begann.

es war notwendig mich zu arrangieren, was mir schwer fiel, denn ich halte nichts von arrangements, sie sind ein klein beigeben, wenn du in die enge getrieben bist und keine wahl mehr hast. dann arrangieren wir uns, wenn das eigene wollen sich der durchsetzung verweigert.

sie versuchte sich aufzusetzen, dabei stieß sie einen leisen schmerzenslaut aus. der rücken, entschuldigte sie sich, er tut bei der kleinsten bewegung weh. sie gab auf, sank kraftlos auf das weiße kissen zurück, das mit dem grau ihres gesichts eine kontrastlose melange abgab. 

ist das nicht eigenartig, der körper gehorcht mir nicht mehr. er hat ein eigenleben. er ist schwach und krank geworden, obwohl mein geist es nicht will. die macht des körpers zeigt sich im alter, und du, mit deinem gedanklichen wollen, richtest nichts aus, gar nichts. das ist der moment wo du begreifts, wie zerstörerisch die zeit ist. sie zerstört alles, gesichter, hoffnungen, träume, wünsche, gewohnheiten, am ende zerstört sie  leben. 

sie schloss die augen. ich dachte sie würde einschlafen. aber sie sprach mit geschlossenen augen weiter. 

dann kam die müdigkeit. sie begann ganz plötzlich. ich habe dagegen angekämpft. aber sie war mächtiger als mein ankämpfen. ich musste mir die stunden einteilen in eine zeit der tätigkeiten und des ruhens. bewegung kostete mich kraft. ich las viel und schrieb, so wie ich es mein leben lang getan habe. aber ich merkte, dass alles was ich schrieb eine immer wieder neue wiederholung des längst geschriebenen war. es passierte nichts. der mikrokosmos in dem ich mich befand war klein geworden. später im leben, wenn wir zu studien unserer einzigartigkeit geworden sind, halten wir ausschau nach gefährten, die ebenso eigenartig geworden sind wie wir und dann stellen wir fest, dass uns die kraft für die suche fehlt und dass die gesuchten, die ähnliche erfahrungen, ähnliche gewohnheiten und gedanken haben, wie wir, an einem mangel an kraft leiden. sie fehlt um sich aus dem mikrokosmos hinauszubewegen. wir wissen, sie sind irgendwo, aber für uns sind sie unereichbar. 

das wesen des altseins ist die entdeckung der langsamkeit und zugleich ist es für viele von uns die entdeckung der einsamkeit. es ist das letztes stadium, das wir nicht mehr mit dauer und veränderung verbinden, sondern mit dem tod.

mein blick fiel auf das bild, das auf dem nachtisch stand. es zeigte einen gutaussehenden mann mit langen grauen haaren und leuchtenden blauen augen. als habe sie es gespürt, kam es leise aus dem grund des kissens, auch er hat mich enttäuscht. er ist vor mir gegangen, so hat auch er mich verlassen. wer alt wird in der liebe zum anderen, zieht immer den kürzeren. ich bin allein geblieben, das alter wehrt veränderungen ab. alte sind eine spezies für sich. die jungen begreifen das nicht und die alternden wollen es nicht wahr haben.

die alternden verstecken ihre angst vor dem alter. sie belegen sie mit tugendhaften worten wie charakter, erfahrung, würde, weisheit um der negativität von alt zu entkommen. sie sprechen von erkenntnis, von individuation, wenn sie zu den klugen gehören und von der eigenen wahrheit und gelassenheit, die sich herausbildet.

sie riss die augen weit auf und legte ihren klaren blick in die meinen, weißt du, ich bin enttäuscht und ich bin dankbar, ich bin betrübt und ich bin glücklich, ich bin erfüllt und ich bin leer, ich bin klug und ich bin es nicht, ich bin unendlich müde und ich bin hellwach. ich bin mir, was dieses leben angeht, in nichts wirklich sicher.

Freitag, 15. Juni 2012

Allein oder einsam?







Die Worte, so gefügig sie wir sie uns machen können, machen es uns bisweilen schwer. Das liegt daran, dass in ihnen Bedeutungen liegen und dass jeder von uns, jedem Wort, Wortinhalt, eine andere Bedeutung gibt. Das macht die Kommunikation unter uns Menschen nicht einfach und das Leben demzufolge auch nicht. Da jeder den Worten, das gilt ebenso für die Dinge und die Gefühle, für alles Wahrgenommene, seine individuelle Bedeutung gibt, ist es wahrlich kein Wunder, dass wir zwar kommunizieren, aber uns letztlich doch niemals gegenseitig wirklich verstehen. Wer das weiß und akzeptiert hat, lebt gelassener, er ist zufrieden, wenn er zumindest ab und an volle Zustimmung findet. 

Kürzlich las ich in einem Buch des österreichischen Schriftstellers Alfred Polgar diesen Satz: „Wenn dich alles verlassen hat, kommt das Alleinsein.  Wenn du alles verlassen hast, kommt die Einsamkeit.“
 
Eine schwerwiegende Aussage. Die Schwere liegt in den Worten. Diese Worte konfrontieren uns mit zwei Zuständen, denen die meisten Menschen ein Leben lang zu entkommen versuchen. Alleinsein - wer mag das schon? Einsamkeit - wer mag die schon? Verlassen oder verlassen werden - wer will das schon? Allein und einsam, das sind starke Wörter. Verlassen ist ein noch stärkeres Wort. Das sind für viele Menschen Unwohlseinfühlwörter, für manche sogar angstbesetzte Wörter.

Ich habe nachgedacht und mich gefragt: Wie meint er das, der Herr Polgar. Ist das für ihn so stimmig? Und was ist meine Deutung seiner Worte? Und warum deute ich so, wie ich deute?
Ich habe mich gefragt, was bedeutet Alleinsein für mich? Für mich ist Alleinsein ein Segen. Es ist das Ankommen in einer Oase der Stille, wo nichts und niemand sich in meine Gedanken mischt, ich mich mit niemandem auseinandersetzen muss, nicht sprechen muss. Ich schreibe lieber, aber seltsamerweise spreche ich viel, wenn ich mit anderen bin. Beruflich verlege ich mich überwiegend auf das Zuhören. Privat strengt mich das Sprechen an. Es strengt mich an mit Worten face en face zu kommunizieren. Was Kommunikation angeht, so reden die meisten Menschen über Triviales, Banales und Alltägliches, wenige sprechen über Tiefgründiges, sie lamentieren aber gern über höchst Persönliches. Letzteres ist mir dann lieber. Treffe ich auf Ersteres verabschiede ich mich so schnell wie möglich. 
 
Aber auch letzteres langweilt mich nach einer Weile, denn die meisten Menschen drehen sich ständig um sich selbst. Sie reden vom immer Gleichen, Unverstandenen, Ungelösten, weil es unverstanden und ungelöst ist. Sie tun es in der Hoffnung, es durch die Kommunikation mit einem anderen irgendwann doch lösen zu können, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen. Diesen Versuch habe ich schon lange aufgegeben. Im Grunde ist es ein legitimer Versuch, aber er ist untauglich, denn die Lösungen für unser Ungelöstes, finden wir nur in uns selbst oder mit Hilfe eines ausgezeichneten Beraters oder Therapeuten, der uns, wenn er wirklich gut ist, zu uns selbst führt.

Uns selbst begegnen wir im Alleinsein. Das ist für mich nichts Angstbesetztes. Auch wenn ich die Angst seit Kindesbeinen gut kenne, vor dem Alleinsein habe ich keine Angst.  Alleinsein ist für mich ein Zustand von des Wohfühlens mit mir selbst, ich, in meiner eigenen Gesellschaft, die ich schätze. Es hat lange gedauert. Ich habe es auch lange geübt, das Alleinsein und übe es gerade wieder. Allein finde ich Ruhe, allein mit mir habe ich die besten Gedanken und kann sie niederschreiben, damit sie mir nicht verloren gehen. Im Alleinsein verschwende ich keine kostbare Zeit an Triviales, an Input von Außen, welcher der Anstrengung des Filterns bedarf, an Menschen, die mich nicht interessieren, an Nichtigkeiten, an Zerstreuungen und Unternehmungen, die mir kostbare Lebenszeit rauben. In mir drin ist so viel los, dass ich die Zeit mit mir allein brauche. Zeit ist eben nicht nur Geld, sie ist Leben und das ist begrenzt.

Durch meine Erfahrung mit Menschen weiß ich, je selbstverwirklichter ein Mensch ist, desto mehr braucht er Zeit für sich selbst um seine Anlagen, seine Fähigkeiten, seine Kreativität und seine Potentiale herauszubilden und an ihnen zu arbeiten und um zur inneren Ruhe zu finden. Ich kenne keine Kunst, keine Literatur, keine Philosophie, keine Komposition, die nicht im Alleinsein entstanden ist. Je unverwirklichter ein Mensch ist, desto bedürftiger ist er nach Gesellschaft, Ablenkung und Zerstreuung.

Alleinsein ist die Beschäftigung mit dem Wesentlichen - mit uns selbst und dem, was in uns angelegt ist und sich entfalten will, all unsere Gaben und Potenziale, die Raum brauchen um lebendig zu werden. Nur mit uns selbst entdecken wir uns selbst und kommen wir zu uns selbst.
Sicher, wir brauchen auch den Spiegel, das DU, um uns zu erkennen und zu verstehen, aber es kommt auf die Qualität des Spiegels an. Wer wahllos in zu viele Spiegel schaut, dem geht es wie im Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt, am Ende nimmt er sich nur noch verzerrt wahr.
Ich bin gern und viel allein, aus all diesen Gründen. Daher ist es auch schwer, mit mir eine Beziehung zu führen, denn mir ist die wichtigste Beziehung die Beziehung mit mir selbst und den Dingen, die ich im Alleinsein tue und erschaffe. Außerdem gehört ein Teil in mir zu den Introvertierten, auch wenn ich auf manche anders wirke. 

Wer der Welt etwas schenken will, braucht die Stille des Alleinseins, damit das, was er verschenken will, sich entfalten und reifen kann. Wer sich selbst etwas schenken will, braucht sie ebenso. Aber für viele Menschen ist das Alleinsein etwas, dass sie nur schwer aushalten. Warum? Sie haben Angst vor sich selbst und vor der Stille. Dieser Kontrast zu unserer lauten Welt hat es in sich. Die Stille ist uns fremd und unheimlich, weil wir sie nicht gewohnt sind. Das Ungewohnte macht Angst, das ist zutiefst menschlich. Die Stille hat das Potential uns auf uns selbst zurückzuwerfen. Wir könnten uns nämlich plötzlich selbst begegnen, im Alleinsein mit uns selbst, wenn es still wird und für viele Menschen bedeutet das: Sie begegnen einem Fremden. 

Ich kenne Menschen, die schalten sofort den Fernseher ein, sobald sie am Abend nach Hause kommen, damit sie Stimmen hören, um sich nicht allein zu fühlen. Andere greifen zum Handy, um sich nicht allein fühlen. Andere rennen von einer Beziehung in die nächste, weil sie sich vor dem Alleinsein fürchten, oder sich allein nicht als ganzer Mensch fühlen. In meiner Praxis höre ich immer wieder was Menschen, besonders Frauen, sich antun lassen, nur um nicht mit sich allein sein zu müssen. 

Alleinsein ist schwer, wenn man es nicht fühlen mag. Dann macht es ein Gefühl von Unwohlsein, ein Gefühl von - was fange ich jetzt mit mir an? Ein Gefühl, das wir nicht mehr kennen, nicht einmal mehr unsere Kinder kennen es.

Was wir kennen sind Reize. Wir sind Reize gewohnt, wir leben in einer Welt der Reizüberflutung und des pausenlosen Geplappers. Diese Welt agiert ständig und zwar im höchsten Maße hyperaktiv. Sie ist derart überborded mit lauten und sinnenfeindlichen Geräuschen, Tönen, Stimmen und Bildern, dass der Mensch mehr und mehr zum bloßen Reagieren konditioniert wird. Die Masse Mensch agiert nicht mehr. Die Masse setzt keine Impulse, sie wird mit Impulsen überflutet. Sie reagiert auf Impulse und wehe der Impuls fehlt. Und dieser fehlt im Alleinsein. Ja, da fehlt dann etwas.
Dass der Mensch sich selbst fehlt, darauf kommt er nicht. Er ist taub geworden für die Stille. Betäubt für sich selbst und er betäubt sich selbst mit allem Möglichen, weil er nichts anderes gelernt hat. Das ist, nebenbei gesagt, auch der Zweck des Ganzen: Betäubte agieren nicht und der Staat hat leichtes Spiel mit seinen unmündigen Bürgern, die schon längst keine  Bürger mehr sind, sondern Konsumenten einer das Menschliche verschlingenden Gesellschaft. Kaufen, kaufen kaufen, schreit die Welt da draußen fordernd, laut und täglich. Alleinsein kaufen ist nicht mit inbegriffen.

Und doch nimmt das Alleinsein zu. Immer mehr Menschen leben allein. Immer mehr Menschen leben in Beziehungslosigkeit. Die Meisten unfreiwillig. Warum, wo doch die Angst vor dem Alleinsein eine große ist? Weil sie nicht mehr fähig sind Beziehung zu leben, weil sie nicht fähig sind, die wichtigste Beziehung zu leben – die Beziehung mit sich selbst. Eine mitfühlende, liebevolle, ehrliche, achtsame Beziehung mit dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben, sie selbst. Wie also wollen sie in eine mitfühlende, liebvolle, ehrliche, achsame Beziehung mit einem Du treten, die auch noch dauerhaft ist? Das kann nicht gehen. 

Je unmündiger ein Mensch ist, desto mehr braucht er Unterhaltung. Je unverwirklichter ein Mensch ist, desto mehr Zeit hat er für Gemeinsames. Er ist bedürftig, er braucht Beziehungen, einen Partner, Beschäftigung und Zerstreuung, er braucht Kneipen, Parties und das Kleben am Handy, um das Gefühl einer illusionistischen Verbundenheit mit Welt nicht zu verlieren. Aber die Wahrheit ist: In all dem bedürftigen Brauchen verbraucht er seine Lebenszeit für Nichtigkeiten, Hauptsache er ist nicht allein. Er braucht Kommunikation um jeden Preis und ihm fehlt das Verständnis für die, die ihre Zeit für sich brauchen. In Wahrheit fehlt ihm das Verständnis für sich selbst. Dies alles ohne Bewertung - na ja, nicht ganz. Sollen sie leben, wie sie wollen und mich in Ruhe und allein lassen.

Aber was ist mit der Einsamkeit?

Einsamkeit ist etwas anderes. Einsam ist der Mensch, wenn er sich von allem und jedem getrennt fühlt und mit nichts verbunden. Dann hat er alles verlassen. Er hat das Gefühl für sich selbst verloren: Er empfindet nicht, dass alles eins ist und er selbst ein Teil von allem.
Manche verlassen alles, weil sie sich von Allem und Allen verlassen fühlen, sie resignieren und ziehen sich in ihre Höhle zurück. Enttäuscht von den Menschen, verbittert und hoffnungslos betreiben sie den äußeren Rückzug in die selbst gewählte Eiswüste. Sie geben sich auf und vereinsamen innerlich. Das ist der Tod im Leben. Es gibt viele Menschen, die so existieren, wir sehen sie nur nicht, weil sie nicht gesehen werden wollen oder weil wir den Blick nicht auf sie richten wollen. Und irgendwo ganz tief in meinem Herzen kann ich sie verstehen, die, die alles verlassen, ich kann sie fühlen in ihrem Verletztsein und ihren Kränkungen und ihrer Weigerung sich noch einmal verletzten zu lassen, würden sie denn ihren Rückzug aufgeben und sich wieder der Welt und den Menschen zuwenden, ich kann verstehen, dass ihr Vertrauen gebrochen ist, weil es zu oft missbraucht wurde und ich kann sie fühlen ihre Angst vor dem Außen, das nicht sonderlich viel Gutes bereit hält, wenn ich ganz genau hinschaue. Ich kann sie nachfühlen die müde Langeweile die das sinnentleerte Geplappere und das ewige Gejammere der Mitmenschen aufkommen lässt und das Gefühl: Bevor ich mir das antue, bin ich lieber einsam. 

Wie formulierte es Friedrich Nietzsche, der große Einsame so treffend: „Des einen Einsamkeit ist die Flucht des Kranken.Des anderen Einsamkeit ist die Flucht vor den Kranken.“ Es gibt immer mehr Kranke in einer kranken Welt und wer ist nun der, der vor wem flieht?
Freiwillig gewählt einsam sein? Ich weiß, dass auch das keine Lösung ist und der Mensch in der Verlassenheit mit einer großen Angst konfrontiert wird - der Angst eines Kindes, das sich mutterseelen allein fühlt. Ich kann es verstehen, weil ich das Gefühl kenne.

Aber es gibt noch eine andere Einsamkeit. Die Buddhisten nennen sie die kühle Einsamkeit. Man ist zufrieden, vermeidet sinnlose Aktivitäten, ist diszipliniert und rennt nicht in der Welt der Begierden und der Ablenkungen umher um etwas zu erhaschen oder zu besitzen, was man nicht wirklich braucht und man erwartet keine Sicherheit und keinen Halt von anderen, weil man dies in sich selbst nicht findet. Man braucht keinen Bezugspunkt , keine Hand an der man klammert und keinen, der einen umsorgt und beschützt, weil man es für sich selbst nicht tun kann. Zufriedenheit stellt sich ein, ein Gefühl inneren Friedens und eine tiefe Ruhe. Man gibt sie auf, die Illusion dauerhaftes Glück im Außen zu finden, wenn es nur gelänge der inneren Einsamkeit zu entfliehen. Man hört auf dem Alleinsein mit sich selbst zu entfliehen und damit hört man auf vor sich selbst davonzulaufen.

Manchen Menschen wurde diese Disposition in die Wiege gelegt. Sie fühlen sich, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind, trotzdem oder gerade deshalb, einsam.
Diese Menschen, zu denen beispielsweise auch Dichter und Denker wie Hesse, Nietzsche, Kierkegaard, Emily Dickinson und Rainer Maria Rilke gehörten, lebten in einem Gefühl von innerer Einsamkeit, die unüberwindbar ist. Sie wussten - jeder ist im Tiefsten allein, auch wenn wir uns etwas anderes vorgaukeln, um das Gefühl des Getrenntseins nicht spüren zu müssen. Aber sie haben in diesem Gefühl ein Leben gelebt, es angenommen und mit Disziplin und Leidenschaft für das was als Gabe ins Außen treten will Großartiges für das Ganze geschaffen. 

Was die Gaukler angeht, die gab es schon immer und ihre Existenz hat auch ihr Gutes. Das Vorgaukeln der Dinge, wie sie nicht sind, hilft vielen Menschen das Leben erträglich zu machen. Die innere Einsamkeit schmerzt nämlich und zwar genau so lang wie sie nicht angenommen wird.
Es ist wahr, der Mensch ist nicht gern alleine und schon gar nicht gern einsam. Er strebt nach Ganzheit, nach dem Teil, der ihn komplett macht, wie es in Platons Gastmahl so schön zu lesen steht. Immer auf der Suche nach dem, was uns ganz macht, gibt es in jedem Leben unzählige untaugliche Versuche. Viele, die der Einsamkeit und dem Alleinsein entkommen wollen, suchen ihr missing piece in der erotischen Liebe. Diese Form der Liebe gaukelt uns auf das Wunderbarste das Gefühl von Ganzheit vor, zumindest im ersten Liebesrausch. Da gehen wir auf im anderen - und geben uns selbst auf. Ist das wirkliche Ganzheit? Nein. Es ist und bleibt Gaukelei, es ist die verlockend schöne Illusion man könne in der Verschmelzung mit dem Geliebten ganz werden. Eine Täuschung, die meist in Ent-täuschung endet, dann nämlich, wenn wir begreifen, dass der andere sein eigener Mensch ist und es immer bleiben wird. 

Die Ganzheit, und das spüren wir, wenn wir oft genug in unseren Beziehungen gescheitert sind, finden wir nur in uns selbst. Wir selbst sind der von Zeus gespaltene Kugelmensch und deshalb lässt sich die andere Hälfte nur in uns selbst finden. Kein anderer kann das für uns machen oder gar sein. Das ist eine ernüchternde Erkenntnis, aber wer nüchtern ist, wacht auf aus der Betäubung und erfährt Klarheit, auch wenn sie ihm zunächst missfallen mag. 

Wir können uns den Anderen nicht einverleiben, wir können den Anderen nicht in seiner Ganzheit erfassen – aus diesem Gewahrsein wird es geboren, das Gefühl innerer Einsamkeit. Weil es schmerzt versuchen wir immer wieder neu uns zu verbinden. Die innere Einsamkeit, das nagende Gefühl des Unvollständigseins in uns selbst ist der Antrieb um die Einsamkeit zu überwinden. Ein Paradoxon, das nicht funktioniert.

In der Stille, wenn wir allein mit uns sind - fühlen wir diese Einsamkeit alle. Aber wenn wir ihr lauschen, sagt sie: "Es ist wie es ist. Ich bin Teil Deines Lebens und ich bin unteilbar".
Diesen Teil können wir nicht abwählen, ebenso wenig wie den Tod. Aber wir können wählen, wie wir ihn deuten und (er) leben. Unsere innere Einsamkeit kann uns ein guter Begleiter und Führer sein - auf dem Weg  zu der Erkenntnis, dass wir nur ganz werden, wenn wir das missing piece in uns selbst suchen, und am Besten geht das im Alleinsein.

Aber was schreibe ich? Da draußen ist es zu laut. Sie werden sie nicht hören, meine Worte.




Donnerstag, 14. Juni 2012

MEIN BLICK




all die geschichten, aphorismen und essays, die ich fast täglich schreibe, sind mein blick auf die menschen und die zeit in der diese menschen leben. sie sind mein blick auf das, was leben ausmacht, zwischen innen und aussen.
mein blick.
nur meiner.
es ist vielleicht kein besonderer blick, aber es ist der meine.
ich erhebe keinen anspruch auf eine allgemeingültige wahrheit. 
es gibt sie nicht.

was meinen blick ausmacht, ist die doppelte fokussierung. er richtet sich auf das offenkundige und geht zugleichch in die tiefe, dahin wo das allgemein menschliche sichtbar wird.

ich fasse mich kurz. ich mag fragmente. ich mag dichte, die aber dennoch, oder gerade deshalb, raum für die gedanken des lesers lässt.

ich benutze keine großen worte und halte mich nicht mit ausschmückungen auf. was ich schreibe hat eher beiläufigkeitscharakter. es ist unprätentiös. ich gehe von konkreten erfahrungen und einzelschicksalen aus, von eindrücken, von den erscheinungsweisen des lebens, die wir wirklichkeit nennen. mich interessieren die absurden, die traurigen, die dramatischen seiten des lebens. das ist so, weil ich davon vieles erfahren habe, weil melancholisch bin und weil das gute, reine und schöne in meiner wirklichkeit keiner worte bedarf.

schreiben ist mein versuch, leben zu verstehen, die flüchtigkeit des lebens zu verwandeln, ein halten in worten, dessen, was mir wichtig erscheint. ich bewege mich geradewegs, ohne groß drum herum schreiben zu wollen, auf die essenz zu. sie stellt sich ein, wenn am alltäglichen durch die beschreibung noch etwas anderes durchschimmert, sei es emotionaler oder analytischer natur. die schwierigkeit, aus den kleinen formen ein gesamtwerk zu schaffen, ist mir bewusst. aber es zu versuchen, lässt mich nicht los.

Angst IV

 


angst ist keine krankheit.
angst ist eine reaktion auf die gesellschaft in der wir leben.

angst haben ganz normale menschen.

angst kommt dann, wenn der mensch versucht, ein leben zu leben, das ihm fremd ist.

aber unser Innerstes lässt sich nicht täuschen.
es spürt, wenn unser leben unserem wesen fremd ist.

dann kommt die angst.
sie wird groß, wenn wir es dennoch weiter versuchen.
selbstbetrug macht angst.

angst ist keine krankheit.
angst ist eine gesunde reaktion, die uns warnt die lüge zu beenden.

Dienstag, 12. Juni 2012

Spiegel



vielleicht sah er seine fähigkeiten und ungelebten wünsche in ihr. vielleicht war sie sein spiegel. er konnte sein eigenes licht nicht sehen. sie fragte sich, jetzt wo sie fort war, ob er zurückfallen würde in seine dunkelkeit. nein, er würde es nicht aushalten. sie war sich fast sicher, er würde sehr bald eine andere finden, auf die er sein licht projizieren konnte.

Irgendwann

irgendwann 
immer wieder denken 
an dieses irgendwann

dann
wenn alles besser ist
wenn alles gut ist und schöner

irgendwann eben

dann 
kommt es
dieses irgendwann
und es ist alles besser
für eine weile

und es ist alles gut 
für eine weile
und schöner

für eine weile ...

Montag, 11. Juni 2012

Abschuss

sicher, sie hätte es auch anders sehen können. gelassener, mit humor oder zumindest so tun können, als sehe sie es gelassen oder mit humor.

sie hätte es wegstecken können, wie so vieles, das sie weggesteckt hatte. in den kleidern war es nicht stecken geblieben, das weggesteckte. vielleicht konnte sie es deshalb dieses mal nicht. dass sie dünnhäutig war wie pergamentpapier hätte er wissen müssen, er hatte jedenfalls immer wieder gesagt, er wisse es, hatte sogar gesagt, er spüre es.

er prahlte mit dem tollen schnappschuss, den er gemacht hatte, als er das i phone aus der hosentaschetasche zog. sein geliebtes i phone, das er bei sich trug wie eine brücke, die ihn mit dem aussen verband, sogar nachts. es fiel ihm schwer es auszuschalten, er tat es ihr zuliebe, in den nächten, in denen er bei ihr blieb.

wozu, hatte sie sich gefragt, muss man ein i phone haben. damit man nichts verpasste von all dem unwichtigen unter dem wenigen wichtigen, das es gab, im leben?

auf dem display erschien es, wurde sichtbar, mit einem daumendruck. eine nahaufnahme ihres gesichts. sie mit aufgerissenem mund, groß und blutrot wie eine wunde, wie ein riss im blassen gesicht. nein, das war nicht sie, diese scheußliche fratze, die er in einem von ihr unbemerkten moment, abgelichtet hatte.

oder war es ihres, war sie das, war sie das auch? und wenn sie es war, was sollte sie jetzt damit anfangen mit diesem, das bin ich auch.

sie war alt geworden, sie wusste es, litt darunter. sie spürte die müdigkeit, die kein noch so langer schlaf mehr vertreiben konnte. die zeit hatte ihr zerstörerisches werk längst begonnen. die zeit zerstört alles, dachte sie, das gesicht, den körper, die wünsche und die träume, die hoffnungen, am ende zerstörte sie das leben.

schaut, sagte er und zeigte es den anderen. sie lachten.

sie trank ihr glas leer, zog den mantel an und ging ohne ein wort zu sagen. unten vor der haustür weinte sie. sie schwor sich, diese fratze würde sie keinem menschen jemals mehr zum abschuss preis geben.






Sonntag, 10. Juni 2012

C. Felder unterm Maulbeerbaum

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C. Felder unterm Maulbeerbaum
Baum und Axt - Von Natur und über Gesellschaft

Christian Felder ist Maler. Ein Maler, der Bilder malt, die von ihm selbst sprechen, über ihn selbst, den Menschen, ehrlich und ungeschönt und über Welt. Weil sie das tun, sind es Bilder, die etwas in uns berühren. Diese Bilder sind Kunstwerke, weil sie etwas mit uns machen, mit uns, die wir sie betrachten und mit jedem von uns machen sie etwas anderes. Ein Kunstwerk ist dann gelungen, wenn es die Trennung zwischen Künstler und Rezipient überwindet.

Der Maler könnte beim Malen bleiben. Aber über das Malen hinaus ist da etwas in ihm, nein, durch das Malen ist da etwas in ihn hinein gefahren, was raus muss. Etwas, das über das Malen und den Maler selbst hinaus muss. Das muss den Rahmen der Leinwände sprengen. Das muss sich ausweiten über das, was es ist. Dem Maler genügt das Malen nicht und den Bildern genügt nicht, dass sie gemalt wurden. Der Maler und seine Bilder fordern über sich selbst hinaus Raum.

Bilder und Raum bedingen einander, sind mittlerweile Konzept geworden und untrennbar miteinander verbunden. Ein Konzept, das jetzt in der Galerie unterm Maulbeerbaum einen Raum gefunden hat, nach all den anderen Räumen die Christian Felder „bespielt“ hat.

Historisch wurden Zeit und Ort als unabhängige Begriffe verstanden. Dies ist aber für physikalische Systeme bei großen Energien nicht sinnvoll, es zeigt sich dort, dass Zeit und Ort eines Ereignisses sich gegenseitig bedingen, unabhängig vom betrachteten physikalischen System.

So etwa können wir dieses künstlerische Konzept verstehen Zuerst einmal. Und dann weiter begreifen.

Im Raum ordnet Christian Felder  seine malerischen Denkräume. Das Ganze wird sortiert, sichtbar, komplex, begreifbar.

Künstlerische Denkräume manifestieren sich in
Lebens räumen.

Scheinbar unzusammenhängende Themen und Techniken beziehen sich aufeinander, bedingen einander, formen aus Einzelteilen ein komplexes Ganzes. Ein Muster: Staunen durch Merkwürdigkeiten erzeugen.

Was hat das denn alles miteinander zu tun?

Gehen wir die Räume ab.

Was sehen wir?
Im ersten Raum: Portraits.
Persönlichkeiten aus der Welt der Kunst und des Kulturbetriebs. Im zweiten Raum: Der menschliche Akt. Im Dritten: Politische Plastiken aus Pappmasché, Ikonographische Arbeiten. In der Scheune: Gemälde, die sich mit dem ICH auseinandersetzen. Dann: Landschaften Im sechsten Raum: Projektionen, Lichtspiele in Leuchtkästen und Plastiken aus Beton.

Scheinbar Verschiedenes, das durch die räumliche Gestaltung in Verbindung gebracht wird – die Verbindung ist von entscheidender Bedeutung für die Magie des Ganzen. Ein Zeichenmosaik in bildnerischer Erzählform und damit bekommt es SINN.

Immer wenn es Bestrebung zum Gesamtkunstwerk gab, war Inszenierung das Mittel.Der Versuch die Komplexität des Lebens abzubilden führt zur Inszenierung. Könnte man das so sagen?
Man kann.

Der Regisseur – der Künstler.
De Bühne – der Raum.
Das Stück – Welt.

Was ist Welt? Herunter gebrochen auf die einfachste Formel?

Die Antwort steckt bereits im Titel:
Baum und Axt - Von Natur  UND über Gesellschaft.

Betrachten wir das Symbol Baum wirft es uns zurück auf den Schöpfungsmythos.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Oder für die Ungläubigen - das Festhalten an der Urknalltheorie.

Es ward Licht und es ward Natur und dann?

Und Gott sah, dass es gut war. Und sprach: Lasset uns Menschen machen, die da herrschen über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und schuf den Menschen. Und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan ...

Und dann?

Betrachten wir die Axt – Symbol der menschlichen Kultur. Stellvertretend für die kulturell entwickelten Werkzeuge, die sich der Mensch zu Eigen macht um die Natur nach seinem Gutdünken zu gestalten und zu zerstören. Auch das  - denn alles hat zwei Seiten. Und in diesen zwei Seiten sind unendlich viele Seiten, Facetten und Ausformungen enthalten. Und alles ist eins.

Das organische, gewachsene naturale Chaos versus der kultivierten Ordnung und die sich bedingende und ergänzende Wechselwirkung. „In der Synthese entsteht das Interressante“, sagt Christian Felder.

In der Synthese entstand und wird Welt wie sie ist. Die Synthese ist unsere Realität.

Dazwischen das UND
Das Ich – der Mensch, der in die Welt geworfen, seinen Platz sucht, sich zu behaupten sucht in seinem Lebensraum, der Mensch zwischen Innen und Aussen. Der Mensch als Schöpfer seiner Welt und als Zerstörer. Appolinisch und Dionysisch. Der Mensch in seiner Zerrissenheit und seinem Streben nach Sinnsuche.

Dieses Gesamtkunstwerk, das sich in diesen Räumen entfaltet, erinnert mich an diese Worte von Gerhard Richter: „Sich ein Bild machen, eine Anschauung haben, macht uns zu Menschen – Kunst ist Sinngebung, Sinngestaltung, gleich Gottsuche und Religion. Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Leute auf der Welt.“

Einer dieser „Leute“: Christian Felder, ein Sucher, ein gestaltender Philosoph, dessen künstlerisches Gesamtkonzept, Werk für Werk, mit hoher handwerklicher Präzision und meisterlichem Können Sinn gestaltet.

Wer als bildender Künstler Sinn sucht muss experimentieren. Der nutzt Techniken und Möglichkeiten, der malt und bildhauert, der installiert, der schöpft aus seinem Innersten und strebt nach einer Wahrheit, die über das Eigene hinausgeht ins Kollektiv wirkt. Der klebt nicht am einmal Gefundenen, denn Wahrheit ist niemals starr. Sie ist veränderbar, muss veränderbar sein, sich immer wieder neu formieren. Nur so funktioniert Entwicklung – durch immer wieder neues Fragen und Antworten finden. Antworten, die wieder Impulse geben für wieder neue Fragen und neue Antworten, die sich manifestieren auf Leinwänden, in der Zeichnung, als Plastik oder in Leuchtkästen.

Die Suche – die Untersuchung  - als Kunstform, als universelle Methode der Weltbetrachtung.

In diesen Räumen, in Folge der Utopia Ausstellung in Mainz, geht die Suche wieder einen Schritt weiter. „Hier“, so Christian Felder, „findet eine Vertiefung und Wachstum statt. Der Portraitraum ist gewachsen, auch der Raum mit den Plastiken und der Raum und die Form der Flüssigkeitsexperimente.

Der weitere Weg des Künstlers?  „Ich werde mir das Einzelne näher anschauen.“















© angelikawende, 9. juni 2011
foto: alexander szugger

Freitag, 8. Juni 2012

Nutzlos




aus trüben augen sah sie ihn an. man sieht, dass sie viel weint, dachte er und an die tränen, die man die perlen der seele nannte, und dass ihre tränen sicher keine perlen waren, wenn dann allenfalls schwarze. die schatten unter ihren augen waren steingrau. er mochte sie nicht, ihr gesicht nicht und ihre ganze haltung nicht, dieses gebeugte an ihr, stieß ihn ab.

ich habe alles versucht, sagte sie, kaum hörbar.

es kostete ihn mühe ihr zuzuhören, sie flüsterte die worte. das war so seit sie zu ihm kam und sie wurde von mal zu mal leiser, als würde sie sich verflüchtigen, sich auflösen in ein undefinierbares nichts. irgendwie fürchtete er sich vor ihr. nicht wirklich vor ihr, aber vor ihrem kommen, davor fürchtete er sich. sie kam immer mittwochs um zwei nach seiner mittagspause. er hatte schon beim essen nicht den gewohnten appetit. er beschränkte sich an diesen tagen auf eine curry wurst, die er im stehen aß. es war, als würde ihm im wahrsten sinne des wortes das essen im hals stecken bleiben, wenn er an ihr kommen dachte. nicht selten hatte er gehofft, die stille stunde ihres kommens, wie er die sitzung mit ihr innerlich nannte, möge ihm erspart bleiben.

sie blieb ihm nicht erspart. sie kam jedes mal wieder und immer zehn minuten vor dem termin. das ärgerte ihn. noch mehr ärgerte er sich über den ärger, den sie ihn ihm auslöste. dabei war es sein job, er hatte ihn gewählt, weil er menschen helfen wollte. anderen helfen machte sinn, vielleicht den einzigen. er brauchte einen sinn um sich nützlich zu fühlen.

ich habe doch alles versucht, flüsterte sie, noch einmal. aber es ist egal, was ich anfange, es wird nichts. ich bin so unendlich müde.

er kannte die leier, sie spulte sie ab wie eine endlosschleife, immer wieder, jedes mal. ihm blieb nichts, als sie zu motivieren, ihr kraft zu geben um sie am aufgeben zu hindern.

sie hatte schon einmal aufgeben. sie war gefährdet. er wusste um seine verantwortung. er war es, den man angerufen hatte, als sie mit schlaftabletten im magen im krankenhaus lag. wie sie auf ihn kämen, hatte er gefragt und die schwester am anderen ende der leitung hatte geantwortet, weil man seine visitenkarte in ihrem morgenmantel gefunden hatte, den sie trug, als die tochter sie bewusstlos in ihrer wohnung gefunden hatte.

er trug die verantwortung und daran trug er schwer. sie hatte ihn wohl anrufen wollen, vorher und es dann doch nicht getan. sie hatte es ernst gemeint.

es hat nicht sein sollen, hatte er zu ihr gesagt, sie haben hier unten wohl noch etwas zu erledigen, als sie dann wieder kam, weil sie die therapie fortsetzen musste. die alternative wäre eine einweisung in eine psychiatrische klinik gewesen. sie hatte ihn gewählt, weil sie keine andere wahl hatte.

er sah sie an. suchte nach worten, irgend etwas, das sinn machte um ihr eine kleine dosis hoffnung mitzugeben, bis zum nächsten mittwoch. es ging ums reine durchhalten bei ihr. er glaubte nicht an sie und dass es einmal klappte. sie hatte recht.

irgend etwas in ihr hatte aufgegeben. sie hatte zu viele jahre zuviel einstecken müssen. zu viele verluste erlitten, ein schicksalsschlag nach dem anderen. sie war alt und ausgebrannt. sie hatte genug. er verstand sie.

vielleicht sollte ich ihr endlich die wahrheit sagen, dachte er. er setzte  auf die wahrheit. es war ein teil seine methode, seine klienten mit der wahrheit zu konfrontieren. nur die wahrheit konnte etwas verändern. meist stieß er auf widerstand, aber dann konnte er am kern ansetzen. wenn sie ehrlich zu sich selbst waren, gab es immer eine chance. die erfahrung gab ihm recht.

bei ihr fürchtete er sich vor der wahrheit. die wahrheit, ihre wahrheit über sich selbst, durch ihn bestätigt, würde sie zerschmettern. er konnte ihr das nicht antun. nicht er, an dem sie sich festhielt wie an einem strohhalm. er war nicht mehr als dieser strohhalm, das war ihm klar, aber das war besser als nichts. war es das wirklich? er war ratlos.

ich bin so unendlich müde, sagte sie.

ich sagte ihnen, sie müssen sich schonen. tun sie das auch? sie lachte verächtlich. ich schone mich den ganzen tag, die ganzen tage, die ganzen wochen und monate. sie wissen doch, dass ich keine arbeit habe.

aber sie schonen sich selbst nicht, sagte er. sie hadern mit sich und ihrem leben, das macht sie müde. noch müder.

ich bin alt, erwiderte sie. zu alt für alles. ich fühle mich nutzlos. wissen sie, wie sich das anfühlt, nutzlos zu sein?

er wusste es nicht, es hatte in seinem leben keinen tag gegeben an dem er sich nutzlos gefühlt hatte.

er hasste es, wenn er sich in ein gefühl nicht einfühlen konnte. er war stolz auf seine empathie. er fühlte sich schlecht. er wünschte sie weg. weg aus seiner praxis, aus seinen mittagspausen, aus seinem leben.

ich habe mich bei einer putzkolonne beworben. sie haben eine jüngere genommen.

putzen ist nichts für sie, ich habe es ihnen schon einige male gesagt. sie sind akademikerin, warum versuchen sie es nicht wieder bei einem verlag als lektorin. da spielt das alter doch keine rolle.

sie senkte den blick. ich habe dreißig absagen bekommen, haben sie das vergessen?

er hatte es vergessen, schließlich war sie nicht seine einzige klientin. er konnte sich doch nicht alles merken. verdammt. er spürte wie wut in ihm hoch kroch. er versuchte sich zusammenzureißen.

mein gott, warum ist das so, sagen sie es mir bitte, es kann doch nicht sein, dass alles nichts nützt, was ich versuche.

da war sie wieder, die nutzlosigkeit, die sie ihm hinhielt, so als sei er schuld.

sie weinte leise.

mein gott, ich ertrage das nicht mehr, dachte er, bei der nützt nichts was. plötzlich fühlte er sie, eine unendliche, bleischwere müdigkeit.



Donnerstag, 7. Juni 2012

Aus der Praxis - Vom Vater verlassene Töchter



Malerei: Angelika Wende


Sie haben derart tiefe Zweifel an ihrem eigenen Wert, sie fühlen sich so wenig liebenswert, sie sind innerlich so unsicher, sie haben das Gefühl nichts Gutes verdient zu haben und sie sind nur beschränkt fähig mit einem anderen Menschen eine erfüllende dauerhafte Beziehung einzugehen: Ich nenne sie, die vom Vater verlassenen Töchter. 
Es sind Töchter, die in ihrer Kindheit vergeblich die Aufmerksamkeit und die Achtung des Vaters gesucht haben, Töchter, die als Kind vergeblich um die Liebe des ersten Mannes in ihrem Leben gerungen haben.

Die Erfahrung dieser Frauen ist: Egal was ich tue, die ersehnte Liebe bleibt mir versagt. 
In ihre Seele brennt sich das Gefühl einer tiefen Verlassenheit ein. Und dort bleibt es, meist ein Leben lang. Diese Frauen bleiben in der Rolle der Tochter, die gefallen und geliebt werden will, stecken. Unbewusst spulen sie in jeder Beziehung exakt das Programm ab, das sie als Kind gelernt und verinnerlicht haben. Der Schlüssel des Programmes: Emotionale Unerreichbarkeit, Desinteresse, Zurückweisung, Abwertung. Der Mann auf den diese Frauen emotional reagieren, muss diesen Schlüssel besitzen, das heißt: Er muss dem Vater gleichen. Er muss gleichgültig, verletzend, emotional unerreichbar, überlegen und lieblos sein um in ihr "Schloss" zu passen. So suchen und finden die ungeliebten, vom Vater verlassenen Töchter immer wieder instinktiv diesen Typ Mann. In Wahrheit aber suchen sie den Vater, sie holen ihn sich herbei und leiden aufs Neue.

Der Zweck der "Übung" ist, in jedem neuen Versuch die Liebe des Vaters doch noch zu bekommen - nach dem Motto - dieses Mal muss es doch klappen: Er muss mich doch lieben. Es kann nicht klappen, denn auch wenn sie geliebt werden würden - diese Liebe heilt die Wunde nicht. Der Geliebte ist nicht der Vater. Allein der Vater ist es, der die Wunde heilen könnte. Das Unbewusste begreift dies aber nicht.

Auch wenn diese Frauen sich ihrer Kindheitswunde bewusst sind, haben sie kaum eine Chance dem verinnerlichten Musters zu entkommen. Oft braucht es jahrelange Therapie um das unheilsame Beziehungsmuster aufzulösen und die Verletzungen des inneren Kindes zu heilen.

Die in der Kindheit tagtäglich erlebte emotionale Zurückweisung und Abwertung bewirkt ein Trauma.
Die Krux des traumatisierten Kindes ist, dass es als erwachsener Mensch eben nicht versucht alte Verletzungen und Erfahrungen zu vermeiden, sondern sie geradezu zwanghaft, versucht zu wiederholen. Es klingt paradox, aber die Entwicklungspsychologie weiß: Die Wiederholung des Erlebten lindert den Schmerz. Emotional missbrauchte, traumatisierte Menschen sind gefangen in der Wiederholungsfalle der Kindheit.  

Innere Einsamkeit
Eine Frau, die als Kind vom Vater weder wohlwollende Aufmerksamkeit, noch liebvolle Zuwendung bekommen hat, ist innerlich einsam. Sie fühlt sich wertlos und nicht liebenswert. Die erfahrene und verinnerlichte Nichtbeachtung, die erlebte Zurückweisung in der Kindheit wird als Mangel empfunden, als Fehler. Sie fühlt sich falsch, nicht gut genug, schuldig und speichert diesen Makel in ihrem Selbstbild ab.
Da das Kind den Vater liebt, tut es alles um ihm zu gefallen. Es entwickelt die verhängnisvolle Bereitschaft seine Erwartungen zu erahnen um sie zu erfüllen. Gleichzeitig aber demontiert die kindliche Psyche, um den Schmerz der Zurückweisung zu ertragen, den Vater und beginnt ihn innerlich zu entwerten. Ein Mechanismus, der zwei Pole in sich trägt. Einer ist so fatal und zerstörerisch wie die andere: Die Frau fühlt sich nicht nur wertlos und besonders im Hinblick auf das andere Geschlecht als ein Niemand - sie entwertet gleichzeitig das Männliche schlechthin um seelisch zu überleben. 

Trifft sie dann auf einen Mann, der ihr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe schenkt, gerät ihr Überlebensmechanismus ins Wanken. 
Das innere Kind kann nicht begreifen, dass es möglich ist liebenswert zu sein. Es signalisiert: Da stimmt Etwas nicht. Weil das Vertrauen in das Männliche nicht aufgebaut werden konnte, misstraut sie diesem Mann. Kurz - ihr Programm wird gestört. Um diese innere "Störung" aufzulösen versucht das Unterbewusstsein die verinnerlichten Mechanismen der väterlichen Hypothek wieder herzustellen. Sie tut, was sie als Kind tat: Sie beginnt den Mann zu entwerten mit dem Ziel die eigene emotionale Sicherheit wieder herzustellen. Der Preis ist die Zerstörung oder das Verlassen der Beziehung um das falsche Selbst am Leben zu halten.

Die Wut, die Vorwürfe, der Hass, all die unausgelebten unterdrückten Emotionen, die eigentlich dem Vater gelten, richten sich dabei in Wahrheit nicht gegen diesen Mann, sondern gegen das Männliche überhaupt - mit anderen Worten - sie überträgt das negative Vaterbild auf den Partner und jagt ihn durch den väterlichen Filter. Auf diese Weise reinszeniert das Unterbewusstsein die ihm vertraute Wirklichkeit.
Am Ende ist sie allein. Allein wie sie als Kind war, für sie - die einzige mögliche Art emotional zu überleben ohne den alten Schmerz zu fühlen.